Chancen zur Gewinnung von Fachkräften in der Pflegewirtschaft

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Herausforderungen für die Pflegebranche

Zusammenfassung

Angesichts des demografischen Wandels in Deutschland und des daraus resultierenden Anstiegs pflegebedürftiger Personen steht die Pflegebranche vor besonderen Herausforderungen, wobei eine der vorrangigen Aufgaben in der Bewältigung des sich abzeichnenden Fachkräftemangels zu sehen ist.

In der vorliegenden Studie wird untersucht, ob bereits heute Personalengpässe festgestellt werden können, welche Entwicklungen in den kommenden 20 Jahren zu erwarten sind und welche Möglichkeiten bestehen, das im In- und Ausland vorhandene Potenzial an Arbeitskräften besser zu nutzen. Weiterhin werden die Chancen und Hemmnisse, die sich bei der Gewinnung ausländischer Pflegekräfte ergeben, analysiert und Schlussfolgerungen für nachhaltige Strategien einer zielgerichteten Migrationspolitik gezogen. Eine ausführliche Darstellung des geltenden Rechtsrahmens für die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer rundet die Untersuchung ab. Abschließend werden konkrete Handlungsempfehlungen gegeben.

Die Arbeitsmarktstatistiken der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass seit Ende 2009 die Zahl der gemeldeten offenen Stellen in der Altenpflege die der als arbeitslos registrierten Personen im entsprechenden Berufsfeld (Altenpflegefachkraft) übersteigt (Kapitel 2.1). Im März 2012 standen bundesweit knapp 10.000 offenen Stellen nur 3.268 arbeitslos gemeldete Altenpfleger/innen gegenüber. Auf der Ebene der Bundesländer schwankt das Verhältnis der offenen Stellen je Arbeitslosem in der Altenpflege zwischen 1,4 (Brandenburg und Berlin) und 6,6 (Rheinland-Pfalz). Es gibt jedoch kein Bundesland mit weniger gemeldeten offenen Stellen als arbeitslosen Altenpfleger/innen.

Die vergleichende Betrachtung bereits veröffentlichter Prognosen zur Personalsituation in der Altenpflege ergab, dass bis zum Jahr 2025 der Bedarf an Pflegekräften in der Altenpflege gegenüber 2010 um 180.000 Vollzeitarbeitskräfte ansteigt (Zuwachs von 28 Prozent). Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Pflegebranche bereits in dem Zeitraum von 2000 bis 2010 einen Personalzuwachs von 168.000 Vollzeitkräften erreichen konnte. Dass sich diese dynamische Entwicklung bei gleichzeitigem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials in Deutschland von insgesamt 4,3 Mio. Personen (- 9 Prozent) bis 2025 ohne weiteres fortsetzen lässt, ist nicht zu erwarten. Diese Einschätzung wird auch von der oben dargestellten aktuellen Arbeitsmarktsituation getragen.

Als mögliche Maßnahmen zur besseren Nutzung des inländischen Fachkräftepotenzials werden die Steigerung des Anteils an Vollzeitbeschäftigten, der Frauenerwerbsquote, die Mobilisierung stiller Reserven und die Erhöhung der Berufsverweildauer angesehen. Durch die Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe, z. B. durch bessere Arbeitsbedingungen oder Lohnsteigerungen, bieten sich zusätzliche Optionen, Arbeitskräfte für die Pflegebranche zu gewinnen. Simulationen der zukünftigen Anzahl an Pflegefachkräften unter Extremannahmen, in denen die inländischen Potenziale maximal ausgeschöpft werden, zeigen jedoch, dass die Deckung des bis 2030 prognostizierten Fachkräftebedarfs nur unter sehr unrealistischen Rahmenbedingungen möglich wäre (Kapitel 3.1).

Ergänzend zu den quantitativen Analysen wurden weitere Einflussfaktoren wie die Altenpflegeaus- und -weiterbildung, deren Finanzierung und bevorstehende Reformen (der Pflegeausbildung und der EU-Berufsanerkennungsrichtlinie) beleuchtet. Der Wegfall von Schulgeldzahlungen seitens der Auszubildenden und die Finanzierung des 3. Ausbildungsjahres für Umschüler durch die Bundesagentur für Arbeit sind Möglichkeiten zur (weiteren) Steigerung der Aus- und Weiterbildungszahlen in der Altenpflege. Die Auswirkungen der geplanten Reform der Pflegeausbildung auf die Nachwuchsrekrutierung in der Altenpflege sind derzeit kaum vorhersehbar. Entscheidenden Einfluss hat in jedem Fall die Attraktivität der Altenpflege im Vergleich zu den anderen Pflegeberufen, insb. der Krankenpflege.

Das in Deutschland vorhandene Potenzial an Pflegekräften reicht zur Bedarfsdeckung nicht aus. Es werden deshalb Möglichkeiten zur Rekrutierung ausländischer Fachkräfte analysiert (Kapitel 4). Dabei kommt es nach dem Humankapitalmodell dann zur Zuwanderung von Fachkräften, wenn der Gegenwartswert des Einkommens in einem Zielland abzüglich der Kosten der Migration größer ist als der Gegenwartswert des Einkommens im Herkunftsland. [1] Ein Kriterienkatalog zur Identifizierung von Chancen und Hemmnissen von Arbeitsmigration ergänzt ethische und entwicklungspolitische Aspekte (Kapitel 4.1). Er berücksichtigt auch den WHO-Verhaltenskodex zur Anwerbung von Gesundheitsfachkräften, reicht aber über diesen hinaus.

Vor dem Hintergrund der Faktoren, die die Wanderungsentscheidung von Personen determinieren, werden Möglichkeiten diskutiert, aus den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) sowie aus südeuropäischen Staaten Pflegefachkräfte zu rekrutieren (Kapitel 4.2). Aufgrund der nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehenden Daten für verschiedene Länder konzentrieren sich die Ausführungen überwiegend auf Spanien, Griechenland, Polen und die Tschechische Republik. Die Ergebnisse zeigen zum Teil erhebliche Lohnunterschiede, sowohl bei der Betrachtung von Bruttostundenlöhnen als auch im Vergleich durchschnittlicher jährlicher Bruttoverdienste. Da sich Deutschland mit anderen europäischen Staaten im Wettbewerb um potenzielle Fachkräfte befindet, werden auch Vergleiche zu den jährlichen Bruttoverdiensten in Frankreich und Großbritannien vorgenommen. Hierbei zeigt sich, dass insbesondere Großbritannien aufgrund höherer Löhne als möglicher Konkurrent bei der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte angesehen werden muss. Neben einem höheren Lohn im Zielland kann auch eine niedrigere Arbeitslosigkeitswahrscheinlichkeit einen Anreiz zur Migration darstellen (Kapitel 4.2.2). Entsprechende Untersuchungen weisen sowohl für die Entsendeländer als auch für konkurrierende Staaten höhere Arbeitslosenquoten aus, so dass sich in dieser Hinsicht ein Vorteil für Deutschland ergibt. Allerdings ist in Großbritannien die Arbeitslosigkeit lediglich geringfügig höher als in Deutschland.

Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Faktor für die Beurteilung der Zuwanderungspotenziale ist die demografische Entwicklung in den potenziellen Entsendeländern. Anhand geschätzter Altenquotienten bis zum Jahr 2060 wird gezeigt, dass der zu erwartende Pflegebedarf in Deutschland am stärksten ansteigt, jedoch insbesondere in den MOEL (mit Ausnahme von Polen und der Slowakischen Republik) und Italien sowie Griechenland ebenfalls mit einem erheblichen Anstieg des Pflegebedarfs zu rechnen ist (Kapitel 4.2.3). Damit dürfte es für Deutschland im Zeitverlauf tendenziell schwieriger werden, aus diesen Ländern Pflegefachkräfte zu gewinnen.

Nicht zuletzt spielen bei der Migrationsentscheidung (pflege-)fachliche und sprachliche Aspekte eine Rolle (Kapitel 4.2.4). Obwohl derzeit in Spanien ein Überangebot an Pflegefachkräften besteht, ist nur mit einer geringen Zuwanderung nach Deutschland zu rechnen, da die spanische Pflegeausbildung eine akademische und medizinisch geprägt ist. Spanische Pflegekräfte könnten sich in der deutschen Altenpflege unterfordert fühlen.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Fachkräftepotenziale für die deutsche Altenpflege innerhalb der Europäischen Union sehr begrenzt sind und auch größere Rekrutierungsanstrengungen seitens deutscher Einrichtungsträger bestenfalls punktuell Lücken schließen könnten. Es wird deshalb nachfolgend der Blick auf Länder außerhalb Europas gerichtet (Kapitel 4.2.5). Am Beispiel von Indien wird ausführlich dargelegt, dass große Fachkräftepotenziale existieren und entsprechend ausgestaltete Kooperationen im Sinne von Ausbildungs- und Entwicklungspartnerschaften in der Pflege langfristig zum gegenseitigen Vorteil führen können. Kulturelle, sprachliche, fachliche und organisatorische Chancen und Hemmnisse einer Migrationspartnerschaft zwischen Deutschland und Indien in der Pflege werden skizziert. Weitere Länder, deren Potenzial kurz dargestellt wird, sind Vietnam, die Philippinen, Korea und China. Die Fallbeispiele zeigen, dass Migration für die Herkunftsländer nicht nur mit Kosten, sondern auch mit vielfältigem Nutzen einhergeht. Zu nennen sind hier zunächst der volkswirtschaftliche Beitrag durch die ins Heimatland bspw. an Angehörige transferierten finanziellen Mittel und neu geschaffene Netzwerke zwischen Herkunfts- und Zielland. Zudem kann sich in den Herkunftsländern durch neue Migrationsoptionen die Attraktivität der Pflegeausbildung erhöhen. Aufgrund der Möglichkeit auszuwandern, ergreifen mehr Nachwuchskräfte den Pflegeberuf. Die auf den ersten Blick „verlorenen“ Fachkräfte werden somit in großen Teilen zusätzlich ausgebildet.

Ein weiterer Abschnitt des Gutachtens widmet sich dem rechtlichen Rahmen zur Gewinnung ausländischer Pflegekräfte (Kapitel 5). Die Erfahrungen zu gesteuerter Zuwanderung, die Deutschland im Rahmen der Green Card für IT-Fachkräfte gewonnen hat, zeigen, dass potenzielle deutsche Arbeitgeber Unterstützung bei der Anwerbung von Fachkräften benötigen (z. B. durch die Arbeitsagentur, AHKs) und eine aktive Anwerbung im Ausland erfolgen muss. Weiterhin sind die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen unbürokratisch und attraktiv zu gestalten, damit Deutschland im internationalen Wettbewerb erfolgreich sein kann. Die Betrachtung der rechtlichen Situation unterscheidet nach dem Zweck der Zuwanderung: (i) zur direkten Beschäftigung oder (ii) zur Aus- und Weiterbildung in Deutschland. Während Pflegekräfte aus Drittstaaten derzeit aufgrund hoher rechtlicher Hürden kaum zu Zwecken der Beschäftigung nach Deutschland kommen können, ist dies prinzipiell im Rahmen einer Aus- und Weiterbildung möglich. Doch auch hierfür ist die Zustimmung der örtlichen Arbeitsagentur erforderlich.

Die Handlungsempfehlungen am Ende des Gutachtens spiegeln die Erkenntnisse der vorgegangenen Analysen wider (Kapitel 6). Zur Vermeidung von Personalengpässen in der Pflege ist es notwendig, dass Maßnahmen ergriffen werden, die sowohl das inländische Arbeitskräftepotenzial ausschöpfen als auch ausländische Potenziale erschließen. Die Möglichkeiten innerhalb Deutschlands knüpfen allgemein an die Steigerung der Attraktivität des Altenpflegeberufs (Arbeitsbedingungen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Vergütung etc.), an die Verbesserung der Finanzierung der Aus- und Weiterbildung, an die Aktivierung stiller Reserven (Berufsrückkehrer, Frauenerwerbsquote) und an die Neugestaltung der Gesundheitsversorgung an. Maßnahmen zur Erleichterung der Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte fokussieren vor allem auf die Änderung des Zuwanderungsrechts und die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Angesichts der Ergebnisse der Arbeitsmarktanalyse sollte der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt auch für bestimmte Berufsgruppen unterhalb der akademischen Berufe erleichtert und die Pflegeberufe in die Liste der Engpassberufe der Bundesanstalt für Arbeit aufgenommen werden.

Die komplette Studie als PDF: Chancen zur Gewinnung von Fachkräften in der Pflegewirtschaft; Studie durchgeführt von IEGUS Institut für Europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi), Dezember 2012

Endnote
[1] Wanderungsmotive werden aus theoretischer Sicht in der Langfassung der Studie näher beleuchtet.