Warum der Westen die Ukraine retten muss

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Ukrainische Truppen auf der Krim im März 2014

Viele staatliche, militärische und ökonomische Krisen in Europa, Asien oder Afrika erfordern zur Zeit die Aufmerksamkeit des Westens. Doch keine berührt so direkt die europäische Sicherheitsstruktur wie die eskalierende Konfrontation zwischen Moskau und Kiew. Und keine stellt derart demonstrativ das globale Nichtverbreitungsregime für Massenvernichtungswaffen infrage.

Als die Ukraine 1994 das Budapester Memorandum unterzeichnete, vertraute Kiew naiv den Sicherheitszusagen der USA und Großbritanniens. Die Atommächte sicherten der Ukraine territoriale Integrität und darüber hinaus politische sowie ökonomische Souveränität zu. Im Gegenzug verzichtete Kiew auf seine von der UdSSR übernommenen Atomwaffen. Zu den Unterzeichnern der Vereinbarung gehörte freilich auch Russland. Eigentliches Ziel des Dokuments war gleichwohl, die Ukraine vor russischem Irredentismus zu schützen.

Zwar war das damalige ukrainische Arsenal an Kernsprengköpfen nicht einsatzbereit. Doch es war zu dem Zeitpunkt größer als das  Chinas, Großbritanniens und Frankreichs zusammen. Innerhalb weniger Jahre wurde aus der Ukraine, wie im Budapester Memorandum vereinbart, ein vollständig nuklearwaffenfreier Staat.

Naives Vertrauen in die Sicherheitszusagen der USA und Großbritanniens

Russland jedoch hat, als vierter originärer Unterzeichner des Memorandums, dessen Kernvereinbarungen in den vergangenen zehn Jahren in vielfacher Weise verletzt. Bis 2013 übte Moskau immer wieder und unter Verletzung des entsprechenden Memorandumsparagraphen wirtschaftlichen und politischen Druck auf Kiew aus. Anfang dieses Jahres schließlich annektierte Russland die Krim mit militärischen Mitteln. Seit einigen Wochen hat Moskau darüber hinaus einen blutigen Separatistenaufstand angestiftet, bewaffnet und nicht zuletzt personell unterstützt. Die Reaktion des Westens auf diese offensichtlichen Verstöße war bislang verhalten und wurde lediglich im Gefolge des versehentlichen Abschusses eines malaysischen Passagierflugzeuges durch die von Moskau angestachelten und ausgerüsteten Separatisten etwas verschärft. Doch sind auch die aktuellen Sanktionen des Westens selektiv, vorsichtig und temporär. Warum muss sich das ändern?

Russlands Gesamtverhalten im postsowjetischen Raum, insbesondere aber die offene Annexion der Krim und die kaum verschleierte Invasion des Donbass im Verbund mit den ambivalenten Reaktionen des Westens auf diese Herausforderungen haben über das Krisengebiet weit hinausgehende Folgen. Denn die für Staatsführer der ganzen Welt lautet die Lehre aus den ukrainischen Erfahrungen nun: „Willst Du nachhaltige Sicherheit für dein Land, brauchst Du die Bombe. Und wenn Du die Bombe hast, gib sie niemals wieder her – was auch immer Dir bedeutende Politiker aus Washington, London oder Brüssel (ganz zu schweigen von Moskau) versprechen mögen.“

Nicht nur das Budapester Memorandum ist von den Entwicklungen eingeholt worden: Das Istanbuler OSZE-Dokument über den Abzug russischer Truppen aus der moldawischen Region Transnistrien von 1999, der Sarkozy-Plan von 2008 über einen militärischen Rückzug Russlands aus den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien, die Genfer Deklaration von 2014 über die Räumung öffentlicher Plätze durch die prorussischen Separatisten in der Ostukraine – alle diese multilateralen Vereinbarungen sind heute bedeutungslos. Unterzeichnet einerseits von Russland und andererseits von den USA, EU-Staaten und/oder internationalen Organisationen, sind sie zu wertlosen Stücken Papier geworden.

Die Welt ist nun gewarnt, dass Versicherungen selbst führender westlicher Mächte oder solcher Organisationen wie der OSZE oder der Europäischen Union wenig Bedeutung haben. Am Ende gilt: Solange ein Land keinen nuklearen Schutzschirm hat – entweder seinen eigenen oder den eines engen Verbündeten – stehen seine Integrität, sein Territorium und seine Unabhängigkeit infrage. Nur Massenvernichtungswaffen können volle Souveränität sichern, wenn es zur Konfrontation mit einem aggressiven Nachbarn kommt.

Mit seiner neoimperialen Politik gegenüber Moldawien, Georgien und Armenien hatte Russland das Souveränitätsprinzip im postsowjetischen Raum bereits seit Jahren aktiv unterlaufen. Doch der ukrainische Fall ist in vielerlei Hinsicht besonders mit Blick auf

  • das besondere Gewicht des Völkerrechtsverstoßes durch eine de jure Inklusion der Krim in den russischen Staat und nicht nur eine de facto Annexion, wie es noch bei Transnistrien, Abchasien und Südossetien geschah;
  • den beachtlichen Zynismus, mit dem der Kreml Begriffe wie „Faschismus“, „Junta“, „Genozid“, oder „Nazis“ benutzt, um die Euromaidan-Revolution zu diffamieren und auf diese Art seine Invasion in der Süd- und Ostukraine zu rechtfertigen;
  • die erstaunliche Dreistigkeit von Moskaus öffentlichen Lügen, Medienmanipulationen und Einmischungen bezüglich der sich europäisierenden Ukraine;
  • die unverblümte Rolle des Kremls bei der Provokation, Eskalation und Brutalisierung der Gewalt in der Ostukraine.

Russlands politischer, diplomatischer und militärischer Angriff auf Territorium, Souveränität und Identität der Ukraine stellt die internationale Ordnung der Staaten, das globale Nichtverbreitungsregime, die diplomatischen Standards nach dem Kalten Krieg und das Wertesystem der EU auf flagrante Weise infrage. Sowohl für die Sicherheit Europas als auch der Welt ist eine adäquate Reaktion auf den russisch-ukrainischen Konflikts ebenso bedeutend wie das Engagement bei der Lösung anderer großer Krisen in der Nachbarschaft der EU.

Trotz dieser Besonderheiten verhält sich der Westen gegenüber der russischen Subversion der Ukraine – wie schon gegenüber früheren ähnlichen Herausforderungen des Kremls – zurückhaltend, schwankend und verwirrt. Moskau hat die Angliederung der Krim entgegen allen Warnungen aus Washington, Brüssel, Berlin vollzogen. Die zögerlichen Strafmaßnahmen des Westen in den Wochen danach haben die Erosion des globalen Atomwaffen-Nichtverbreitungsregimes befördert. Die verhaltene westliche Reaktion war auch der Hintergrund für Russlands anschließende Politik gegenüber der Festlandukraine, die Anstachelung des blutigen Aufstandes im Donezbecken und die damit einhergehende weitere Unterwanderung der Sicherheitszusagen, die der Ukraine für die Abgabe ihrer Massenvernichtungswaffen einst gegeben wurden.

Russlands Politik der letzten Wochen zeigt, dass der Kreml an einer Lösung der Krise nicht interessiert ist und den Aufstand in der Ostukraine am Leben erhalten will. Offensichtliches Ziel des Kremls ist, den ostukrainischen Separatismus dazu zu nutzen, diese relativ russisch geprägte Region unter seinen direkten Einfluss zu bringen und den ukrainischen Staat als Ganzes zu destabilisieren. Mit dem Schüren eines Dauerkonflikts im Osten will Putin das Investitions- und Geschäftsklima in der gesamten Ukraine vergiften.

Damit würde nicht nur das finanzielle Fundament des ukrainischen Staates unterminiert werden. Auch die Partnerschafts- und Assoziierungspolitik der EU in Osteuropa wäre diskreditiert. Die antiautoritäre ukrainische Revolution wäre ebenso delegitimiert wie Brüssels Politik, europäische Werte, Gesetze und Praktiken in seiner östlichen Nachbarschaft zu verbreiten – sowie die allgemeine westliche Politik, Demokratie in Russlands „Hinterhof“ zu etablieren.

Das Ausmaß der russischen Konfrontation mit dem Westen ist ein Novum der postsowjetischen Ära. Es sollte dennoch nicht überraschen. Was für Russland auf dem Spiel steht in der Ukraine, ist nicht nur eine territoriale, identitäre oder geopolitische Frage. Putin und seine Entourage sind vielmehr innenpolitisch motiviert: sie wollen ihre Macht in Russland zu sichern und die Art ihrer Machtausübung legitimieren. Der Wettbewerb zwischen dem russischen und einem alternativen ukrainischen Entwicklungsmodell ist fundamental: Liberalismus gegen Patrimonialismus, ein offenes vs. ein geschlossenes Regime, eine pluralistische gegen eine monistische Gesellschaftsordnung. Eine umfassende und effektive Reformierung der Ukraine und ihre europäische Integration würden das russische Regime infrage stellen. Um dies zu verhindern, ist der Kreml bereit, den Frieden in Osteuropa zu opfern, die soziale Stabilität der Ukraine und die Herrschaft des Völkerrechts infrage zu stellen.

Frühere Versionen des Textes erschienen in Englisch auf der Webseite des „Harvard International Review“ sowie in Deutsch auf „Zeit Online“.