Putins Qual der Wahl

Tic Tac Toe
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Tic Tac Toe: Putin ist derzeit vor allem auf der Suche nach dem geringsten Übel

Mit der Annexion der Krim hat Vladimir Putin einen patriotischen Geist aus der Flasche gelassen, der seitdem das Handeln der russischen Führung bestimmt. Wie konnte es so weit kommen? Jens Siegert gibt Antworten im Russland-Blog.

Eins hat Wladimir Putin geschafft: die ganze Welt muss auf ihn warten. Putin hat die Wahl. Im Grunde hat er drei Möglichkeiten:
Er macht weiter wie bisher und unterstützt die Freischärler in der Ostukraine mit Waffen, Freiwilligen und einer offenen Grenze.
Er beugt sich dem Druck aus dem Westen und lenkt ein. Oder er spitzt den Konflikt noch weiter zu und schickt reguläre russische Truppen zum „Schutz unserer Landsleute“ in die Ukraine.

Doch was sich zunächst wie eine komfortable Wahlmöglichkeit anhört, trügt: Putins Wahl ist zur Suche nach dem geringsten Übel geworden. Jede Entscheidung, die er jetzt trifft, ist mit hohen Kosten verbunden. Wie ist es dazu gekommen?

Zuerst die Vorgeschichte in Thesen:

  • Die russische Führung mit Präsident Putin an der Spitze verfolgt keinen strategischen Plan. Sie mag ein „großes Russland“, eine „wiedererstandene Großmacht“ vor Augen haben, vielleicht aber auch nicht. In erster Linie will sie an der Macht bleiben. Weil es schön und ertragreich ist, an der Macht zu sein; weil die russische Führung so viele Verbrechen begangen hat, dass sie gar nicht von der Macht lassen kann. Und weil sie davon überzeugt ist, dass nur sie das Land in eine „lichte Zukunft“ führen kann, auch wenn sie keine Ahnung, wie dieser Weg in die Zukunft eigentlich aussehen soll.
  • Die Politik der russischen Führung beruht also vor allem auf einem taktischen Kalkül. Probleme werden nur bearbeitet, wenn sie sich nicht mehr vermeiden lassen. Es gibt Menschen, die behaupten, das sei Putins Verständnis von Politik: keine großen Entwürfe, sondern die harte Arbeit am Alltäglichen. Seine Politik ist zwar reaktiv, aber bisher durchaus erfolgreich (auch wenn man sich darüber streiten kann, was in diesem Fall „Erfolg“ bedeutet).
  • Es gibt also keinen großen Plan, dafür aber eine fixe Idee: Souveränität. Souveränität im Verständnis der russischen Führung bedeutet, „von niemandem abhängig“ zu sein, also „souverän“ entscheiden zu können (ganz im Sinn des in Russland hoch geschätzten Carl Schmitt). Diese Idee führt das Land in die Isolation.
  • Das Projekt einer Eurasischen Union als Gegenstück zur Europäischen Union ist vor allem als Reaktion auf die Proteste des Winters 2011/2012 zu verstehen, die Putin als fundamentale Bedrohung der eigenen Macht empfundenen hat. Das heißt nicht, dass es das Projekt nicht schon vorher gegeben hätte, oder andere Motivationen denkbar wären (zum Beispiel ökonomische). Aber Putin hat das Projekt der Eurasischen Union erst zur Staatsraison erhoben, als er seine Macht durch die Proteste bedroht sah.
  • Erst Mitte 2013 verstanden die Entscheider im Kreml, dass es die EU in Bezug auf die Ukraine ernst meinte, als sie die Führung um Präsident Wiktor Janukowitsch vor die Entscheidung stellte, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterschreiben oder eben nicht. Der Kreml verstand, dass Janukowitsch (vor allem aus innenpolitischen Gründen) wohl unterschreiben würde. Daraufhin begann Russland erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben (Importstopps, verlangsamte Grenz- und Zollkontrollen, Rücknahme von Bestellungen bei ukrainischen Industrieunternehmen, etc.). Diese Daumenschrauben mitsamt eines Kredit-Angebots in Höhe von 15-Milliarden Dollar stimmten Janukowitsch um; beim EU-Gipfel in Vilnius Mitte November weigerte er sich, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Die EU war düpiert, der Kreml triumphierte.
  • Über die Eskalation der Proteste gegen diese Entscheidung auf dem Maidan ist ausführlich berichtet worden. Ich will das hier nicht wiederholen. Ich will und kann hier auch nicht die Frage diskutieren, wer für die Gewalteskalation mit den mehr als 100 ermordeten Menschen verantwortlich war (obwohl ich der russischen Führung dafür zumindest eine erhebliche Mitschuld geben würde). Diese Frage ist zwar wichtig, in erster Linie für die Angehörigen der Toten, aber auch für die Zukunft der Ukraine als Staat, sie spielt für die folgenden Entwicklungen keine Rolle. Wichtiger ist, dass der Kreml nach dem 21. Februar und der Flucht von Janukowitsch seinen „Kampf um die Ukraine“ erneut verloren hatte - und damit auch das Projekt Eurasische Union für die nahe Zukunft gestorben ist.

Die Folgen der Krim-Annexion

An dieser Stelle endet die Vorgeschichte. Es folgte die Annexion der Krim. Auch hier ist es nicht sonderlich wichtig, ob es schon seit längerem Pläne für eine solche Annexion gab, oder ob es sich dabei „nur“ um einen militärischen Notfallplan handelte. Wichtig für die weitere Entwicklung des Konflikts sind drei andere Aspekte:

  1. Die Besetzung und Annexion der Krim verlief aus Sicht der russischen Führung sehr erfolgreich, wahrscheinlich sogar viel erfolgreicher als erwartet. Der Westen zeigte von Anfang an kein Interesse an einem militärischen Eingreifen - wie ich finde, zu Recht. Die neue, noch im Aufbau begriffene ukrainische Führung fürchtete ebenfalls eine militärische Konfrontation. Die Unterstützung der Bevölkerung der Krim war hoch, auch wenn ihre Apathie und der Grimm auf die ukrainische Regierung in Kiew wohl noch größer waren. Vor allem aber übertraf die Unterstützung der Annexion in Russland selbst alle Erwartungen des Kremls. Diese Zustimmung hat viele Gruppen in ihrem Vorgehen bestätig: den Kreml selbst, russische Wehrsportgruppen, russische Hardcore-Nationalisten und Ostukrainer mit Wut auf Kiew.
  2. Der Kreml unter Wladimir Putin überschritt mit der Annexion der Krim eine rote Linie des Westens. Die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa als Garant für den sind für die meisten Politiker/innen in der EU, aber auch in den USA, nicht verhandelbar. Unbeantwortet bleibt für mich die Frage, ob das den Entscheidern im Kreml bewusst war oder nicht. Ich vermute, dass es das nicht war. Der Grund dafür dürfte in einer fundamental unterschiedlichen Bewertung des Zerfalls der beiden letzten Vielvölkerstaaten in Europa gelegen haben: der Sowjetunion und Jugoslawiens. Kurz gesagt, war es für die EU und die USA vor allem der serbische Versuch, die inneren Grenzen Jugoslawiens zu verschieben, der die Katastrophe der Balkankriege in den 1990er Jahren ausgelöst hat. Für die russische Elite, ebenso wie für einen Großteil der Bevölkerung, war der Auslöser die Auflösung Jugoslawiens selbst, betrieben durch „den Westen“. Der Staatszerfall wird in Russland seitdem als Akt gegen eine „natürliche“ serbische Vorherrschaft auf dem Balkan interpretiert und in einer Art Übertragungsleistung erst auf die Sowjetunion und inzwischen auch auf Russland projiziert. Mit der These von der „Auflösung Jugoslawiens durch den Westen“ erhalten vielen Menschen in Russland eine annehmbare Antwort auf die Frage, warum die Sowjetunion auseinander gefallen ist.
  3. Und vielleicht am wichtigsten: Wladimir Putin begründete die Annexion der Krim in seiner Anschlussrede vom 18. März 2014 im Kreml mit dem „Schutz unserer Landsleute“. Diese „national-patriotische“ Argumentation, die starke „völkische“ Anklänge hat, macht ihn heute zum Gefangenen seiner eigenen Worte (was Politiker normalerweise zu vermeiden suchen).

Putin hat damit in Russland, aber auch an anderen Orten (in der Ostukraine, in Nordkasachstan, im Osten Lettlands und Estlands, aber auch an Orten russischer Diaspora oder Auswanderung, wie Israel, der EU oder den USA) Hoffnung und Erwartungen geweckt, die er so einfach nicht mehr zurücknehmen kann. Das gilt umso mehr, als die radikalsten Forderungen sogenannter russischer „National-Patrioten“ (übrigens ein schöner Gegensatz zu den „National-Verrätern“ der Opposition, vor denen Putin in der Krimrede warnte) seit Monaten zum Mainstream der staatlichen Propaganda im Fernsehen gehören.

Hätte Putin dagegen die Krim-Annexion nicht mit einer eher mythischen „russischen Welt“, sondern realpolitisch begründet, zum Beispiel unter dem Aspekt der militärischen Sicherheit, was wegen Sewastopol und der Schwarzmeerflotte durchaus eine innere Logik gehabt hätte, dann wäre ein (Teil-)Rückzug heute mit geringeren politischen Kosten verbunden.

Black-Box Kreml

Diese drei Aspekte, zusammen mit einer der Euphorie geschuldeten Fehleinschätzung, dass in der ostukrainischen Bevölkerung die Unterstützung für das russische Vorgehen ähnlich groß sein werde wie auf der Krim, und schließlich dem Abschuss des Flugs MH17, haben Putin und sein Russland nun in die Lage gebracht, nur die Wahl zwischen schlechten Optionen zu haben.

Eine weitere Zuspitzung, ob nun durch einfaches Weitermachen oder den, unter welchem Vorwand auch immer, Einmarsch regulärer russischer Truppen, wird den Konflikt mit offenbar konfliktbereiten Westen weiter eskalieren. Ein Konflikt von dem, soweit das aus der Black-Box Kreml zu vernehmen ist, auch die russische Führung weiß, dass er nicht zu „gewinnen“ ist; auch nicht, wenn „Gewinn“ ausschließlich als Machterhalt im Inneren verstanden wird.

Denn ein Einlenken Putins wäre mit erheblichen Risiken verbunden. Zum einen ist da die systematisch angeheizte Stimmung im Land. Putin hat den national-patriotischen Geist aus der Flasche gelassen. Dessen Aggregatzustand befinde sich, wie mein Freund Jan Ratschinskij vom russischen Menschenrechtzentrum „Memorial“ treffend sagt, inzwischen irgendwo zwischen einer gesättigten und übersättigten Lösung. Diese fast schon chemische Reaktion zu stoppen mag unter großen Energieaufwendungen noch möglich sein, das ist zumindest zu hoffen. Es wird Putin aber einen großen politischen Preis kosten.

Kampf gegen den „inneren Feind"

Wie sich Putin auch immer entscheiden wird: Für die Opposition im Land, die NGOs und alle, die nicht in den national-patriotischen Chor einzustimmen bereit sind, werden die Zeiten noch härter werden als sie es ohnehin schon sind. Sollte Putin weiter auf Konfrontation mit dem Westen setzen, müsste die innere Mobilisierung gegen den „äußeren Feind“ mindestens auf dem jetzigen Niveau bleiben, vielleicht gar noch gesteigert werden. Dazu gehörte auch der „Kampf“ gegen den imaginierten „innere Feind“, gegen die schon in der Krimrede erwähnte „fünfte Kolonne“ und die „National-Verräter“.

Sollte er dagegen zurückziehen und (wenn vielleicht auch nur zeitweise) im Ukrainekonflikt einlenken, müsste er, um den dann zu erwartenden Vorwürfen, die „Landsleute“ in der Ostukraine „verraten“ zu haben, nicht mehr nur gegen die liberale Opposition vorgehen, sondern auch gegen die in den vergangenen Monaten erstarkten Nationalisten jeglicher Coleur (was hier durchaus wörtlich zu verstehen ist, da es sich bei Putins neuer Staatsideologie um eine modernisierte Variante des von Eduard Limonow und Alexander Dugin erfundenen „Nationalbolschewismus“ handelt). Das würde wiederum mehr Repressionen gegen alle bedeuten, die sich nicht fraglos dem politischen Kurs des Kremls unterordnen wollen oder können.

In diese Überlegungen habe ich bisher nicht die (macht-)politischen Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Machtelite einbezogen. Ich gehe davon aus, dass Putin zwar die unmittelbare Alleinentscheidungsgewalt hat, aber selbstverständlich in seine Entscheidungen Überlegungen darüber eingehen, inwieweit sie die Loyalität seiner Gefolgsleute beeinflussen könnten. Anders ausgedrückt, ist Putin zwar frei, zu entscheiden, aber weit weniger frei in seinen Entscheidungen.