"Chance für grüne Politik in Polen"

Anna Grodzka
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Anna Grodzka

Anna Grodzka, bisher Mitglied der Palikot-Partei - Deine Bewegung - (Twój Ruch, TR), ist der grünen polnischen Partei Zieloni beigetreten. Sie ist seit 2011 Abgeordnete im Sejm und u. a. im Ausschuss für Kultur und Massenmedien, im Ausschuss für Gerechtigkeit und Menschenrechte sowie in zahlreichen parlamentarischen Kommissionen tätig. Mit Grodzkas Parteiwechsel Ende Juni 2014 zu Zieloni haben diese erstmals auch ein Parlamentsmandat inne. Über ihre Motive und Ziele sowie über grüne Politik in Polen sprach mit Anna Grodzka die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau, Irene Hahn-Fuhr.

Irene Hahn-Fuhr: Welche Ereignisse, Beweggründe oder grüne Forderungen haben Sie dazu bewegt, von TR zu den Zieloni zu wechseln?

Anna Grodzka: Zu den Forderungen der heutigen europäischen und polnischen Grünen gehören all jene humanistischen Werte und politischen Projekte, die ich seit Jahren vertrete. Insbesondere überzeugen mich die Forderungen in den Bereichen soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft.

Politikerin bin ich erst seit zweieinhalb Jahren, zuvor war ich Unternehmerin und gesellschaftliche Aktivistin. Ich muss gestehen, dass ich das Parteiprogramm der Grünen erst im Parlament näher kennengelernt habe. Früher hatte ich nur ein unvollständiges Bild von den Grünen, denn mein Eindruck war, dass die Partei sich ausschließlich auf ökologische Fragen konzentriert. Was Polen betrifft, stellt jedoch der wachsende Bereich Armut und soziale Ungerechtigkeit das Hauptproblem dar. Ein ökologisches Parteiprofil reicht nicht aus, damit die Menschen, selbst jene, die den Forderungen im Bereich Umweltschutz oder LGBTI positiv gegenüber stehen, ihre Stimme für die Grünen abgeben. Ich bin nicht allein aus Gründen der Einflussnahme in die Politik gegangen, sondern um mich einzusetzen und dafür zu kämpfen, was ich für richtig, gut und vernünftig für die Gesellschaft halte. Die Politik muss ihre gesellschaftlichen Ziele haben. Als Parlamentarierin mit realen politischen Instrumenten möchte ich den Grünen helfen, in der kommenden Legislaturperiode im Parlament vertreten zu sein.

IHF: Wie bewerten Sie das Entwicklungspotential der grünen Bewegung in Polen bisher und in der Perspektive der kommenden Jahre?

AG: Die grüne Partei ist die größte und trotz allem am besten organisierte außerparlamentarische Kraft im linken politischen Spektrum in Polen. (Hm! Im Grunde genommen ist sie jetzt ja bereits parlamentarische Kraft ... Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich die erste Abgeordnete der Grünen in Polen bin.)

Unsere Kraft liegt in dem Potenzial, das in der Vereinigung und Integration der gesellschaftlichen Bewegungen in Polen liegt. Die Parlamentsgruppe für nachhaltige und gesellschaftliche Entwicklung „Faire Gesellschaft”, deren Vorsitzende ich bin, bildet ein Netzwerk solidarisch verbundener Organisationen, Gewerkschaften und gesellschaftlicher Bewegungen, die sich verschiedenen Aspekten des Lebens widmen: Menschenrechte, Tierrechte, Hilfe für Menschen mit Behinderungen, Unterstützung der Gleichstellung von LGBTI, Rechte von Arbeitnehmer/innen und Mieter/innen. NGOs oder informelle gesellschaftliche Bewegungen, die sich erfolglos bei Politiker/innen für gesellschaftliche Belange eingesetzt haben, beginnen zu begreifen, dass sie ein sehr ähnlicher Katalog linker Werte und politischer Forderungen verbindet. Es entsteht eine Kraft, die bereit ist, solidarisch zu handeln. Und aus Solidarität entsteht politische Kraft. Als politische Partei können die Grünen eine wichtige Rolle bei der Integration dieser gesellschaftlichen Energie und dieses Bedürfnisses nach Solidarität einnehmen. Die Partei ist intellektuell sehr attraktiv – nicht nur für junge Wähler/innen. Sie entwirft ein stimmiges Weltbild in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt, und empfiehlt sich durch politische Frische und Authentizität. Eine solche Qualität bietet keine andere politische Kraft in Polen.

IHF: Wie würden Sie die aktuelle politische Landschaft und die gesellschaftliche Stimmung in Polen beschreiben?

AG: Eine große Chance für die Grünen stellen in der kommenden Zeit die außergewöhnlichen und sehr wichtigen äußeren – gesellschaftlichen und politischen – Voraussetzungen dar. Ich nenne hier die wichtigsten äußeren Faktoren und beginne bei dem dramatisch niedrigen Vertrauen in den Staat. Die Zahl derjenigen, die in Meinungsumfragen dem Sejm ihr Vertrauen absprechen wächst rapide. In den letzten Umfragen des Zentrums für Öffentliche Meinungsforschung, noch vor der sogenannten „Abhöraffäre”[1], waren es 77 Prozent der Befragten, und damit 10 Prozent mehr, als Anfang des Jahres. Eine schlechte Bewertung erhalten auch die lokalen Selbstverwaltungen. Die gesellschaftliche Unzufriedenheit wächst besonders aufgrund jahrelang ungelöster Probleme – Arbeitslosigkeit, besonders fehlende Chancen für junge Leute, Ausweitung der in prekären Verhältnissen lebenden Schichten, niedriges Niveau staatlicher Fürsorge für Menschen mit Behinderungen und ihre Betreuungspersonen, Fristverlängerung zum Übergang in den vorzeitigen Ruhestand in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, fehlender Dialog mit den Gewerkschaften, wachsendes Gefühl der Ungerechtigkeit, Angst vor dem möglichen Verlust der lebensnotwendigen finanziellen Mittel sowie weiterhin bestehende Diskriminierung von Frauen und LGBTI.

Alle diese Probleme riefen in der letzten Zeit bedeutende gesellschaftliche Proteste hervor. Ein weiterer Faktor ist der heftige Angriff auf den demokratischen Staat seitens extrem konservativer politischer Gruppen mit religiösen Wurzeln. Skandale im Zusammenhang mit der Gewissensklausel und dem Fall des Arztes Bogdan Chazan[2], die Erklärung der Genderwissenschaften als feindliche Ideologie, hasserfüllte Angriffe auf Künstler seitens dieser Kreise, rufen sogar bei religiösen Menschen Widerwillen hervor. Das vierte Element ist die Schwäche der parlamentarischen Linken, oder eher des Mitte-Links-Spektrums. Bei den Wahlen zum Europaparlament haben die beiden Parteien, die sich als linksorientiert bezeichnen, der Bund der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD) und TR, zusammen nicht einmal 14 Prozent der Stimmen erhalten. Das Potenzial der gesellschaftlichen Unterstützung für linke Werte, gestützt auf nachhaltige Entwicklung, soziale Gerechtigkeit sowie Gleichheit und Offenheit in weltanschaulichen Fragen (bei Trennung von Kirche und Staat), ist in Polen bedeutend größer. Angesichts dieses Phänomens hat die Partei der Grünen meines Erachtens große Chancen, im Zuge der Parlamentswahlen im Herbst 2015 Einfluss auf die polnische Politik zu erhalten.

IHF: Sie skizzieren eine vielversprechende politische Perspektive für die Grünen... Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

AG: Zum einen in der Unvollkommenheit der polnischen Demokratie, wie z. B. die Fünf-Prozent-Hürde, das System der Parteienfinanzierung, das große Parteien übermäßig unterstützt, das Fehlen einflussreicher linksgerichteter Medien und das faktische Nichtvorhandensein eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Zum zweiten die aktuell schwache Erkennbarkeit und Wahrnehmung der grünen Partei. In Polen wird „grün” vor allem mit Ökologie assoziiert. Potenziellen Wähler/innen der Grünen ist das Programm der Partei unbekannt, und sie verstehen nicht, dass die wirtschaftliche Entwicklung, die Beseitigung der Armut sowie die gerechten sozialen Verhältnisse, die sie erwarten, im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung, einer alternativen Politik gegen eine neoliberale Globalisierung sowie einer Politik der Achtung von Mensch, Gesellschaft und Natur möglich sind. Ich habe den Eindruck, in Polen ist die Überzeugung weit verbreitet, eine die Umwelt achtende Politik sei solange gut, wie sie nicht mit wirtschaftlichen Interessen kollidiert. Die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass gerade die Achtung für die Umwelt in unserem objektiven heutigen und zukünftigen Interesse liegt, bleibt unsere schwierige Aufgabe. Das ist, angesichts unserer bescheidenen Ressourcen eine sehr schwer zu vermittelnde Botschaft.

IHF: Welche Maßnahmen würden den polnischen Grünen den Weg in die Hauptströmung der Politik ebnen?

AG: Wenn es um mögliche Unterstützung geht, gibt es für grüne Politik zwei Grenzen. Hinter einer Linie ist religiöser Fundamentalismus und weltanschaulicher Konservatismus verortet, hinter der zweiten stehen jene Wählergruppen, die der seit Jahren dominierenden, individualistischen, neoliberalen Propaganda vertrauen, die Bruttoinlandsprodukt und Kapitalismus als Indikatoren für Wohlstand preisen. Ich bin überzeugt, dass diese Linien uns im aktuellen politischen Klima von höchstens 60 Prozent der polnischen Wählerschaft „abschneiden”, die ohnehin größtenteils von rechtsgerichteten, konservativen und in der politischen Mitte angesiedelten Parteien vereinnahmt werden. In Polen liegt die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen unter 50 Prozent, was oftmals an dem Gefühl liegt, es gebe keine Partei, der man sich ideell nah fühlt oder der man vertrauen kann.

Die Grünen sollten sich an allen kommenden Wahlen beteiligen. Bei den Kommunalwahlen sollten sie mit gesellschaftlichen Bewegungen zusammenarbeiten und dort wo möglich versuchen, als Partei eigene Wortführerinnen und Wortführer zu stellen. Sie sollten eigene Kandidatinnen und Kandidaten als Ratsmitglieder, Bürgermeister oder Stadtpräsidenten ins Rennen schicken, auch wenn ein Wahlsieg unwahrscheinlich ist. Die Grünen sollten auch mit einer Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2015 vertreten sein und einen Unterstützerkreis um sie herum aufbauen. Dies würde das eigene politische Profil schärfen und das Image der Partei stärken. Bei den Parlamentswahlen sollten die Grünen als eigene Kraft antreten – es sei denn, die aktuelle politische Konstellation verändert sich radikal – dann die Wahlen gewinnen und zum ersten Mal mit Abgeordneten im polnischen Parlament vertreten sein. Das ist die Messlatte unseres Erfolgs.

Dies also ist die Chance grüner Politik in Polen. Ich möchte helfen, sie zu nutzen, denn es lohnt sich.

IHF: Vielen Dank für das spannende Gespräch! Wir werden Ihr weiteres Engagement für die grüne Politik – eine Vision, die uns verbindet – mit Interesse verfolgen.

 

 

[1] Mitglieder der Regierungskoalition und bedeutende Funktionsträger sowie Unternehmer wurden über ein Jahr in Warschauer Restaurants abgehört.  Frustrierte ehemalige Vertreter der Sicherheitsdienste, Geschäftsleute, russischen Geheimdienste, oder politische Konkurrenz könnten hinter den Aufnahmen stecken. Am 24. Juni 2014 kam es zu ersten Verhaftungen (zwei Restaurantmitarbeiter und ein mit der Kohleindustrie verbundener Geschäftsmann). Am 25. Juni 2014 stellte Ministerpräsident Tusk im Sejm die Vertrauensfrage. 237 von insgesamt 440 Abgeordneten sprachen der Regierung ihr Vertrauen aus, 203 stimmten gegen sie.

[2] Der Krankenhausdirektor Prof. Bogdan Chazan lehnte unter Berufung auf die Gewissensklausel die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs ab, obwohl bei der betroffenen Frau eine medizinische Indikation aufgrund schwerwiegender und irreversibler Schäden des Fötus vorlag, die in Übereinstimmung mit der Verfassung einen Schwangerschaftsabbruch zuließ. Entgegen der Vorschriften wies er die Patientin auch nicht auf eine Einrichtung hin, wo sie den Eingriff hätte vornehmen lassen können. Die Frau musste das Kind zur Welt bringen, ohne Schädel und eine Hirnhälfte starb es nach zehn Tagen.