Euromaidan goes Parliament

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Protestcamps auf dem Maidan in Kiew

Für die Parlamentswahlen in der Ukraine stehen erstmals auch Aktivist/innen des Euromaidan auf der Liste. Wer sind diese kritischen Stimmen der Zivilgesellschaft, die den Sprung in die Politik wagen?

Am 26. Oktober 2014 wird in der Ukraine ein neues Parlament gewählt. Insgesamt 450 Parlamentssitze werden jeweils zur Hälfte über Parteilisten und über Direktmandate vergeben. Erstmals seit der Unabhängigkeit der Ukraine stellt sich bei dieser Wahl auch eine größere Anzahl von Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Bereich der Zivilgesellschaft und der Medien zur Wahl. In einem Land, in dem Politik bisher weithin als schmutziges Geschäft und Politiker/innen generell als korrupt und ausschließlich am eigenen Vorteil interessiert galten, ist dies ein Novum. Gerade jene Aktivist/innen der Zivilgesellschaft, die jahrelang für eine demokratische Entwicklung der Ukraine gekämpft haben, konnten sich bisher nicht deutlich genug von „der Politik“ abgrenzen. Jetzt wagen einige von ihnen den Sprung ins Parlament. Aber wer sind diese Aktivist/innen, welchen Hintergrund haben sie, was verbindet sie? Ein Blick in die Biographien der wichtigsten Protagonist/innen kann einen Eindruck vermitteln, was ihre Metamorphose zum Politiker/zur Politikerin für die neue Ukraine bedeuten könnte.

28 KandidatInnen, 5 Listen, 2 Direktmandate: Who is who?

Die 28 prominenten Aktivist/innen und Journalist/innen kandidieren auf sechs Listen und zwei Direktmandaten. Nach den aktuellen Umfragen werden die Kandidat/innen der Listen Blok Poroschenko, Nationale Front (Narodnij Front), Vaterlandspartei (Batkiwschtschyna) und Zivile Position (Hromadianska Positsija) den Einzug in das Parlament schaffen. Neun zivilgesellschaftliche Akteure kandidieren auf den Listen der Samopomitsch (Selbsthilfe) sowie der aus der Zivilgesellschaft hervorgegangenen Syla Ljudei (Stärke des Volkes). Beide Parteien liegen in den aktuellen Umfragen deutlich unter fünf Prozent und verfehlen damit sehr wahrscheinlich den Einzug in das Parlament. Zwei Kandidat/innen bewerben sich um ein Direktmandat im ostukrainischen Charkiw.

Biographischer Hintergrund der Kandidat/-innen

Die meisten der genannten Aktivist/innen sind um 1980 geboren; sie stammen aus verschiedensten Landesteilen der Ukraine – von Luhansk über die Krim bis Uschhorod – und viele von ihnen sind zum Studium nach Kiew gegangen und wurden hier aktiv. Von den insgesamt 28 Akteuren sind 13 Journalist/innen und 15 Aktivist/innen; zehn weitere Kandidat/innen sind sowohl Journalist/in als auch Aktivist/in. Fünf Kandidat/inen verfügen bereits über Parlamentserfahrung – zumeist auf kommunaler Ebene (Hazko, Schabunin, Luzenko, Solontai); nur ein früherer Journalist (Schewtschenko) ist bereits Abgeordneter der Werchowna Rada.

In der Analyse der Biographien fallen aber nicht nur Ähnlichkeiten in Bezug auf Alter, beruflichen Hintergrund und Engagement auf. Es wird auch deutlich, dass die zivilgesellschaftlichen Kandidat/innen über bestimmte NGOs, Kampagnen, Initiativen oder Medien eng miteinander verbunden sind. Zunächst waren zwölf Kandidat/innen sehr aktiv in die Euromaidan-Proteste involviert – zum Beispiel als Initiator (Najem), als Koordinator des zivilen Sektors des Euromaidan (Jednak), als Koordinatorin der Kampagnenkommunikation in den Sozialen Netzwerken (Salischtschuk), als Organisator/in regionaler Euromaidane (Tschystylin, Sawynska) oder als Leiterin des Medizinischen Koordinierungszentrums (Bohomolez).

Doch enge Verbindungen gerade zwischen den Protagonist/innen des Euromaidan bestanden auch schon in den Jahren zuvor. Zunächst beteiligten sich viele von ihnen bereits an den Protesten der Orangenen Revolution, die als zentrales politisches Sozialisationereignis gelten kann. Zentral für die Vernetzung und Kooperation war im darauffolgenden Jahrzehnt besonders die Kampagne Stop Censorship!, welche gegen die Zensur und die Einschränkung der Pressefreiheit vor allem in den staatlichen Massenmedien kämpfte. Dieser von der NGO Centre.UA und hier insbesondere von Switlana Salischtschuk im Jahr 2010 hervorgerufenen und organisierten Kampagne schlossen sich 570 ukrainische Journalist/innen und Medienschaffende sowie 135 zivilgesellschaftliche Organisationen an. Neun dieser Journalist/innen kandidieren nun für das Parlament. Sieben Journalist/innen der Kampagne zählten zugleich zur Kerngruppe des Euromaidan – die Überscheidungen zwischen diesen beiden Bereichen des Engagements sind am größten.

Eine dritte wichtige Basis einer möglicherweise gemeinsamen politisch-kritischen Sozialisation ist die renommierte unabhängige Internet-Zeitung Ukrainska Prawda: Sieben Journalist/innen, die heute für das Parlament kandidieren, haben dort als Journalist/innen bzw. Blogger gearbeitet und/oder frei publiziert. Auch hier gibt es einige Überschneidungen mit der Kampagne Stop Censorship und der Euromaidan-Kerngruppe (jeweils vier).

Weitere Medien, die als zivilgesellschaftliche „Basis“ der Kandidat/innen gelten können, sind der Fernsehsender 5. Kanal, den Poroschenko 2003 gründete und der bisher als einer von zwei unabhängigen und kritischen Sendern galt, sowie das erst 2013 gegründete Internetfernsehprogramm Hromdske.TV. Die NGO Institute of Mass Information, ein weiterer Akteur für den Erhalt der Pressefreiheit, ist ebenfalls eine Hintergrund-Organisation, in der zwei Aktivistinnen tätig waren.

Aus den NGO-Netzwerken hat sich in der Folge des Euromaidans zudem eine NGO namens Reanimation Package of Reforms (RPR) gegründet. Diese Organisation versteht sich als Koordinationsplattform für etwa 20 thematische Arbeitsgruppen zu spezifischen Reformen. In den Arbeitsgruppen sind insgesamt mehr als 100 Experten aus verschiedensten NGOs und Think Tanks beteiligt. Die Aktivitäten der Plattform umfassen die Organisation und Koordination der wöchentlichen AG-Treffen, Lobby- und Pressearbeit für die jeweiligen Reformen sowie die Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen. Die Plattform kooperiert mit einem interfraktionellen Arbeitskreis des ukrainischen Parlaments. Fünf Aktivist/innen der Kerngruppe des RPR kandidieren für das Parlament – drei davon allerdings auf den aktuell wenig aussichtsreichen Plätzen der Liste Samopomitsch.

Neben den Organisationen fallen zwei Themen auf, die viele Aktivist/innen und Journalist/innen verbinden: in der Korruptionsbekämpfung engagierten sich sieben Kandidat/innen, und zwei weitere waren aktiv in der Umsetzung einer umfassenden Lustration.

Interessant ist auch eine weitere Gemeinsamkeit von vier Aktivist/innen: Switlana Salischtschuk, Serhij Leschtschenko, Mustafa Najem und Andrij Schewtschenko nahmen an einem Fellowship-Programm der Universität Stanford teil, welches Demokratisierung, Entwicklung und Rechtstaatlichkeit thematisierte. Auch wenn alle vier in unterschiedlichen Jahren dort waren, ist die gemeinsame Erfahrung dieses Programms und eine damit zusammenhängende mögliche ähnliche politische Prägung eine bemerkenswerte biographische Übereinstimmung, zumal dieses Programm die Stärkung relevanter zivilgesellschaftlicher Akteure zum Ziel hat.

Schließlich sollte noch bemerkt werden, dass einige Aktivist/innen eigene Parteien gegründet haben. Die Syla Ljudei von Oleksandr Solontai schliesst sich keiner der etablierten Wahllisten an, sondern kandidiert alleine – was einerseits für den Unabhängigkeitsanspruch der Partei stehen dürfte, andererseits aber auch die Frage nach den Überlebenschancen der jungen Partei aufwirft.

Auf den fünf genannten Wahllisten werden die Parteien Demokratische Allianz durch drei und Wolja (Freiheit) durch fünf Kandidat/innen vertreten. Die Demokratische Allianz, die aus einer Jugend-NGO hervorging, hat sich mit der Liste der Zivilen Position zusammengetan, während die Wolja-Mitglieder auf verschiedenen Listen kandidieren.

Einzel-Engagements der Kandidat/innen

Neben diesen von mehreren Aktivist/innen geteilten Zugehörigkeiten sind die genannten Kandidat/innen in einer Reihe von weiteren Organisationen und Initiativen aktiv, die den gemeinsam geteilten biographischen Hintergrund der Gruppe individuell ergänzen. Beispielsweise ist Oleksij Riabtschyn einer der Organisatoren des Ukraine Crisis Media Center, das seit dem Euromaidan täglich internationale Pressekonferenzen ukrainischer Politiker/innen und Aktivist/innen anbietet und koordiniert. Witalij Schabunin leitet seit 2011 die NGO Zentrum gegen Korruption und war Abgeordneter im Stadtrat im westukrainischen Riwne. Oleksandr Tschernenko ist der Leiter der sehr renommierten Wahlrechts- und Wahlbeobachtungs-NGO Komitee der Wähler der Ukraine. Ihor Luzenko ist der Gründer der Initiative Save Old Kiev, die sich – überwiegend ehrenamtlich – für den Erhalt historische Bausubstanz in Kiew und gegen den Abriss durch Investoren einsetzt. Oleksandr Solontai gründete die NGO Stiftung regionaler Initiativen, die lokalpolitische Initiativen stärkt, sowie im Jahr 2013 die Partei Syla Ljudei, die als sehr basisdemokratisch organisiert gilt. Olena Sotnik verteidigt als Juristin die Interessen der Familien der auf dem Euromaidan getöteten Aktivisten. Darüber hinaus arbeiten einige der Kandidat/innen (Syroid, Sumar, Schkrum, Klympusch-Zinsadse) als Expert/innen in ukrainischen Think Tanks und Projekten zur Beratung der Legislative.

Bedeutung der Aktivistinnen-Netzwerke für die ukrainische Politik

Die vielfältigen Überschneidungen der zivilgesellschaftlichen Engagements zeigen, dass die Kandidat/innen schon seit langer Zeit und in vielen verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft gemeinsam aktiv waren, und dass sie ein relativ dichtes Netzwerk bilden – man kennt sich untereinander. Einige Personen ragen als besonders intensiv vernetzte Akteure heraus: Switlana Salischtschuk und (mit einigem Abstand) Jehor Sobolew können als zentrale Figuren des Netzwerks betrachtet werden, die in sehr viele Aktionen eingebunden waren. Aufgrund dieser vielfältigen Verbindungen sind sie am meisten dazu in der Lage, andere Personen zu vernetzen, Ideen und Informationen im Netzwerk zu verteilen und die Mitglieder des Netzwerks für gemeinsame Aktionen zu mobilisieren. Für die gemeinsame Arbeit der Zivilgesellschafts-Kandidat/innen im Parlament ist das eine gute Voraussetzung.

Zudem können die Kandidat/innen aufgrund ihrer guten Vernetzung auf eine große Wissensbasis zugreifen. Innerhalb des Netzwerks können beispielsweise die Experten des Reanimation Reforms Package in wenigen Schritten über die zentralen Personen erreicht werden, sodass bei Bedarf Beratung der Legislative bzw. einzelner Abgeordneter akquiriert werden kann. Damit ist eine effektive Zusammenarbeit zwischen der wissensorientierten Zivilgesellschaft (Think Tanks etc.) und den zivilgesellschaftlichen Abgeordneten denkbar.
Die zivilgesellschaftlichen Biographien zeigen, dass die meisten Kandidat/innen in zwei oder mehr NGO, Medien etc. aktiv waren und sich daher mit verschiedenen Inhalten sowie mit zivilgesellschaftlichem Management auseinandergesetzt haben. Gerade Kandidat/innen wie Hanna Hopko, Switlana Salischtschuk, Jehor Sobolew oder Ihor Luzenko verfügen über breit gefächerte Erfahrungen im Kampagnenmanagement, in der Mobilisierung, im Umgang mit Behörden oder Polizei. Diese Fähigkeiten werden – unabhängig von Inhalten – bei der Durchsetzung der Reformagenda im Parlament notwendig sein.

Einige der zentraleren Akteure haben im Laufe ihrer Kandidatur betont, dass ihr eigenes Handeln  als Abgeordnete ebenso kritisch von der Zivilgesellschaft beobachtet werden sollte, wie sie dies als Aktivist/in oder Journalist/in zuvor selbst auch getan haben. Gerade angesichts des relativen Machtpotenzials der zentralen Akteure innerhalb der Gruppe zivilgesellschaftlicher Kandidat/innen erscheint eine kritische Begleitung ihrer durch Medien und Zivilgesellschaft auch sehr angemessen.

Für jene Akteure, die aufgrund der Fünfprozenthürde den Einzug in die Rada verpassen, ergibt sich aus den engen Netzwerkstrukturen eine gute Möglichkeit, verstärkt als Vermittler zwischen der Zivilgesellschaft und dem Parlament zu agieren. Die Syla Ljudei könnte ihre außerparlamentarische Zeit nutzen, um die basisdemokratischen Strukturen der Partei ohne den Effizienzdruck der täglichen Politik zu festigen und sich zunächst auf kommunale Parlamente zu konzentrieren.

Es ist nicht zu erwarten, dass zwanzig bis dreißig Aktivist/innen der Zivilgesellschaft die parlamentarische Arbeit in der Ukraine grundlegend verändern können. Aufgrund ihrer gemeinsamen Biographie im gesellschaftspolitischen Raum wird sich aber möglicherweise eine neue Form der Zusammenarbeit von reformorientierten Abgeordneten entwickeln, die die Belange der Euromaidan-Proteste in das Parlament hineinträgt. Die Aktivist/innen wissen, worauf es bei den Reformen ankommt, damit nicht wieder die Fehler passieren und sich Probleme einstellen, welche sie lange selbst bekämpft haben. Die Chancen stehen gut, dass sie die politische Kultur in der Rada verändern und die Erwartungen der Gesellschaft an eine Erneuerung der Ukraine in die Politik tragen werden.


Die Analyse beruht auf Daten aus der Dissertation der Autorin sowie auf einer ausführlichen Recherche zu den vorgestellten Personen. Bei Bedarf kann ein Quellen- und Literaturverzeichnis nachgefragt werden: worschech@europa-uni.de

Diese Studie wurde in ausführlicher Form als Sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse erstmals veröffentlicht in den Ukraine-Analysen Nr. 138, 15.10.2014, Hg.: Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen und Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde und in den Ukraine-Analysen Nr. 138 vom 15.10.2014.

Eine Liste aller Kandidat/innen, finden Sie hier.
Liste der Aktivist/innen bei der Ukrainewahl 2014