Die tunesischen Parlamentswahlen: Ein Überblick über die wichtigsten Parteien

Wahlplakate in Tunis
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Wahlplakate vorm Institut der Schönen Künste in Tunis

Am 26. Oktober finden in Tunesien die ersten Parlamentswahlen nach der Revolution statt. Wer kämpft um Mandate? Eine Vorstellung der Kandidaten und Parteien im tunesischen Wahlkampf.
 

Mit den Parlamentswahlen am 26. Oktober finden in Tunesien die zweiten freien Wahlen in der Geschichte des Landes statt. Nach der Revolution und der Flucht des autoritär regierenden Präsidenten Ben Ali wurde am 23. Oktober 2011 die Nationale Verfassungsversammlung gewählt, die zunächst innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten sollte: Dies gelang der Versammlung Anfang 2014 – allerdings nur mithilfe außerparlamentarischer Vermittlungen. Dabei spielte unter anderem der Gewerkschaftsdachverband UGTT eine wichtige politische Rolle.

Nun stehen für die junge Demokratie gleich mehrere Wahlen an: Den Parlamentswahlen folgen am 23. November die Präsidentschaftswahlen und voraussichtlich die Präsidentschaftsstichwahlen Ende des Jahres. Zu den Parlamentswahlen im Oktober haben sich ca. 13.000 Kandidaten auf 1.300 Wahllisten in 27 Wahlbezirken Tunesiens aufstellen lassen. Dazu kommen noch sechs Auslandswahlbezirke, unter anderem ein Bezirk in Deutschland, durch den einer der 217 Sitze des neuen Parlaments besetzt wird.

Das neue politische System räumt dem Parlament weitgehende Kompetenzen ein, integriert aber auch präsidiale Züge. (siehe im Einzelnen: "Das politische System Tunesiens" von Chawky Gaddes in diesem Dossier). Damit scheint ein Kompromiss gefunden: Während der politischen Polarisierung des Jahres 2013 favorisierte vor allem die islamistische Ennahda Partei ein parlamentarisches System. Ihre Gegner, insbesondere die im Moment offenbar stärkste politische Kraft Nida Tounes (Der Ruf Tunesiens), auf ein präsidiales System setzten. Ennahda stellt nun in allen Wahlbezirken Kandidat/innen aus den eigenen Reihen auf, während andere Parteien eher über lokale Schwerpunkte verfügen beziehungsweise. auf starke und charismatische Einzelpersonen setzen.

Was hat sich seit 2011 geändert?

In den Parteien hat sich seit 2011 die politische Elite des Landes neu formiert. Einige Parteien existierten vor der Revolution, viele im Untergrund, zahlreiche andere wurden neu gegründet. Bekannte Aktivist/innen und jetzige Entscheidungsträger/innen wurden vor der Revolution politisch verfolgt. So hatte beispielsweise Ali Larayedh, Premierminister der von Ennahda geführten Übergangsregierung zwischen März 2013 bis Januar 2014, zehn Jahre in Einzelhaft verbracht. Ebenso wurde Hama Hamami, Sprecher der ehemaligen kommunistischen Partei und jetziger Vertreter der Volksfront, über 15 Jahre politisch begründeter Haft und Folter ausgesetzt (zu den sozialen, ökonomischen und familiären Verbindungen der politischen Elite siehe Artikel: „Verwandt, verschwägert, verhasst“ von Sarah Mersch in diesem Dossier).

Kaum vier Jahre nach dem Sturz des Polizeistaats stellt sich die Frage, ob es den Parteien wirklich gelungen ist, politischen Akteuren einen zentralen Rahmen zu bieten: Die Parteien sind noch längst nicht in der tunesischen Gesellschaft verankert. Ihre Programme bleiben häufig allgemein, sind teilweise schwer zu unterscheiden. Die Öffentlichkeit nimmt vor allem ihre zentralen Führungspersonen und deren lokale Vertreter wahr. Auch wenn die kommende Regierung wahrscheinlich durch eine Parteienkoalition gebildet wird, hat bereits jetzt die Debatte über eine mögliche Regierung der „nationalen Einheit“ begonnen: Diese könnte Vertreter anderer Akteure mit einschließen. Dazu zählen Gewerkschaften, der Unternehmerverband, Berufsverbände sowie nicht Partei-gebundene Einzelpersonen.

Von den ca. 1.300 Wahllisten mit geschätzten 13.000 Kandidat/innen sind nur ca. zwei Drittel durch Parteien aufgestellt oder mit Parteimitgliedern besetzt. In vielen Bezirken sind Parteien nicht vertreten. Weiterhin haben sich Kandidat/innen mit aussichtlosen Listenplätzen von ihrer Partei losgesagt und unabhängige lokale Listen aufgestellt.

Ein anderes Phänomen ist die Vergabe von Listenplätzen der Parteien an lokal bekannte Persönlichkeiten: Vertreter großer Unternehmen oder Repräsentanten weit verzweigter Familien mit klientelartigen Verbindungen. Die Zugehörigkeit zu einem großen Familienverband bedeutet häufig auch Zugang zu ökonomischen Netzwerken. So hat beispielsweise die Partei Joumhouri in der durch Chemie-Industrie geprägten Stadt Gabes den ersten Listenplatz nicht an den lokalen Vorsitzenden ihres Politbüros, sondern an den Unternehmer Abderrazak Chine vergeben Chine verfügt r über Beschäftigungsintensive Firmen im Bausektor . In der Stadt Jendouba hingegen hat die gleiche Partei den charismatischen Journalisten Mouldi Zouabi nominiert, der sich mit seinen Recherchen zu militanten islamistischen Untergrundgruppen einen landesweiten Ruf als Verteidiger individueller Grundrechte erarbeitet hat.

Wer steht zur Wahl?

Wie stark sich Parteien in dem neuen politischen System als Akteure durchsetzen, wird nicht zuletzt an der Wahlbeteiligung abzulesen sein. Bei der Wahl 2011 machten mit vier Millionen Wähler/innen etwas mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Während der Registrierungsphase für die jetzigen Wahlen sind ca. 1.3 Millionen potentielle Wähler/innen hinzu gekommen. Damit sind ca. 70 Prozent der Wahlberechtigten registriert

Aber für wen können sie sich entscheiden? Im Folgenden werden die neun wahrscheinlich wichtigsten politischen Parteien und Bewegungen der Parlamentswahl vorgestellt.
 

- Nida Tounes (Der Ruf Tunesiens):

Gegründet 2012 durch Beji Caid Essebssi, der in der Zeit vor Ben Ali zahlreiche politische Positionen innehatte und vor der Wahl 2011 die zweite Übergangsregierung leitete. Nida Tounes gab sich zunächst als alternatives Sammelbecken zu der islamistischen Ennahda: Die Spannbreite ihrer Mitglieder reicht dabei von Vertretern des alten Regimes über führende linke Gewerkschaftler, links-liberale Intellektuelle bis hin zur Wirtschaftselite. Die Partei stellt sich als Kraft der politischen Mitte dar und sieht ihre Wurzeln in der Verfassungsbewegung (Doustourien) des ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit 1956, Habib Bourguiba, dem Ben Ali 1987 folgte. Sie präsentiert sich in einer dynamischen Kampagne als Partei mit Kernkompetenzen in Ökonomie und technischer Modernisierung.

Nida Tounes spricht die liberale Mittelschicht an, bezieht ehemalige Funktionäre und Bürokraten des alten Regimes mit ein und scheint als einzige Kraft in der Lage, der besser organisierten Ennahda den Wahlsieg abzunehmen. Ihre Kampagne hat die Partei stark auf die Führungsfigur des 87-jährigen Essebssi ausgerichtet: Er repräsentiert den Mythos des autoritären Übervaters Bourguiba, in dessen Regierungszeit Tunesiens sogenannter Sonderweg begründet wurde. Essebssi selbst tritt am 23. November trotz seines hohen Alters als Präsidentschaftskandidat an.

In der Vorbereitung auf die Wahlen haben die linken und explizit säkularen Vertreter innerhalb der Nida Tounes an Einfluss verloren. So hat der Generalsekretär Tayyeb Baccouche, ehemaliger Vorsitzender des Gewerkschaftsverbandes und Vertreter des linken Flügels, den wichtigen Listenplatz in der Stadt Sousse nicht angetreten. Ebenso wenig gelang es der bekannten Anwältin und Frauenrechtlerin Bochra Ben Hamida auf dem ersten Listenplatz im Bezirk Tunis nominiert zu werden.

- Die Ennahda Bewegung:

Im Oktober 2011 ist die Ennahda Partei mit 89 Abgeordneten als größte Fraktion in die Verfassungsversammlung eingezogen. Gemeinsam mit den kleineren Parteien „Congres pour la Republique“ (CPR) und der sozialdemokratischen „Ettakatol“ bildete sie die sogenannte Troika Regierung der Übergangsphase 2012 und 2013. Während Ennahdas Wahlkampagne 2011 noch Fragen nationaler und religiöser Identität in den Mittelpunkt stellte, tritt die Partei 2014 mit einem auf sozio-ökonomische Fragen zugeschnitten Programm an. Dabei steht der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut sowie eine wirtschaftsliberale Steuerreform und die Förderung des Wachstums durch Investitionen weit oben auf der Agenda. Ennahda wirbt außerdem für die Entwicklung eines islamischen Finanzsystems. Obwohl die Partei in der Öffentlichkeit für Missmanagement und inkompetente Regierungsführung in der Übergangsphase verantwortlich gemacht wird, stellt sie sich als Garant der Transition dar, unter dessen Führung eine freiheitliche Verfassung verabschiedet wurde. Ennahda betont bei ihren öffentlichen Auftritten, dass sie nicht anstrebe, gegen eine gesellschaftliche Mehrheit zu regieren. Vielmehr wolle sie eine Koalition mit anderen politischen Kräften bilden. Der Parteivorsitzende Rached Ghannouchi hat während der Wahlkampagne eine Koalition mit Nida Tounes selbst für den Fall, dass Letztere Vertreter des alten Regimes beteiligt, nicht ausgeschlossen.

- Le Congrès pour la République (CPR) (Kongress für die Republik):

Von dem Menschenrechtler Moncef Marzouki im französischen Exil gegründet, gehörte der CPR vor den Wahlen 2011 zu den wichtigsten politischen Kräften. Die deutliche Beteiligung an den politischen Führungsgremien der Transitionsphase (Präsidentschaft, Regierung und Verfassungsgebende Versammlung) hat die Partei allerdings stark geschwächt. 17 ihrer 29 gewählten Abgeordneten haben die Fraktion verlassen. Zwei haben neue Parteien gegründet. Der CPR wurde als Oppositionspartei zum alten Regime gegründet. Sein Hauptziel war der Sturz Ben Alis und die Aufarbeitung der Diktatur durch Reformen des Sicherheits- und Justizsektors sowie der Kampf gegen die Korruption. Der CPR stellt sich weiterhin vehement gegen die Einbeziehung von Vertretern des alten Regimes in gegenwärtige Strukturen. Ideologisch ordnet sich der CPR als arabisch-nationale linke Partei ein, die öffentlich Position gegen die Programme des IWF und der Weltbank bezieht.

- Ettakatol (Forum démocratique pour le travail et les libertés) (Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit):

1994 von Mostapha Ben Jaafar als sozialdemokratische Alternative zu den traditionellen Linken gegründet, setzte sich Ettakatol in der Opposition gegen das Ben Ali-Regime und für den Dialog mit den islamistischen Kräften, insbesondere Ennahda, ein. Inhaltlich steht sie für den Kampf gegen soziale Ungleichheit und ein sozial gerechteres Wirtschaftswachstum. In der Regierungskoalition mit Ennahda hat Ettakatol einen beträchtlichen Teil ihrer Anhängerschaft verloren, obwohl Mostapha Ben Jaafar als Präsident der Verfassungsversammlung eine entscheidende Führungsposition innehatte Zehn ihrer 20 Abgeordneten haben die Partei verlassen. Es gelang der Partei während der Polarisierung zwischen Ennahda und der Opposition im Jahr 2013 nur unzureichend, ihrem politischen Umfeld den Verbleib in der Regierungskoalition zu begründen.

- Afek Tounes (Perspektiven Tunesiens):

Nach der Revolution gegründet, steht Afek Tounes für ein liberales Wirtschafts- und Gesellschaftsprogramm. Die Partei gewann vier Sitze in der Verfassungsversammlung. Nach den Wahlen ging sie zunächst eine Allianz mit der ehemaligen Oppositionspartei unter Ben Ali „Parti Démocrate Progressiste“ (PDP) und der Republikanischen Partei ein, um mit „Al Joumhouri“ (der Republikanischen Partei) eine demokratische Kraft der gesellschaftlichen Mitte zu bilden. Einige Monate später spaltete sich Afek Tounes wieder ab. Sie stellt sich heute als moderne, westliche und junge Kraft dar. Ihr Programm enthält politisch-liberale Positionen wie eine detaillierte Steuerreform und die Förderung von individuellen Initiativen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Partei wendet sich nicht an eine größere Wählerschaft, kann aber als Nischenpartei durchaus Bedeutung erlangen.

- L'Union pour la Tunisie (UPT) (Union für Tunesien):

Die Union kleinerer linker Parteien mit ehemals kommunistischem Hintergrund wird von der „Al-Massar“ (Der demokratische und soziale Weg) geführt. Sie verfügt in der Verfassungsversammlung über insgesamt 10 Sitze, von denen fünf Al-Massar gehören. Bei den Wahlen 2011 sind die Mitglieder als „Pole Democrate et Moderniste“ mit einem linken und vor allem explizit säkularistischem Programm angetreten, das sich in ihrem Wahlprogramm 2014 weiterhin niederschlägt. Al-Massar setzt sich für Emanzipation, Garantie individueller Rechte und soziale Gleichheit ein. Von ihren Gegnern wird Al-Massar und die UPT abfällig als „Salon-„ oder „Kaviar-Linke“ bezeichnet, weil sie unter anderem eine urbane Bevölkerung mit frankophonem Bildungshintergrund vertritt.

- Le Front populaire (FP) (Volksfront):

Die Volksfront wurde 2012 gegründet und umfasste ursprünglich 12 Parteien und Splittergruppen mit traditionell linkem und arabisch-nationalem Hintergrund. Zu dem Bündnis gehört unter anderem eine politisch unbedeutende Splittergruppe der pro-syrischen Baath-Partei. Der Sprecher der Volksfront, Hamma Hammami von der kommunistischen Arbeiterpartei war einer bekanntesten Oppositionellen im Kampf gegen die Ben Ali Diktatur. Die Front gewann 2011 drei Sitze in der Verfassungsversammlung. Sie erlangte durch ihre konsequente Ablehnung der Ennahda-Regierung ein größeres politisches Gewicht. Die beiden politischen Attentate des Jahres 2013, die den Verlauf der Transition entscheidend veränderten, richteten sich gegen ihre Abgeordneten: Chokri Belaid und Mohamed Brahmi. Die Front verfolgt ein explizit linkes Programm für einen säkularen Staat und mehr staatliche Regulierungen zur Förderungen eines sozial ausgeglichenen Wirtschaftswachstums. Sie steht ihren eigenen Worten nach „gegen die Wiederkehr der Diktatur unter dem Vorwand der Religion oder des Neo-Liberalismus."

- Al Joumhouri (Parti Républicain) (Die Republikanische Partei):

Al-Joumhouri ist aus der ehemaligen Oppositionspartei gegen Ben Ali „Parti Démocrate Progressiste“ (PDP) hervorgegangen. Diese wurde bereits 1983 von Ahmed Néjib Chebbi gegründet. Al-Joumhouri hat verschiedene andere Bewegungen gemeinsam mit der PDP integriert. Von den zunächst 16 Abgeordneten sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieben in der Partei verblieben. Aufgrund seiner Gegnerschaft gegen Ben Ali ist Ahmad Néjib Chebbi ein prominenter Präsidentschaftskandidat. Das politische Programm von Al-Joumhouri umfasst die Forderung der Dezentralisierung staatlicher Verwaltung, Garantie der öffentlichen Sicherheit, eine Reform des Steuersystems und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

- l'UPL (l'Union Patriotique Libre) (Freie Nationale Union):

Die populistische UPL wurde 2011 von dem Großunternehmer Slim Riahi gegründet. Riahi hat sein offensichtlich enormes Vermögen in Libyen erlangt, wo seine Eltern während der Ben Ali Zeit im Exil lebten. Seine Gegner sagen ihm nach, einst gute Verbindungen zum Sohn Mu´ammar Gaddhafis, Saif al-Islam, gehabt zu haben. Die Union ist mit zwei Abgeordneten in der Verfassungsversammlung vertreten. Ihr Programm ist extrem populistisch, insbesondere in ihrer Rhetorik für den Kampf gegen den Terrorismus. Darüber hinaus setzt die UPL sich für günstige Investitionsbedingungen für ökonomische Großprojekte ein.
 

Mitarbeit: Selim Kharrat