Die letzte Chance: der Ukraine läuft die Zeit für Reformen davon

Kiew, Ukraine
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Kiew, Ukraine

Entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg eines Staates sind seine Institutionen. Wenn die Ukraine erfolgreich sein will, muss sie ihre Institutionen grundlegend reformieren und so die politische und wirtschaftliche Partizipation breiter Bevölkerungsschichten ermöglichen.
 

In ihrem 2012 erschienenen und viel diskutierten Buch “Why Nations Fail” (in deutscher Übersetzung: “Warum Nationen scheitern”) analysieren der türkisch-amerikanische Ökonom Daron Acemoglu vom Massachusetts Institute of Technology und Politikwissenschaftler James A. Robinson von der Harvard University die Ursachen für den politischen und wirtschaftlichen Erfolg von Staaten und Nationen.

Die beiden Autoren gehen folgender Frage nach: Warum wurden in einigen Ländern hoher Lebensstandard, allgemeiner Wohlstand, gute Bildungsqualität und medizinische Versorgung erreicht sowie funktionierende soziale Sicherungssysteme aufgebaut, während in anderen Ländern nur ein kleiner Teil der Eliten von ihrer Stellung profitiert und der große Teil der Bevölkerung in Armut lebt. Sie glauben die Antwort auf diese Frage zu wissen: entscheidend sind sowohl für moderne Staaten als auch für die Beispiele aus der Geschichte die Institutionen und ihr Funktionieren.

Die inklusiven, also einbeziehenden wirtschaftlichen und politischen Institutionen ermöglichen eine breite Partizipation der Bürger und Bürgerinnen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, wodurch Wettbewerb in diversen Bereichen entsteht. Ein moderner, funktionierender, demokratischer und pluralistischer Rechtsstaat sorgt für den notwendigen Rahmen. Die exkludierenden oder ausschließenden Institutionen werden instrumentalisiert, um den Zugang zu den Ressourcen nur für einen kleinen Teil der Eliten zu öffnen. Sie können sich dabei bereichern, der beschränkte Zugang zu den Ressourcen führt jedoch zwangsläufig zu Korruption und zum Verschwinden der Anreize für die Unternehmen und Bürger/innen für Investitionen und Innovationen.

Das Buch führt zahlreiche Beispiele an. Unter anderem für Staaten, die aus demselben Kulturkreis kommen, sich aber durch unterschiedliche Institutionen auseinander entwickelt haben, wie Nord- und Südkorea. Die Ukraine, wie auch die anderen Staaten des postsowjetischen Raumes werden im Buch nicht explizit erwähnt, doch es ist klar, dass sie heute - mit Ausnahme der baltischen Länder - zu den Staaten mit den exkludierenden Institutionen gehören.

Die Situation in der Ukraine

Einige Thesen dieses Buches können auf die Gedanken des US-amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträgers Douglass Cecil North zurückgeführt werden, den interessanterweise auch Präsident Poroschenko in seiner Rede zur Präsentation der Reformstrategie 2020 am 25. September 2014 erwähnte. Das ambitionierte Reformprogramm ist zwar vom Konzept her richtig, wirft aber zwei grundsätzliche Probleme auf: Erstens lässt es aufgrund des Zeitpunktes Spekulationen über ein wahltaktisches Manöver kurz vor den Parlamentswahlen zu. Zweitens besteht die berechtigte Frage, warum eigentlich keine von den angekündigten Reformen seit März, also seit dem Machtwechsel, oder spätestens seit Anfang Juni nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten auf den Weg gebracht wurde. Das Ausbleiben der Reformen allein auf den Krieg zu schieben ist problematisch. Und deren weitere Verzögerung wird für das Land fatale Folgen haben.

Direkt nach dem Machtwechsel Ende Februar stand die neue ukrainische Regierung vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Sie musste einen Systemwechsel herbeiführen, und dies in einer der schlimmsten Wirtschafts- und Finanzkrisen, die das Land je durchgemacht hat. Der Ruf nach einem Systemwechsel war damals - und ist es bis heute - deutlich wie nie zuvor. Und das bedeutet viel. Alle Institutionen müssen von Grund auf reformiert werden. Die Gerichte, die Staatsanwaltschaft, die Polizei, der Nachrichtendienst, der Zoll, das Finanzamt... Die Liste der Behörden, die für das autokratische System die Unternehmer, die Opposition und die eigenen Landsleute schikaniert, erpresst, unter Druck gesetzt und ausspioniert haben, ist sehr lang.

Auch wenn einige Elemente des Systems nicht mehr aktiv instrumentalisiert werden, hat sich am System selbst nichts grundlegend geändert. Und schließlich wurde es nicht erst in der Zeit von Janukowytsch erfunden, sondern viel früher, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren mit der Entstehung des Oligarchen-Staates. Etwas später entstand auch der Begriff “Erpresserstaat” für solche Systeme, geprägt durch den US-Politikwissenschaftler Keith A. Darden. Unter Janukowytsch nahm das System jedoch besonders perverse Züge an und wurde auf die Bereicherung eines einzigen Clans, der “Familie”, umgeschaltet. Was zu großen Widerständen nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei den Eliten führte.

Der Einfluss Russlands

Die Ausgangslage für Reformen war schwierig genug, doch seitdem hat sich die Situation noch verschlimmert. Der Anschluss der Krim durch Russland und der Verlust der Kontrolle über einen Teil vom Donbas haben nicht nur die Schwäche der ukrainischen Streitkräfte, sondern auch die außenpolitische Hilflosigkeit der westlichen Welt offenbart. Der Druck aus Russland ist massiver denn je, die Versuche einer weiteren Destabilisierung der Lage werden unvermeidlich folgen, und selbst eine offene militärische Invasion ist nicht ganz ausgeschlossen. Der Krieg im Donbas und zigtausende von Flüchtlingen haben das Land tief traumatisiert. Das Problem der Energieversorgung und der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen ist nicht neu, stellt das Land in diesem Winter aber vor neue Herausforderungen. Der tiefe Fall der ukrainischen Währung geht Millionen Haushalten und großen Teilen der Wirtschaft an die Substanz. Und durch den Wahlkampf mit der anschließenden Koalitions- und Regierungsbildung wird weitere wertvolle Zeit verstreichen. Ist in dieser Situation überhaupt noch etwas zu retten?

Chancen für den Systemwechsel

Paradoxerweise bietet gerade das Ausmaß der Probleme die einzige Chance für den Systemwechsel. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass das Versagen des Staates nicht nur die Existenz der einfachen Bürger und Bürgerinnen, sondern auch die Existenz der Eliten gefährdet. Die treibende Kraft für den Systemwechsel muss die aktive Zivilgesellschaft zusammen mit Teilen der heutigen Eliten, die allesamt ihre Wurzeln im alten System haben, bilden.

Auch wenn mehrere Aktivisten und Aktivistinnen über verschiedene Parteilisten ins Parlament einziehen werden, wird ihr Einfluss ohne die Unterstützung aus der Gesellschaft gering sein. Nur mit der Gesellschaft kann die für den Systemwechsel erforderliche kritische Masse erreicht werden. Der Krieg im Donbas hat gezeigt, was die ukrainischen Bürger und Bürgerinnen durch ihren freiwilligen Einsatz erreichen können. Bei Engagement und Hilfsbereitschaft sind bisher keine Ermüdungserscheinungen festzustellen. Und trotzdem wird Kiew wohl keine andere Wahl bleiben, als durch das Einfrieren des Konflikts Schadensbegrenzung zu betreiben. Indem der Großteil der proukrainischen oder zumindest wirtschaftlich aktiven Bevölkerung die von den Separatisten kontrollierten Gebiete verlassen hat, wurde dort der “Tipping-Point” längst erreicht. Die unermesslichen menschlichen Tragödien können an der Tatsache nichts ändern, dass Kiew heute in diesen Regionen die Kontrolle nicht wiederherstellen kann.

Auch wenn Teile der Eliten offenbar bereit sind, mitzumachen, werden sie die Reformen nur bis zu einer bestimmten Grenze mittragen. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Eliten die Situation nicht einfach für die Umverteilung ihrer Macht und ihres Einflusses nutzen.

Doch der Widerstand des Systems, das nunmehr seit fast zwanzig Jahren perfektioniert wurde, bleibt enorm, wie der Kampf um das Lustrationsgesetz zeigt. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass nicht nur die Eliten bisher von diesem System profitiert haben, sondern dass es auch zu einer Anpassung der Verhaltensweisen und der Mentalität bei einem großen Teil der ukrainischen Bevölkerung geführt hat.

Die nächsten Monate werden entscheidend sein. Scheitern die Systemreformen oder werden sie nur halbherzig angegangen, droht sich das Land in einen permanenten Krisenherd zu verwandeln, mit einer sich vom Donbas her ausweitenden Konfliktzone, einer immer stärker von der russischen Erpressungen abhängigen Regierung in Kiew und kaum noch kontrollierbaren Protesttendenzen in der Gesellschaft. Dies alles sind Faktoren, die letztendlich zur Desintegration des Landes führen können.