Klytschko, UDAR und Kiew: Ein problematisches Dreieck

Witalij Klytschko
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Bislang schaffte es Klytschko, seine Partei zu einen - das könnte nun schwieriger werden

Mit den ukrainischen Parlamentswahlen verschieben sich die Machtverhältnisse – auch für die UDAR in Kiew. Dort ist die Partei von Bürgermeister Klytschko gespalten und umstritten. Eine Analyse.

Noch vor ein paar Monaten sah Kiews Zentrum wie ein Schlachtfeld aus. Nun ist die Stadt fast vollständig zum normalen Leben zurückgekehrt. Von Zeit zu Zeit blockieren Demonstranten das Regierungsviertel, die mit der ihrer Meinung nach zögerlichen Politik des Präsidenten im Osten des Landes nicht einverstanden sind oder von der Wechowna Rada, dem ukrainischen Parlament, schnellere Reformen gegen die Korruption verlangen. Aber insgesamt sind die Kiewer wieder bei den altbekannten Problemen des Großstadtlebens angekommen.

Und die sind keineswegs kleiner geworden – trotz der Wahl eines neuen Bürgermeisters, des Boxweltmeisters und Vorsitzenden einer der drei gegenwärtig regierenden Parteien, Witalij Klytschkos. In seinem öffentlichen Bericht zu den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit im Kiewer Stadtparlament gibt es kaum konkrete Beispiele für eine erfolgreiche Politik der neuen Stadtregierung. Eine Vorlage für zivilgesellschaftliche Aktivisten und politische Konkurrenten: Sie nutzen das Fehlen sichtbarer Erfolge, um ihre Kritik an der Personalpolitik des Bürgermeisters und seinen Regierungsentscheidungen zu erneuern.

Nicht besser ist die Situation Klytschkos innerhalb seiner Partei UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen). Nach Meinung politischer Beobachter verfügte sie zwar direkt nach der Flucht Janukowytschs unter den Siegern der „Revolution der Würde“ über die beste Ausgangsposition. Allerdings konnte sie diesen Vorsprung nicht nutzen: Gegenwärtig sind die Perspektiven für den Erhalt von UDAR im aktuellen Format oder gar für eine Weiterentwicklung eher schlecht.

Die Identitätskrise der UDAR

Für Beobachter, die mit den Begebenheiten in der Werchowna Rada vertraut sind, war es kein Geheimnis: Vor allem die Autorität Witalij Klytschkos in der Fraktion und dessen allgemeine Popularität hielten die UDAR im Parlament zusammen. Allerdings wurde die Identitätskrise von der Partei nach einigen unglücklichen Schritten offensichtlich. Besonders deutlich wurde dies, nachdem die UDAR eine Beteiligung an der Reformregierung unter Arsenij Jazenjuk ausschlug und sich Witalij Klytschkos zugunsten des Bürgermeisterpostens in der ukrainischen Hauptstadt von der Parlamentspolitik verabschiedete.

Damit einher ging die faktische Aufgabe der eigenen Identität der Partei zugunsten einer politischen Zusammenarbeit mit der Kraft des Präsidenten Poroschenko. Die Unbestimmtheit der ideologischen Plattform, der „Anführertyp“ der Partei und die vielfältige bis widersprüchliche Zusammensetzung ihres Abgeordnetenkorpus haben die Stabilität der politischen Kraft Witalij Klytschkos weiter geschwächt.

Die Entscheidung von UDAR, nicht an Jazenjuks „Kamikaze“-Regierung teilzunehmen, die nach der Flucht Janukowytschs und seiner Minister gebildet wurde, schien Anfang Sommer noch weitsichtig. Es war ein Versuch, angesichts der Wirtschaftskrise und der Annexion der Krim die eigenen Umfragewerte zu wahren. Er führte allerdings, anders als geplant, nur zu einem Verschwinden der UDAR-Politiker aus den Medien, die sich nun vor allem den „Anti-Krisen-Ministern“ zuwandten. Auch die größer werdende Unzufriedenheit unter denjenigen UDAR-Mitgliedern, die auf Posten in der neuen Regierung gehofft hatten, schuf neue Probleme.

Die darauf folgende Vereinbarung mit Poroschenko, Klytschko nicht als Präsidentschaftskandidat antreten zu lassen, verstärkte die Spaltung in der Partei weiter: Auf der einen Seite hat sich eine Gruppe UDAR-Abgeordneter um dem Parteivize Witalij Kowaltschuk an den neu gewählten Präsidenten angenähert – sie wollte die Parlamentspolitik fortsetzen. Kowaltschuk leitete dabei sogar den Stab für Poroschenkos Präsidentschaftswahlkampf. Eine andere Gruppe Abgeordneter, die vor allem aus Kiewer Unternehmern und persönlichen Freunden Klytschkos bestand, richtete ihre Bemühungen auf die Kontrolle der Hauptstadt aus – denn sie war mit ihrer Tätigkeit in der Werchowna Rada nicht allzu zufrieden. Ihr inoffizieller Anführer ist Pawlo Rjabikin, enger Freund Klytschkos und Leiter seines Wahlkampfstabs für die Bürgermeisterwahlen. Im Parlament hat er sich dadurch „ausgezeichnet“, dass er keinen einzigen eigenen Gesetzesentwurf einbrachte.

Witalij Klytschko selbst hat offensichtlich einen Platz in der „Kiewer“ Gruppe eingenommen. Andere Abgeordnete scheinen dadurch umso motivierter, Plätze in der Wahlliste Poroschenkos anzustreben. In solch einer Situation gab es praktisch keine Alternative zum Beitritt in den Block des Präsidenten für die vorgezogenen Parlamentswahlen vom 26. Oktober 2014. Ob es Klytschko gelingt, seinen Einfluss auf die zukünftigen UDAR-Mitglieder zu wahren, die über die Liste Poroschenkos in die Rada gelangen, bleibt jedoch abzuwarten. Besonders schwierig dürfte es für Klytschko werden, diejenigen zu kontrollieren, die keine Geschäftsinteressen in Kiew haben. Davon aber hängt das weitere Schicksal der Partei ab.

Klar ist außerdem, dass die Kandidatur Klytschkos auf dem ersten Platz des Blocks Petro Poroschenko eine reine PR-Aktion ist: Klytschko plant nicht, in nächster Zeit den Posten des Bürgermeisters der Hauptstadt zu verlassen.

Ein neuer Bürgermeister mit alten Kadern

Kiew war für Witalij Klytschko immer interessanter als die Werchowna Rada. Schon zweimal hatte er in der Vergangenheit versucht, dort Bürgermeister zu werden. 2006 hatte er – noch ohne eigene Parteiorganisation und allein durch sein Selbstbewusstsein – den zweiten Platz bei den ordentlichen Bürgermeisterwahlen erlangt. Lediglich dem skandalumwobenen Leonid Tschernowetzkyj gelang es, den schon damals populären Klytschko zu schlagen. Bei den außerordentlichen Neuwahlen 2008 landete Klytschko schließlich auf dem dritten Platz. Im Vorfeld hatte er sich nicht mit Oleksander Turtschynow, dem jetzigen Parlamentsvorsitzenden und damaligen Kandidaten der in Kiew populären Oppositionspartei Batkiwtschyna (Vaterland) von Julia Tymoschenko einigen können. Im Endeffekt nahmen sich so beide gegenseitig die Stimmen weg. Der Sieg musste dem amtierenden Bürgermeister überlassen werden.

2013 wurden die Befugnisse des zu Janukowytschs „Familie“ gehörenden loyalen Kiewer Stadtparlaments künstlich um zwei Jahre bis 2015 verlängert: Anstelle eines gewählten Bürgermeisters wurde ein aus der Präsidialadministration entsandter Beamter als Leiter der Stadtverwaltung eingesetzt. So gelang Janukowytsch, Kiew direkt unter seiner Kontrolle zu halten – gerade die Kiewer waren ja die Triebkraft der Orangenen Revolution gewesen, die Janukowytsch 2004 das Präsidentenamt verwehrte. Möglich wurde dieses Vorgehen durch Unstimmigkeiten in der Gesetzgebung, Demonstrationen für Neuwahlen im Sommer 2013 brachten keinen Erfolg. So konnte diese Forderung erst nach dem Sieg der Revolution und der Flucht Janukowytschs erfüllt werden.

Für Klytschko verliefen die Wahlen in der Hauptstadt, die gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen nach sehr kurzer Vorbereitungszeit durchgeführt wurden, überaus erfolgreich. Bei der Direktwahl des Bürgermeisters erlangte Klytschko einen überzeugenden Sieg. Mit Leichtigkeit holte er 56,7 Prozent der Wählerstimmen. Noch erfolgreicher für ihn verliefen die Wahlen zum Stadtparlament – hier erhielt seine Partei UDAR 75 von 120 Sitzen. Sowohl die neuen „außersystemischen“ Parteien, die während des Euromaidan populär geworden waren, als auch Batkiwtschyna und Swoboda, UDARs alte Verbündete vom Euromaidan, haben dagegen nur eine formelle Vertretung im Stadtparlament oder konnten gar keinen ihrer Kandidaten entsenden. Schließlich gab das Abkommen über die Unterstützung Poroschenkos bei den Präsidentschaftswahlen Klytschko die Möglichkeit, ohne Einmischung der Präsidialadministration in der Hauptstadt zu regieren.

Allerdings rief die „Qualität“ der Abgeordneten, die Klytschko über seine Liste in das Parlament brachte, wie auch seine ersten Personalentscheidungen einen Schwall der Kritik hervor. Sowohl die ehemaligen Verbündeten und jetzigen Konkurrenten als auch die Zivilgesellschaft protestierten: Nach Schätzungen von zivilgesellschaftlichen Aktivisten können mindestens dreißig UDAR-Abgeordnete mit Korruption in Verbindung gebracht werden. Zehn von ihnen waren Mitglieder des skandalösen Teams des vorherigen Bürgermeisters Tschernowetzkyj. Die Hoffnungen der Kiewer auf eine Erneuerung und Aufwertung der städtischen Legislative erfüllten sich also nicht.

Auch die Personalentscheidungen des Rathauses riefen Kritik hervor: Hier besetzte Klytschko Schlüsselposten mit Interessenvertretern großer Baukonzerne oder mit ihm gegenüber loyalen Parlamentsabgeordneten. Auf diese Weise wurde der bekannte Bauunternehmer Ihor Nikonow als erster Stellvertreter eingesetzt – ihn bringen die Medien mit dem Business-Imperium des zu Janukowytsch loyalen Oligarchen Dmytro Firtasch in Verbindung. Zum zweiten Stellvertreter wurde der oben bereits erwähnte Pawlo Rjabkin ernannt. Nach unseren Informationen koordiniert er parallel zur Arbeit in der Stadtverwaltung diejenigen Abgeordneten im Parlament, die sich noch an Witalij Klytschko orientieren. Andere Personalentscheidungen wurden ebenfalls aufgrund von möglichen Interessenskonflikten der neuen Stadtbediensteten heftig kritisiert.

Getanes und Vergessenes

Trotz der zweifelhaften Personalpolitik muss man jedoch auch einige Erfolge des neuen Bürgermeisters erwähnen: So gelang es Klytschko, vergleichsweise konfliktfrei das Stadtzentrum von Kiew von den Resten der Barrikaden und Zelte zu befreien, die Gehälter im öffentlichen Dienst auszuzahlen und Bauvorhaben an einigen Verkehrsknotenpunkten endlich abzuschließen. Außerdem schaffte er es, den Kampf gegen ein altes Problem des städtischen Wohlbefindens zu beginnen – die provisorischen Verkaufsbuden, die nicht nur das Stadtbild stören, sondern auch seit vielen Jahren eine Quelle von Bestechungseinnahmen für Beamte in Kontrollbehörden darstellen.

Allerdings waren diese Erfolge eindeutig zu klein. Die Effektivität des Vorgehens gegen die Verkaufsbuden, die Parteisprecher breit als Erfolg des neuen Teams ausgaben, erwies sich als sehr gering. Obwohl die sichtbarsten Anhäufungen von Kiosken an den Metrostationen tatsächlich aufgelöst wurden, ist der größte Teil dieser Buden nur in die Schlafstädte und auf große Plätze ausgewichen. Das wiederum rief dort Proteste von Aktivisten hervor, die mit einer solchen Nachbarschaft nicht einverstanden sind. Solche mittelmäßigen Erfolge der neuen Stadtregierung verwundern nicht allzu sehr. Ein weiterer Sponsor von UDAR, Walerij Ischtschenko, wird mit gerade diesem Geschäftsfeld in Verbindung gebracht.

Ein außerordentlich großes Problem für den neuen Bürgermeister ist außerdem die Verwaltung der Wohnhäuser und die winterliche Heizsaison. Diese chronischen Probleme drohen schon jetzt das Image Klytschkos als erfolgreicher Bürgermeister endgültig zu ruinieren. Fast die Hälfte der Kiewer war fast den ganzen Sommer ohne warmes Wasser. Und dabei zeichnen sich die Hauptstadtbewohner dadurch aus, dass sie landesweit am zuverlässigsten für die Nebenkosten bezahlen. Entgegen der häufigen Versprechen Klytschkos, dieses Problem zu lösen, haben immer noch 27 Prozent der Kiewer kein warmes Wasser, obwohl sie dafür gezahlt haben. Hinzu kommt, dass die Tarife trotz schlechter Wirtschaftsentwicklung nicht aufhören zu steigen.

Man muss jedoch einräumen, dass eine Reform des ohnehin undurchsichtigen Zahlungssystems für Nebenkosten in der Hauptstadt seit einigen Monaten so gut wie unmöglich ist. Schließlich ist der Monopolist in der Energieversorgung, „Kiewenergo“, der unter anderem der Holding des Donetzker Oligarchen Rinat Achmetow gehört, nicht zu Zugeständnissen an die neue Stadtregierung bereit. Deshalb kann auch das Problem der steigenden Tarife und des extrem niedrigen Levels der Energieeinsparung in nächster Zeit wohl nicht gelöst werden. Ein kalter Winter kann den immer noch guten Umfragewerten Klytschkos unter den Hauptstadtbewohnern also einen endgültigen Schaden zufügen.

Noch mehr als die Probleme mit den Mietnebenkosten gefährden Klytschko jedoch die ständigen Skandale um die Privatisierung von Boden. Mehrfach profitierten davon Strukturen, die mit Geschäftsleuten aus dem Umkreis des Rathauses in Verbindung stehen. Obwohl die neuen „Euromaidanparteien“ nur eine kleine Vertretung im Stadtparlament haben, erlauben ihre engen Beziehungen zu Bürgerinitiativen, Journalisten und Antikorruptionsbewegungen aus fast jeder Sitzung des Stadtparlaments, in der es um zweifelhafte Privatisierungen geht (und solche gibt es genug), einen Kampf gegen Korruption in der aktuellen Kiewer Regierung zu machen. Dass der Landkataster nicht einsehbar und die Privatisierung von Grundstücken undurchsichtig ist sowie dass ein Dialog mit der lokalen Zivilbevölkerung fehlt, hat das Vertrauen in die Kiewer Regierung in dieser Frage nicht gerade erhöht. Regelmäßige Fehltritte in der Öffentlichkeit – wie der von Witalij Klytschko bei seinem letzten Besuch in Deutschland – haben seinem Image als kompetenter Politiker und Verwaltungschef weiter geschadet.

Eine risikoreiche Zukunft

Doch schon nächstes Jahr könnte die neue Werchowna Rada neue Wahlen in Kiew anberaumen, um endlich alle Lokalwahlen im Land zu synchronisieren. Angesichts der unbestimmten Zukunft der Partei, in der ein Teil der wichtigsten Mitglieder faktisch in der politischen Kraft des Präsidenten aufgegangen ist, gilt die Zukunft Klytschkos im gesamtukrainischen Maßstab als sehr viel unsicherer als noch vor einem Jahr, vor dem Beginn des Euromaidans.

Trotzdem ist für Klytschko noch nicht alles verloren: Um Reputationsverluste der letzten Monate ein wenig kompensieren, müsste er sich vor allem für drei Dinge einsetzen. Zum ersten braucht es mehr Transparenz in den Tätigkeiten der städtischen Verwaltungsorgane, zum zweiten eine funktionierende Antikorruptionspolitik und zum dritten den Beginn eines echten Dialogs mit Vertretern der Zivilgesellschaft – wenn schon nicht beim für die engen Berater Klytschkos „schmerzhaften“ Thema Landverteilung, dann wenigstens bei den allgemeinen Prinzipien der Stadtverwaltung.

Die Verantwortung für die katastrophalen Zustände bei der Energieversorgung könnte Klytschkos Team außerdem auf den Krieg mit Russland abwälzen und auf das damit verbundene gesamtukrainische Defizit an Energieträgern verweisen.
Noch in der letzten Legislaturperiode zeichnete sich die UDAR-Fraktion in der Rada durch ein Ausbalancieren der Vertreter des großen Business, der „alten Freunde“ und der Repräsentanten der Zivilgesellschaft aus. Aber ob Klytschko sein Team unter den neuen Bedingungen weiter zusammenhalten und – viel wichtiger – qualitativ erneuern kann, bleibt offen.

Übersetzung: Jakob Mischke