Patriarchalische Politik: Das Ringen um wahre Demokratie im zeitgenössischen Indien

Das 21. Jahrhundert steht vor der alten unvollendeten Aufgabe, eine dynamische Globalisierung der Demokratie herbeizuführen. In vielen Fällen hinterlässt die Errungenschaft der repräsentativen Demokratie ein Gefühl des Unbehagens, weil demokratische Nationen anhaltende Tendenzen aufweisen, große Teile der Gesellschaft zu marginalisieren oder gar auszuschließen. Dies trifft im besonderen Maße weltweit auf Frauen zu. Damit Demokratie wirklich repräsentativ ist, muss sie alle Bürger mit einschließen und ihnen gleiche Chancen einräumen, am demokratischen Prozess mitzuwirken. Wenn diese Bedingungen fehlen, werden die Vorzüge der Demokratie in ihrer sozial-ökonomischen Entwicklung stark eingeschränkt sein, denn echte Demokratien können keine Ungleichheit und Diskriminierung zulassen, die auf einer archaischen und patriarchalischen Denkweise basieren.[1] Dennoch, nach 65 Jahren der Freiheit und Demokratie werden die demokratischen Strukturen Indiens immer noch durch ihre patriarchalischen Wurzeln eingeschränkt, und Frauen bleibt landesweit das Recht auf gleiche und volle Bürgerrechte verwehrt.

In diesem Papier werden die Herausforderungen und Chancen indischer Frauen bei ihrer Suche nach politischer Freiheit und ihrem Kampf, eine aktive Rolle in Indiens Werdegang einzunehmen, diskutiert. Weiterhin wird dieser Artikel den gegenwärtigen Status der Frauenvertretungen in entscheidungsrelevanten Gremien aufzeigen und das fundamentale Recht der Frauen bekräftigen, in der Politik mitzuwirken. Wir werden zeigen, welche zentrale Bedeutung der Umsetzung dieses Rechtes zukommt, bei der Schaffung echter demokratischer Strukturen und bei der Geschlechtergleichstellung in ganz Indien.

Das indische Gemeinwesen und seine Herrschaftsstrukturen

Das indische Staatswesen fußt auf der Verfassung und definiert sich als eine souveräne, säkulare und demokratische Republik mit einem parlamentarischen Regierungssystem. Die Herrschaftsstrukturen in Indien beruhen auf einem Dreischichtenmodell, bestehend aus Zentralregierung, Landesregierung und Stadtverwaltung oder dem Dorfrat, auch Gram Panchayat genannt. Die Kandidaten der politischen Parteien und unabhängige Kandidaten stellen sich alle fünf Jahre den Wahlen zu diesen Entscheidungsgremien.

Frauen als politische Akteurinnen

Die Teilnahme von Frauen in der indischen Politik lässt sich bis auf die indische Freiheitsbewegung in der Zeit von 1920- 1940 zurückverfolgen, als Frauen sich aktiv in den Unabhängigkeitskampf einbrachten und erheblich dazu beitrugen, ein freies und unabhängiges Indien zu schaffen. Der Geist der Freiheitsbewegung wurde in die Indische Verfassung eingebunden, die allen indischen Frauen Gleichheit und Nichtdiskriminierung garantiert. Die Verfassung sieht Chancengleichheit und gleichen Arbeitslohn vor und stellt Frauen und Kinder unter den besonderen Schutz des Staates. Das Gesetz verurteilt alle kulturell bedingte Praktiken, welche den Status der Frauen herabwürdigen, und sichert ihnen menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Mutterschutz zu.

Die Artikel 14 und 15 der Verfassung verbieten auch die Diskriminierung aufgrund von Kaste, Hautfarbe, Religion und Herkunft, und garantieren darüber hinaus Bürgerrechte als Grundlage für eine gleichberechtigte Teilnahme von Frauen an Politik.

Trotz der fortschrittlichen Verfassung wurden nach der Unabhängigkeit recht schnell traditionelle soziale Strukturen wiederbelebt, die das soziale Engagement der Frauen einschränkten. Wieder wurden die Frauen in den häuslichen Bereich verbannt und von Entscheidungsprozessen auf familiärer und gesellschaftlicher Ebene ausgeschlossen. Besonders die Politik wurde als eine Domäne der Männer betrachtet, und in der seit über sechs Jahrzehnten bestehenden Demokratie sind die Frauen noch immer nicht Teil davon. Während die Verfassung den Frauen das volle Wahlrecht zugesteht, sucht man sie doch zumeist vergeblich in den politischen Diskussionen. Darüber hinaus beruhen die Wahlentscheidungen traditionsbewusster Frauen nicht auf einer unabhängigen, eigenen Meinungsbildung, sondern sind weitgehend von den Vorlieben ihrer männlichen Familienmitglieder beeinflusst, oder sie wählen auf der vorgegebenen Linie ihrer Kastenzugehörigkeit. Allerdings änderte sich dieses Wahlverhalten nach der Ermordung Indira Gandhis im Oktober 1984 und den Aufstieg ihres Sohnes Rajiv Gandhi zum Premierminister. Landesweit setzten sich Frauen über die Vorlieben ihrer Familie und Kaste hinweg und strömten im Dezember 1984 zu den Wahlurnen, um für Rajiv Gandhis Kongresspartei zu stimmen. Diese Wahl wurde von einem tiefen Gefühl der Sympathie für den jungen Gandhi getragen, den jüngsten Premierminister in der Geschichte Indiens.

Dies bewirkte, dass Frauen sich ihrer Rolle in der Politik mehr bewusst wurden. Heutzutage bringen sich junge Frauen verstärkt aktiv in die Politik ein. Sie nehmen an politischen Diskussionen teil, sind in Studentenvertretungen aktiv, setzen sich mit den Medien auseinander und fordern zunehmend die traditionellen politischen Strukturen heraus. Inzwischen ist die Wahlbeteiligung der Frauen so hoch oder sogar höher als bei den Männern. Im Jahre 2009 nahmen 54 Prozent der Frauen an den landesweiten Wahlen teil. Bei den Landeswahlen Anfang-Mitte 2013 wählten allgemein sogar mehr Frauen als Männer. Im Bundesstaat Tripura, der bei den Wahlen 2013 die höchste jemals erzielte Wahlbeteiligung verzeichnete, begaben sich 93 Prozent der Frauen an die Urnen im Gegensatz zu 90 Prozent der Männer. Eine ähnliche Statistik in Nagaland: Hier lag die weibliche Wahlbeteiligung bei 91 Prozent, die männliche dagegen nur bei 89 Prozent. Ganz anders jedoch in Meghalaya, wo die Frauen nur knapp 50 Prozent der Gesamtwähler ausmachten. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2013 in den Bundesstaaten Madya Pradesh, Rajasthan, Chhattisgarh und Delhi war eine stark veränderte Wahlbeteiligung bei Männern und Frauen zu beobachten. 72 Prozent der Frauen machten diesmal von ihrem Wahlrecht Gebrauch, vor dreißig Jahren waren es lediglich 45 Prozent. Die Wahlbeteiligung der Männer war mit 74 Prozent nur leicht höher als bei den Frauen. Die Zahl weiblicher Wähler bei den Wahlen in Rajasthan übertraf ebenfalls die Zahl Männer und das, obwohl Rajasthan einer der Staaten mit dem niedrigsten Frauenanteil in Indien ist. Die Wahlentscheidungen der Frauen reflektieren diese Veränderung, und junge Frauen entfernen sich mehr und mehr vom traditionell bestimmten Wahlverhalten, um selber über ihre politischen Repräsentanten zu entscheiden.

 Allerdings haben es Frauen noch nicht geschafft, eine signifikante eigene Wählerschaft zu formen. Und obwohl die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Diskriminierung der Frauen ein weitverbreitetes Übel ist, hat das Thema Gleichberechtigung in der Politik immer noch keinen Eingang gefunden. Es ist wahr, Frauen haben sich mehr und mehr zu engagierten Wählern entwickelt und übertreffen nun in Zahl sogar die Männer, jedoch haben sie noch nicht ihre Stärke darin erkannt, politische Dialoge zu führen und politische Verantwortung zu übernehmen.

Machtpolitik: Ein Überblick

Die Machtverteilung innerhalb der indischen Demokratie basiert auf einem Spektrum traditioneller Voraussetzungen, die das Wahlverhalten der Bürger beeinflussen. Zu den wesentlichen Bestimmungsfaktoren des Systems gehören Religion, Kaste, Herkunft und die Gemeinschaft. Das Wählen von Kandidaten nach sozialen Gemeinsamkeiten unterhöhlt das Anliegen der Demokratie. Dennoch üben diese Faktoren immer noch einen sehr starken Einfluss auf die indische Wählerschaft aus. Wirklich aktuelle Probleme wie der niedriger Entwicklungsstand, Korruption und Geschlechterungleichheit sind in der indischen Politik weit in den Hintergrund getreten. Gleichwohl erlebt das Land seit einiger Zeit einen neuen Trend. Es regt sich die Stimme des Gewissens. Der Aufstand gegen Korruption in der Politik und der Ruf nach mehr Sicherheit für Frauen geben ein Zeichen der Hoffnung. Nichtsdestoweniger müssen die weiblichen Wähler die ihnen innewohnende Macht noch erkennen, ansonsten werden Gleichstellungsfragen weiterhin eine untergeordnete Rolle in der Politik spielen.

Politische Parteien: Der Mangel an Frauen

Die Wahlbeteiligung der Frauen und ihre Wahlentscheidungen sind Indikatoren ihres zunehmenden politischen Engagements und Teilnahme an der Politik. Leider ist dies nur ein Aspekt von politischer Mitwirkung. Die Frauen werden zwar als Wähler wahrgenommen aber nicht als Mitwirkende in den politischen Entscheidungsgremien. Frauen sind in allen großen Parteien unterrepräsentiert. Die patriarchalischen Parteistrukturen diskriminieren jene Frauen, die sich den Erwartungen sozialer Verhaltensnormen entgegenstellen und aktiv in der Politik mitwirken wollen.

Es gibt zwei verschiedene Arten von Parteien in Indien; da sind zum einen die Parteien, die mitgliederorientiert sind und regelmäßig Parteiwahlen durchführen, und zum anderen jene Parteien, die ihren Wurzeln in Familiendynastien haben. Die Mehrheit der Parteien in Indien gehört in die letztere Kategorie. Diese Parteien sind extrem patriarchalisch und Frauen werden zum größten Teil von der Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, sie kommen erst gar nicht auf die Kandidatenliste. Auch die patriarchalischen Strukturen der mitgliederorientierten Parteien beeinflussen das Verhalten der Frauen in ihrer Rolle als Wähler, als politische Akteure und potenzielle Abgeordnete. Frauen stellen nicht mehr als 10 Prozent der Mitglieder aller Parteien, sei es auf Landes- oder Kommunalebene. Die zwei größten Parteien in Indien, die Kongresspartei und die BJP, haben beide 33 Prozent der Sitze in den parteiinternen Entscheidungsgremien für Frauen reserviert. Diese Regelung wird aber nicht umgesetzt, und Frauen sind weiterhin in den Entscheidungsgremien unterpräsentiert und werden nicht als Kandidaten bei Wahlen nominiert. Von den 8070 Kandidaten gab es im Jahre 2009 nur 556 Frauen und von diesen gewannen nur 59 einen Sitz im Parlament.[2]

Ohne die Unterstützung der politischen Parteien wird es für Frauen schwierig sein, die Hindernisse zu überwinden, die sich ihnen entgegenstellen, wenn sie am politischen Leben teilnehmen wollen. Frauen mangelt es oft schlicht an den notwendigen Mitteln, um gegen ihre männlichen Gegner anzutreten. Sie müssen gegen die weitverbreitete Meinung ankämpfen, dass Männer stärkere und effektivere Führungspersönlichkeiten sind. Und in vielen Fällen sind sie unfähig - ohne den Schutz eines männlichen Patrons-, sich ihren Weg durch die politischen Hierarchien der zeitgenössischen politischen Arena zu bahnen.

Politische Vertretung von Frauen

Frauen in Indien machen 48 Prozent der Bevölkerung des Landes aus und 47.5 Prozent der registrierten Wähler, dennoch sind sie deutlich in den Entscheidungsgremien unterrepräsentiert, sowohl auf Bundes- als auch auf Staatenebene. Gegenwärtig belegen sie nur 11 Prozent der Sitze im Unterhaus und 10,6 Prozent  der Sitze im Oberhaus der nationalen Parlamente.[3] Darüber hinaus gab es 2012 nur vier weibliche Minister, dies entspricht einem enttäuschenden Anteil von nur 9,8 Prozent aller Ministerposten.[4] Auf Landesebene sitzen in den Parlamenten in ganz Indien weniger als 7 Prozent Frauen.[5]

Bei den letzten Nationalwahlen 2009 wurden von der Kongresspartei nur 43 Frauen als Wahlkandidaten nominiert, bei der BJP waren es 44 Frauen. Und wenn wir auf die letzten Regionalwahlen in Delhi, Rajasthan, Chhattisgarh, Madhya Pradesh und Mizoram schauen, so waren nur 10 Prozent aller Kandidaten Frauen. Und nur 3 von 67 weiblichen Kandidaten bei der Lokalwahl in Delhi im Dezember 2013 waren erfolgreich. Dabei gibt es bemerkenswerterweise 5 Millionen weibliche Wähler in den indischen Städten. Die 67 übrigen Sitze machten die 1110 männlichen Kandidaten unter sich aus. Hier haben wir ein deutliches Beispiel mangelnder Gleichberechtigung auf dem Gebiet der Politik. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Rajasthan, von den 166 Sitzen gingen nur 25 an Frauen. Insgesamt gab es 2096 Kandidaten für nur 199 Sitze. Dasselbe Szenario finden wir in restlichen Bundesstaaten, in denen Ende 2013 Wahlen stattfanden. Es zeigt sich ein allgemeiner Trend, der tief in den patriarchischen Zügen der Gesellschaft verwurzelt ist.

Der Ausschluss der Frauen aus den politischen Entscheidungsgremien hat dazu geführt, dass Frauen- und Gleichstellungsfragen nur unzureichend adressiert werden und in den Entscheidungsgremien keine Rolle spielen. Nach der Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer 16- jährigen Inderin am 16. Dezember 2012 in Delhi ist der Schutz und die Sicherheit von Frauen allerdings auf die politische Agenda gesetzt worden. Dennoch, der Umgang der Regierung mit diesem Thema trägt extrem patriarchalische und herablassende Züge. Statt das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Angst und Gewalt in einer sicheren Gesellschaft einzufordern, stellte sie die Frauen als wehrlose, schwache und schutzbedürftige Wesen dar. Diese rückständige Herangehensweise konzentriert sich mehr auf die weiblichen Opfer als auf die männlichen Täter und unterstreicht damit den patriarchalischen und unsensiblen Umgang des indischen Parlaments mit Frauenfragen.

Die Teilnahme von Frauen in der Kommunalpolitik ist im Vergleich zu ihrer Teilnahme auf National- und Landesebene jedoch deutlich höher. 1992 hat die Indische Regierung die 73. und die 74. Verfassungsänderung vorgenommen, die besagt, dass landesweit 33 Prozent der Sitze in den kommunalen Entscheidungsgremien, Panchayati Raj genannt, für Frauen zu reservieren sind.

Diese Reservierung funktioniert nach dem Rotationsprinzip, bei dem 33 Prozent  der Wahlkreise für eine Legislaturperiode Frauen vorbehalten sind. Nach Beendigung dieses Zeitraums in einem Wahlkreis geht die Reservierung auf einen anderen Wahlkreis über. Die Reservierung der Sitze wird beliebig festgelegt oder durch das Los entschieden. Indien hat ein Direktwahlsystem, was bedeutet, dass in jedem reservierten Wahlbezirk nur weibliche Kandidaten bei den Wahlen kandidieren können, und jedes Gemeindemitglied, das berechtigt ist zu wählen, seinen bevorzugten Kandidaten aussucht und wählt. Nach dem Prinzip der einfachen Mehrheit repräsentiert die Frau mit den meisten Stimmen die Wählerschaft. Nach Beendigung ihrer Amtszeit können einst gewählten Frauen wieder für einen Sitz kandidieren, aber dieses Mal sind bei den Wahlen auch wieder männliche Kandidaten zugelassen.

Nach der Einführung dieser Reservierungsregelung für Frauen ist ihre Teilnahme an der Kommunalpolitik steil nach oben geschnellt. Zurzeit haben 1,5 Millionen Frauen Positionen in den Panchayati Raj Institutionen inne, das sind 36,8 Prozent aller gewählten Kandidaten.[6] Das Hervorgehen vieler politisch erfolgreicher und effektiver Frauenvertreterinnen hat in vielen Bundesstaaten dazu geführt, dass man den Anteil der Frauensitze freiwillig um 50 Prozent erhöht hat. In Staaten wie Bihar, wo die Reservierungsquote auf 50 Prozent erhöht wurde, stellen Frauen 54 Prozent aller gewählten Vertreter auf der Panchayat Ebene.[7]

Die Reservierung von Sitzen in den Panchayati Raj Institutionen hat gezeigt, dass Frauen nicht nur an Wahlen teilnehmen und diese gewinnen können, sondern dass sie auch starke und effektive Führerpersönlichkeiten sind. Dadurch, dass man Frauen mit dem Reservierungssystem ermöglicht hat, Führungspositionen zu übernehmen, wurde den Anliegen der Frauen in den lokalen Führungsgremien eine Stimme verliehen. Dies hatte positive Auswirkungen sowohl für die gewählten weiblichen Vertreterinnen als auch für die gesamte Gemeinschaft. Die gewählten Frauen entwickeln Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen und haben ihre Entscheidungskompetenz verbessert. Die Beteiligung von Frauen in Panchayati Raj Institutionen stellt auch sicher, dass die Bedürfnisse, Werte und Prioritäten der ganzen Gemeinschaft bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden und nicht nur die der männlichen Vertreter. Die Beteiligung von Frauen in der Politik zeigt auch positive Resultate innerhalb der Gemeinschaft. Untersuchungen haben gezeigt, dass es den gewählten Frauenvertreterinnen trotz widriger sozial-politischer Umstände gelingt, notwendige Veränderungen innerhalb ihrer Dörfer in Gang zu setzen. Dies beinhaltet auch, die traditionellen Vorstellungen über die Stellung der Frau in Frage zu stellen, und dem Vorurteil entgegenzutreten, dass Frauen einfältig und schwach sind und intelligenten, starken, fähigen männlichen Führern unterlegen. Sie adressieren zentrale Probleme wie Gewalt, Armut und soziale Ungerechtigkeit.

Nach zwei Jahrzehnten der Sitzreservierungen für Frauen bleibt ihre Teilnahme in den Panchayati Raj Institutionen dennoch problematisch, denn Frauen sind strukturellen und arbeitstechnischen Herausforderungen ausgesetz, die ihnen nicht erlauben, ihre Führungsfähigkeiten voll zu entfalten. Die Tatsache, dass Frauen öfter unter Armut, niedrigen Bildungsstand und unter finanzieller Abhängigkeit leiden, führt oft zur Bestärkung veralteter Ansichten und Einstellungen, die männlichen Führern den Vorzug geben. Man unterstellt Frauen auch oft, dass sie stellvertretend für ihre Männer kandidieren, die, bedingt durch das Reservierungssystem, nicht zur Wahl antreten können, und stellt somit ihre Fähigkeiten in Frage, ihrer Rolle gerecht zu werden und unabhängige Entscheidungen zu treffen. Auch die gewalttätige Natur der Politik, in der politische Akteure oft physische und emotionale Gewalt erleben, kann Frauen von einem politischen Engagement abschrecken. Frauen in der Politik sind im besonderen Maße Gewalt, Verfolgungen, Attentaten und direkten Gewaltandrohungen ausgesetzt. Gewalt kann die Fähigkeit der Frauen, politische Führungsrollen zu übernehmen, unterminieren und ihren Willen, sich in der Politik auf breite Ebene zu engagieren, schwächen.

Obwohl Frauen diesen permanenten Herausforderungen in den Panchayati Raj Institutionen ausgesetzt sind, hat die Sitzreservierung erfolgreich dazu beigetragen, dass die Zahl der Frauen in den lokalen Selbstverwaltungsgremien von 4-5 Prozent  auf 33 Prozent aller gewählten Repräsentanten gestiegen ist.[8]  Die verbliebenen Hindernisse sind erst zu überwinden, wenn Frauen verstärkt Führungspositionen besetzen und die traditionellen, frauenfeindlichen Vorstellungen aufgebrochen werden.

Patriarchat und Staatsführung

Die Ausgrenzung von Frauen aus den politischen Entscheidungsgremien verweist auf ein noch viel größeres Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern, das im ganzen Land vorherrscht. Die Vorherrschaft konservativer, patriarchalischer Denkweisen unter den gewählten Repräsentanten und in der Gesellschaft ist der Hauptgrund für den andauernden Widerstand gegen die politische Ermächtigung von Frauen. Das politische Engagement von Frauen bedroht das Gleichgewicht auf zweierlei Weise. Erstens gibt die Mitwirkung weiblicher Vertreter in der Politik ihrer Stimme bei Entscheidungsprozessen mehr Gewicht und Einfluss. Dies wiederum führt zu einer Politik der Gleichberechtigung und zu einer gerechteren Gesellschaft. Die Verwirklichung der Gleichberechtigung bedeutet unweigerlich die Minderung der Macht der Männer in der Gesellschaft zugunsten der Frauen. Dieses Resultat ist für viele Männer nicht wünschenswert. Zweitens, gegenwärtig ist die Mehrheit der politischen Führer in Indien männlich, und ihre Position als politische Führer gibt ihnen Macht und Ansehen innerhalb ihrer Gemeinschaft. Die Aufwertung der Frauen als politische Führer, insbesondere durch das Reservierungssystem, gefährdet ihre Machtposition. In der gegenwärtigen politischen Situation in Indien bedeutet die Belegung von 33 Prozent der Parlamentssitze durch Frauen eine 33-prozentige Verringerung der Sitze für Männer, und sie verlieren mit ihren Sitzen nicht nur ihre Jobs, sondern auch ihren Einfluss auf die Geschicke Indiens. Somit steht die Förderung des politischen Empowerment von Frauen direkt ihren persönlichen und beruflichen Interessen entgegen und ist ein Grund, warum die politische Ausgrenzung von Frauen womöglich für lange Zeit nicht adressiert werden wird.

Blick in die Zukunft

Die Gleichstellung und Ermächtigung von Frauen kann erst dann realisiert werden, wenn ihnen in allen Bereichen der Gesellschaft die Möglichkeit eingeräumt wird mitzuwirken, auch in der Politik. Sind Frauen weiterhin aus politischen Führungspositionen ausgeschlossen, werden auch ihre Belange vernachlässigt. Die Verfassung gibt Frauen die gleichen Rechte, am politischen Dialog und an Wahlen teilzunehmen und Führungspositionen auf allen Ebenen zu übernehmen, sowohl auf kommunaler-, Staaten- und nationaler Ebene. Die volle und gleiche Mitwirkung von Frauen in der Politik ist die Grundlage für die Umsetzung der Geschlechtergleichstellung in unserer Gesellschaft. Die wachsende weibliche Präsenz in der Politik wird dazu führen, dass die Belange von Frauen mehr beachtet werden, was wiederum positiven Auswirkungen auf den Regierungsstil und die Priorisierung von bestimmten Inhalten haben wird.

Angesichts der Vorteile, die eine verstärkte Beteiligung von Frauen in der Politik als Wähler, politische Vertreter, Parteimitglieder und gewählte Repräsentanten mit sich bringt, ist es von elementarer Bedeutung, dass alles Nötige unternommen wird, um eine Gleichberechtigung der Frauen in der Politik zu verwirklichen. Eine politische Maßnahme, die das Potenzial hat, diesen Prozess zu beschleunigen, ist die Ausweitung des Reservierungssystems von der Kommunal- auf die Staaten- und Nationalebene. Dies würde sicherstellen, dass Frauen landesweit in allen politischen Entscheidungsgremien mit eingeschlossen werden. Frauenorganisationen und Bürgerrechtler üben mehr und mehr Druck auf die politische Parteien aus, damit das Ungleichgewicht der Geschlechter in der Politik angegangen wird, sie fordern mehr Mandate und eine Frauenquote in den Parteien. Doch da viel auf dem Spiel steht, geht man davon aus, dass die Chancen für Frauen, einen Sitz zu gewinnen, schlecht stehen.  Das liegt an den politischen Parteien, die nicht gewillt sind, ihnen Mandate einzuräumen. Deshalb ist eine institutionelles Einschreiten erforderlich, um die Diskriminierung und Marginalisierung der Frauen in der Politik zu überwinden.

Der Reservierungsgesetz für Frauen schlägt einen Frauenanteil von 33 Prozent bei der Sitzverteilung in den Parlamenten der Bundesstaaten und im Nationalparlament vor. Dieses Gesetz hat das Potenzial, die politische Landschaft Indiens grundlegend zu verändern, indem es 181 Sitze im Nationalparlament für Frauen reserviert und 1,370 Sitze in allen indischen Bundesstaaten. Der Gesetzesentwurf folgt dem Modell des Panchayati Raj: Die Reservierung der Sitze geschieht nach dem Zufallsprinzip, wobei die Wahlbezirke nach jeder Legislaturperiode wechseln. Während jedoch die Panchayat Reservierungen unbegrenzt sind, sieht der Gesetzesentwurf für die Reservierung der Sitze für Frauen nur 15 Jahre vor, mit der Möglichkeit sie um weitere 15 Jahre zu verlängern.

Neben der Verabschiedung dieses Gesetzes müssen die politischen Parteien dafür Sorge tragen, dass Frauen politische Entscheidungen aktiv mitgestalten können. Die freiwillige Einführung einer Frauenquote auf Parteienebene zur Förderung der Mitwirkung von Frauen in der Politik ist in vielen Ländern wie Deutschland, Norwegen und Schweden sehr erfolgreich gewesen. Solche Maßnahmen wie eine Frauenquote in den Parteiversammlungen und in den Entscheidungsgremien der Parteien können auch in Indien dazu beitragen, die Frauen zum stärkeren Engagement in den Parteien und zur Teilnahme an politischen Auseinandersetzungen zu bewegen.

Die Mitsprache von Frauen in der Politik zählt zu den elementaren Menschenrechten. Dies ist auch von zentraler Bedeutung für die Überwindung der weitverbreiteten Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und der Diskriminierung und für die Verwirklichung wichtiger Entwicklungsziele bei der Gesundheitsversorgung und Bildung. Frauen in Führungspositionen haben die Fähigkeit, sich von traditionellen patriarchalischen, kulturellen und politischen Strukturen zu lösen, die Indien davon abhalten, sein Potenzial als globale Führungsmacht zu realisieren. Wenn Frauen ermutigt werden, aktiv an der Politik teilzunehmen, können Sie auch eine Vorreiterrolle beim ökonomischen und sozialen Fortschritt einnehmen. Die Vorherrschaft der Männer in der Politik muss in ganz Indien in Frage gestellt werden. Es sind die erfolgreichen Frauen, die unsere Zukunft in ihren Händen halten.

 

[1] Kumari, Ranjana., Reign She Will: Women's Strife for Political Space, Har Anand Publications, New Delhi,2011, p.27.

[2] UN Women., and Centre for Social Research., Violence against Women in Politics: A Study Conducted in India, Nepal and Pakistan (forthcoming), 2013, p. 22.

[3] The Inter-Parliamentary Union, September 2013, World Classification, Accessed on 10 October 2013 from  http://www.ipu.org/wmn-e/arc/classif010913.htm

[4] The Inter-Parliamentary Union., and UN Women., Women in Politics: 2012, Imprimerie Courand et Associés, France, 2012.

[5] Bhasin, S., and Celestine, A., Vital Stats: Women in Parliament and State Legislatures, PRS Legislative Research, 2008, Accessed on 15 April 2013 from
http://www.prsindia.org/administrator/uploads/general/1241758183~~Women%20in%20Parliament%20and%20State%20Legislature.pdf

[6] Infochange., 50% Quota for Women in all tiers of Panchayati Raj, Accessed on 15 April 2013 from http://infochangeindia.org/women/news/50-quota-for-women-in-all-tiers-of-panchayati-raj.html

[7] Sehgal, R., Panchayat Women no longer need Sarpanch Patis, in Infochange (online site), 2008, Accessed on 15 April, 2013 fromhttp://infochangeindia.org/women/news/panchayat-women-no-longer-need-sarpanch-patis.html

[8] Kaul, S., and Sahni, S., Study on the Participation of Women in Panchayati Raj Institution, Studies on Home and Community Science, Vol. 3, No. 1, p. 30, 2009.