Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz? Eine Anklage

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Unterstützer/innen der Kampagne "Verfassungsschutz abschaffen!" fordern die Auflösung der Verfassungsschutzämter als Konsequenz aus der fehlenden Aufklärung der NSU-Morde

Wenn ein Atomreaktor außer Kontrolle gerät, dann spricht man von einem GAU, vom größten anzunehmenden Unfall. Wenn der staatliche Sicherheitsapparat oder ein Teil davon außer Kontrolle ist, dann ist das ein GAU für den Rechtsstaat. Wie ist er zu verhindern? Was tut man, wenn er passiert? Man muss den Sicherheitsapparat sorgfältig kontrollieren. Und im Fall des Falles muss man ihn wieder unter demokratische und rechtsstaatliche Kontrolle stellen. Wenn das nicht geht, muss man den Apparat abschalten.

Polizei und Justiz stehen unter öffentlicher Kontrolle. Das gehört zum Wesen der Demokratie. Der Verfassungsschutz dagegen steht nicht unter öffentlicher Kontrolle, weil er sonst seiner geheimen Arbeit nicht nachgehen könnte. Das widerspricht eigentlich dem Wesen der Demokratie, die von der Transparenz und der guten Kontrolle der Staatsgewalten lebt. Ein geheimer Verfassungsschutz, ein »demokratischer Geheimdienst«, ist daher so etwas wie ein rundes Viereck, also ein Widerspruch in sich. Die deutsche Demokratie versucht diesen Widerspruch auszuhalten, weil sie glaubt, ohne die Erfolge dieses Verfassungsschutzes nicht auskommen zu können. Der Verfassungsschutz gilt als permanente Notwehr des Staats gegen Verfassungsfeinde; die Erfolge des Verfassungsschutzes rechtfertigen seine Existenz. Es folgt diese Erfolgsgeschichte des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland – in fünf Teilen.

Erstens: Als vor fünfzig Jahren die Redaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel von der Polizei durchsucht, besetzt und sein Verleger Augstein verhaftet werden sollte, hat dies der Verfassungsschutz verhindert; die Pressefreiheit ist ein Teil der Verfassung, die er zu schützen hat.

Zweitens: Als vor vierzig Jahren in Berlin die Korruptionsaffären einander jagten und sich Politiker, Bank- und Wirtschaftsmenschen an Berlin kaputtverdienten, war es der Verfassungsschutz, der den Sumpf trockenzulegen half; die Verfassung, die er schützt, wird nämlich auch von mafiosen Strukturen gefährdet.

Drittens: Als, und auch das ist vierzig Jahre her, die DDR einen Spion als persönlichen Referenten bei Bundeskanzler Willy Brandt einzuschleusen versuchte, hat das der Verfassungsschutz vereitelt.

Viertens: Als vor dreißig Jahren die Flick-Affäre aufgedeckt wurde, war dies ein Verdienst eines Verfassungsschutzes, der sich bewusst war: Zum Schutz der Verfassung gehört es, dass der Staat nicht von reichen Leuten gekauft werden kann. Spitzenpolitiker von CDU, CSU, FDP und SPD hatten von Flick Geld erhalten, und der Verfassungsschutz hatte sich erfolgreich auf die Spur gesetzt.

Fünftens: In Rostock-Lichtenhagen konnte der Verfassungsschutz 1992 einen Pogrom der Neonazis gegen Ausländer verhindern. 115 Vietnamesen wurden gerettet. Und so weiter, und so weiter. Das ist die Erfolgsgeschichte des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland.

Aber nichts von alledem stimmt. Es stimmt das Gegenteil. Zur Spiegel-Affäre hat der Verfassungsschutz selbst seinen Teil beigetragen. Und zweitens, drittens, viertens, fünftens? Die mafiosen Strukturen hat er nicht entdeckt, die Korruption hat er nicht bemerkt, die Parteispendenskandale auch nicht; er hat den Ost-Spion in die Nähe des Kanzlers gelassen, und die massivsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen der Nachkriegsgeschichte in Rostock, bei denen mehr als hundert vom Mob belagerte Menschen ums Haar verbrannt worden wären, trafen ihn unvorbereitet. Und so weiter, und so weiter. Zuletzt hat der Verfassungsschutz ein Jahrzehnt lang nicht gemerkt, dass eine Ausländer hassende Neonazi-Bande zehn Menschen ermordet hat. Und von der Justiz gesuchte Rechtsextremisten konnten unbehelligt bei rechtsextremen Demonstrationen mitmarschieren und Neonazi-Konzerte besuchen – in denen Neonazi-Bands die Neonazi-Morde besangen. So hat der Verfassungsschutz die Verfassung geschützt.

Seitdem bekanntgeworden ist, dass eine Neonazi-Bande ungehindert und unverfolgt mordend durch Deutschland ziehen konnte; seitdem klargeworden ist, dass also die Verfassungsschutzberichte seit fünfzehn Jahren falsch waren; seitdem die Innenpolitiker bekennen müssen, dass die Folgerungen, die sie auf dieser Basis gemacht haben, nicht tragfähig sind; seitdem jeden Tag neue Fehlleistungen des Verfassungsschutzes bekanntwerden und immer neue Details über die Distanzlosigkeit, die zwischen einzelnen Verfassungsschützern und Rechtsextremisten herrscht – seitdem mag man sich verzweifelt fragen, ob womöglich nicht nur die NPD, sondern auch der Verfassungsschutz verboten werden sollte.

Solche Verzweiflung ist kein guter Ratgeber, aber sie ist verständlich. Die aktuellen Nachrichten handeln nicht nur von einer neuen Dimension des Terrors, sondern auch von einer neuen Dimension des Versagens der Sicherheitsbehörden. Pralle Säcke mit Fragezeichen werden zwischen den Ministerien, zwischen Berlin, den Landeshauptstädten und Karlsruhe hin- und hergeschleppt: Sie betreffen die Täter, sie betreffen die Taten, sie betreffen die verrückt anmutenden Fehler der Sicherheitsbehörden. Gewiss: Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ermittelt nicht «wegen Staatskrise», sondern «wegen Bildung terroristischer Vereinigungen» – aber damit indirekt auch wegen Staatsversagens, weil die zuständigen Behörden von dieser terroristischen Vereinigung offenbar nicht das mindeste mitgekriegt haben.

Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme. In welcher Verfassung ist der Verfassungsschutz? Fast 150 Menschen sind in Deutschland seit der Wiedervereinigung verbrannt, erschlagen, erstochen oder sonst wie aus «Fremdenfeindlichkeit» ermordet worden. Der Verfassungsschutz war nicht da und er war nicht dort, wo man ihn brauchte. Was hat er getan? Er hat Hunderte V-Leute in der Neonazi-Szene finanziert, um zu erfahren, was sich in dieser Szene tut. Erfahren hat er offenbar wenig. Das ist schon schlimm genug. Noch schlimmer wäre es, wenn er etwas erfahren, aber nichts dagegen getan hätte. Das wäre fast eine Art Beihilfe, und man weigert sich, so etwas zu denken. Der Verfassungsschutz, die heimliche Staatsgewalt, kann eine unheimliche Palette nachrichtendienstlicher Mittel anwenden: Er darf abhören und aushorchen, lauschen und anwerben, tarnen und täuschen. Er darf auch all das, was der Polizei nicht oder noch nicht erlaubt ist. Indes: Wenn es dem Geheimdienst nicht gelingt, seine rechtsextremistischen V-Leute unter Kontrolle zu halten, darf man ihm dann geheimdienstliche, also grundrechtsaggressive Ermittlungsmethoden in die Hand geben? Dem Verfassungsschutz sind in den Anti-Terror-Gesetzen, die jüngst wieder verlängert worden sind, noch weitere geheime Kompetenzen abseits der Kontrolle durch die Justiz eingeräumt worden. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Befugnisse nicht adäquat eingesetzt werden.

Der Verfassungsschutz hat seine Geschichte. In seinen frühen Jahren bespitzelte er den Rechtsanwalt Gustav Heinemann, den späteren Bundespräsidenten. Dessen Telefonate wurden abgehört, er galt als Kommunistenfreund. Klara Marie Faßbinder, die katholische Pazifistin, wurde unter der Mithilfe des Verfassungsschutzes aus der Bonner Hochschule vertrieben und auf ihren Geisteszustand untersucht, weil sie Adenauers Aufrüstungspolitik bekämpfte. Viktor Agartz, der Wirtschaftswissenschaftler und Cheftheoretiker des Deutschen Gewerkschaftsbundes, wurde observiert – und die Ergebnisse der Observation flossen ein in eine Anklage wegen Landesverrats. So war das in den Anfangsjahren. Und nicht alles hat sich in den späteren Jahren verändert. Der Rechtsanwalt, Bürgerrechtler und stellvertretende Verfassungsrichter Rolf Gössner in Bremen wurde, wie vor ein paar Wochen vom Verwaltungsgericht Düsseldorf festgestellt, fast vierzig Jahre lang vom Inlandsgeheimdienst zu Unrecht ausgespäht. Es gab auch schon einmal eine Rekrutenvereidigung bei der Bundeswehr, bei der V-Männer als Steinewerfer erkannt wurden.

Aber man darf nicht ungerecht sein. Der Verfassungsschutz war ein Kind seiner Zeit, ein besonders aggressives Kind freilich. Um die Bevölkerung nur fünf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation wieder zur Aufrüstung zu bewegen, brauchte die Bundesrepublik ein Feindbild: die Kommunisten. Und in ihrer ja nicht unberechtigten Angst vor dem Kommunismus der Sowjetunion kriminalisierte die junge Republik alles, was sich kommunistisch gebärdete und irgendwie danach aussah. Und als 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde, begann die große wilde Zeit des Verfassungsschutzes: KPD-Mitglieder, die im KZ gesessen hatten, wurden von Verfassungsschützern, die Nazis gewesen waren, zur Strecke gebracht. Daraus lässt sich lernen, was der Verfassungsschutz war (und manchmal immer noch zu sein scheint): eine politische Behörde der jeweiligen Regierung mit einem Namen, der diese Funktion camoufliert.

Die Duldsamkeit gegenüber dem Rechtsextremismus und die Unduldsamkeit gegenüber dem Linksextremismus hatte und hat mit dem Kalten Krieg zu tun, in dem ein Teil der Verfassungsschützer groß geworden war. Vierzig Jahre starrte die Bundesrepublik, hochgerüstet mit den Waffen der wehrhaften Demokratie, in den Osten. Als dann das Feindbild Kommunismus verblasste, wurden die Verbrechen der RAF mit dem alten Feindbild assoziativ verknüpft. Und als die RAF sich auflöste, wurde sie vom islamistischen Terrorismus substituiert. Der Gesetzgeber produzierte zwar Sicherheitsgesetze am laufenden Band – angewendet wurden sie aber gegen die Linksextremisten und die Islamisten.

So gelang es dem Rechtsextremismus schon vor der deutschen Einheit, seine alten Einfluss-Sphären zu verlassen. Seit Mitte der achtziger Jahre gelang ihm der Generationensprung aus dem Ghetto der Altherrenvereine, ohne dass die demokratischen Alarmsysteme angeschlagen hätten. Er wurde eine verjüngte Bewegung, aber die demokratischen Parteien nahmen das nicht oder zu spät zur Kenntnis – der Verfassungsschutz schlug nicht Alarm. Aus dem späten »Aufstand der Anständigen«, nach einer Serie rechtsextremer Gewaltanschläge im Sommer 2000, wurde ein Aufstand der Unfähigen – als der Verbotsantrag gegen die NPD vor dem Bundes verfassungsgericht an seiner schlechten Begründung scheiterte.

Von 1972 an war der Verfassungsschutz damit beschäftigt, den Radikalenerlass der Bundesregierung zu exekutieren und die dafür notwendigen Feststellungen zu treffen. Fünfzehn Jahre lang war und blieb es so: Ob Postbote, Schullehrerin, Gefängnisdirektor oder Lokomotivführer – gab es vom Verfassungsschutz Zweifel an der Treue zum Staat, dann wurde man abgelehnt und nicht verbeamtet. Der Verfassungsschutz war auch dabei, als es den Staat gegen die Demonstranten von Brokdorf und Wackersdorf zu schützen galt, gegen die Gegner der Volkszählung, gegen die Sitzblockierer vor den Toren der Giftgas- und Raketenlager. Sie alle standen ja im Verdacht, bewusst oder unbewusst das Geschäft «der anderen Seite» zu besorgen. Der Verfassungsschutz war so eine Art vorgeschobener Beobachter im Kalten Krieg. Kritisches Engagement war dem Staat zuwider, und die Intellektuellen, die dahinter standen, waren ihm als Kommunisten und Extremisten suspekt. Rechtsextremisten freilich wurden vom Argwohn der wehrhaften Demokratie allenfalls gestreift. Dafür aber hat der Verfassungsschutz in den siebziger und achtziger Jahren regelmäßig Tausende Betriebsräte in Großunternehmen mit großem Aufwand überprüft. Aus der permanenten Notwehr gegen Feinde der Demokratie wurde ein permanenter Putativnotwehrexzess.

Gewiss, der Verfassungsschutz hat auch anderes getan. Er hat versucht, den Linksterrorismus und die RAF zu bekämpfen. Im Jahr 1978 sprengte der niedersächsische Geheimdienst nach Absprache mit dem Ministerpräsidenten ein Loch in die Mauer des Gefängnisses von Celle und schob die fingierte Straftat anderen in die Schuhe, um so dem Wähler effektive Terrorismusbekämpfung zu demonstrieren. Zum Opfer wurde sogar die Polizei, die an die terroristische Aktion glaubte; zum Narren gehalten wurde auch das niedersächsische Parlament, dem Lügenmärchen aufgetischt wurden.

Und in Berlin hat der dortige Verfassungsschutz versucht, auch die Justiz zum Narren zu halten. Bis heute ist ungeklärt, ob der Terrorist und V-Mann Ulrich Schmücker, Informant des Berliner Verfassungsschutzes, am 5. Juni 1974 mit Wissen, mit Duldung oder unter Mitwirkung des Verfassungsschutzes ermordet wurde. Die Verantwortung dafür trägt der Verfassungsschutz. Als 1991 nach sechzehn Verhand lungsjahren der Prozess gegen sechs mutmaßliche Terroristen wegen der Ermordung Schmückers eingestellt wurde, stand ein anderer Schuldiger fest: der Landesverfassungsschutz. Er hatte die Aufklärung des Mordes verhindert. Die Richter wussten sich nicht mehr anders zu helfen, als den Prozess – es war der längste in der Geschichte der Bundesrepublik – einzustellen.

Das gerichtliche Einstellungsurteil formuliert eine Anklage gegen einen außer Rand und Band geratenen Geheimdienst: Er hat mit allen Mitteln verhindert, dass die Wahrheit an den Tag kam – und es ist ihm gelungen; die Tatwaffe wurde vor den Richtern im Panzerschrank des Verfassungsschutzes versteckt, Zeugen wurde vom Verfassungsschutz der Mund verboten, Akten wurden zurückgehalten, die Verteidigung wurde ausspioniert. Das alles klingt unglaublich. Es ist unglaublich. Der Berliner Prozess gab eine Vorstellung davon, was passieren kann, wenn der Staat immer mehr auf geheimdienstliche Ermittlungsmethoden setzt: Der Geheimdienst bestimmt dann, welche Straftaten vom Gericht aufgeklärt werden können und welche nicht.

Es gibt eine geheimdienstliche Operation, die exemplarisch zeigt, wie wichtig Kontrolle ist: die Operation Plutonium des Jahres 1994. Es handelt sich nicht um eine Operation des Verfassungsschutzes, sondern um eine Operation des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND. Aber die geheimdienstlichen Methoden, Risiken und Nebenwirkungen beim Inlands- und beim Auslandsgeheimdienst sind ähnlich – und ähnlich gefährlich. Also: Der deutsche Geheimdienst höchstselbst hatte in Moskau 363,4 Gramm Plutonium eingekauft, das dann, höchst riskant, nach München geflogen wurde – um dort in einer spektakulär inszenierten Aktion sichergestellt zu werden. Der BND wollte durch diese Schmuggelaktion Atomschiebern auf die Spur kommen. Deutsche Lockspitzel hatten so lange mit sehr viel Geld gewedelt, bis »normale« Kriminelle in das Nuklearschmuggel-Geschäft eingestiegen waren. Sie waren mit der Nase aufs Plutonium gestoßen worden, und der zu bekämpfende Markt war auf diese Weise erst geschaffen worden. Kriminelle Banden handeln mit nuklearem Material – aus dieser abstrakten Gefahr machte der Geheimdienst eine konkrete und gefährdete damit die öffentliche Sicherheit in erheblicher Weise.

Man könnte den gefährlichen Plutoniumschmuggel als einen von vielen Höhepunkten in einer Kette von Geheimdienstskandalen abtun, an denen die Bundesrepublik ja nicht arm ist. Die Republik hat all diese Skandale überlebt. Wer die Chronologie der bisher gut sechzig parlamentarischen Untersuchungsausschüsse nachliest, stellt fest: Die Hälfte davon befasste sich mit Geheimdienstaffären.

Aber seit 1994, just seit dem Jahr des Plutoniumskandals, gilt ein ehedem eherner Grundsatz der bundesrepublikanischen Demokratie nicht mehr – der Grundsatz der strikten Trennung von Polizei und Geheimdienst. Der Gesetzgeber selbst hat ihn aufgeweicht. Der BND hatte durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 Hilfszuständigkeiten zur allgemeinen Verbrechensbekämpfung erhalten (er darf Gespräche des internationalen Telefonverkehrs aufzeichnen, sobald dabei bestimmte Stichwörter fallen, zum Schutz nicht der freiheitlich demokratischen Grundordnung, sondern zur allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung). Der Plutoniumskandal zeigte, dass sich der Geheimdienst mit solcher Hilfszuständigkeit nicht zufriedengab. Er wollte und will nicht Hilfsdienste erledigen, sondern die anderen – Polizei und Staatsanwaltschaft – sollen ihm Hilfsdienste leisten. Nicht die Polizei, nicht die Staatsanwaltschaft hatten die Sachherrschaft bei der Schmuggelei, obwohl es angeblich um die Bekämpfung und Verfolgung der Nuklearkriminalität ging. Herr des Verfahrens war der Geheimdienst, also eine Institution, die nicht dem Legalitätsprinzip unterliegt; und der Untersuchungsausschuss des Bundestags recherchierte ihm dann mühsam hinterher.

Dem Gesetzgeber hätte dies eine Lehre sein können und müssen: Gibt man dem Geheimdienst den kleinen Finger, frisst er die ganze Hand. Der Plutoniumskandal hätte also sein Gutes haben können, weil er drastisch demonstriert, wohin die Vermischung und Verquickung von Zuständigkeiten führt. Gleichwohl: Politiker und Gesetzgebung wiesen und weisen den Geheimdiensten einen immer größeren Part bei der Herstellung innerer Sicherheit zu. Die Antiterrorgesetze seit dem 11. September 2001 sind Geheimdienststärkungsgesetze; sie bestehen im Wesentlichen aus neuen Kompetenzen für die geheimen Staatsgewalten.

Alljährlich gibt es einen Verfassungsschutzbericht. Im nächsten Bundesverfassungsschutzbericht wird man Erklärungen dafür suchen, warum der Verfassungsschutz von einer terroristischen Neonazi-Bande nichts wusste – warum er, wenn es denn so stimmt, im Spätherbst 2011 aus allen Wolken der Ahnungslosigkeit gefallen ist. Wie der Verfassungsschutz arbeitet, mit welchen Mitteln und Methoden – das war bisher nicht Gegenstand der Verfassungsschutzberichte, aber immer wieder Gegenstand von Skandalen. Nach dem jüngsten Skandal, dem Neonazi-Skandal, muss der Verfassungsschutz sich selbst in den Mittelpunkt seines Berichts stellen. Und die Frage, wer die Verfassung vor ihren Schützern schützt, ist zwar bissig, aber wichtig. Es gibt die Geheimdienstkontrolleure des Bundestags und der Landtage. Sie sind gutwillig und fleißig, aber völlig überfordert. Wenn ein Geheimdienst, also zum Beispiel der Verfassungsschutz als Inlandsgeheimdienst, wie dies der Fall ist, immer mehr polizeiliche Aufgaben übernimmt – dann muss er entweder in die Polizei eingegliedert werden oder zumindest so kontrolliert werden wie diese: durch die Justiz.

Die Geschichte des Verfassungsschutzes in Deutschland ist in nicht unwesentlichen Teilen eine Skandalgeschichte. Der Schaden, den der Verfassungsschutz angerichtet hat, war womöglich viel größer als der Nutzen, den er brachte. Hat er Zweifelnde von der Verfassung überzeugt – oder hat er sie in ihren Zweifeln bestärkt? Die Methoden, die der Verfassungsschutz angewendet hat, waren und sind keine Werbung für die Verfassung, die Fehler, die er gemacht, und die Skandale, die er produziert hat, auch nicht. Bundeskanzler Helmut Kohl hat einmal gesagt, er habe den Geheimdienst nie gebraucht. Diese Ansicht ist generalisierbar. Hat der Verfassungsschutz von den Neonazi Morden wirklich nichts gehört und gesehen? Dann ist er, so sagt es der Berliner Journalist Christian Bommarius zu Recht, überflüssig. Und wenn er nichts hören und sehen wollte? Dann ist er, auch das ist zutreffend, eine Gefahr für die Verfassung. Ein überflüssiger Verfassungsschutz ist zu teuer. Und wenn er gar gefährlich ist, dann muss man nicht nur seine V-Leute abschalten, sondern den ganzen Verfassungsschutz.

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Der Beitrag von Heribert Prantl erschient zuerst in der Publikation "Wer schützt die Verfassung?", herausgegeben von Weiterdenken, der sächsische Teil des Verbundes der Heinrich-Böll-Stiftungen.