Eine kleine Anthropologie des Gerüchts

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Schon ein Tweet kann einem Gerücht Superkräfte verleihen.

Ausgeschmückte, übertriebene oder frei erfundene Erzählungen verbreiten sich wie Lauffeuer, seid wir uns Geschichten erzählen. Durch die sozialen Netzwerke sind sie mächtiger als je zuvor.

„Klatsch“, „Tratsch“, „Geschwätz“: Es gibt viele Namen für das Phänomen des Gerüchts. Mittlerweile sind die zahlreichen Formen, die Gerüchte annehmen können, sowie deren Folgen für Gruppen und Individuen weithin bekannt. Das gesamte Ausmaß ihrer Auswirkungen bleibt jedoch schwer zu verstehen. Was steht am Anfang eines Gerüchts? Welche Formen nehmen Gerüchte an? Welche Methoden und Verstärkungsfaktoren sind notwendig, um ein einfaches Gerücht in ein gesellschaftliches Phänomen mit unvorhersehbaren und oft verheerenden Konsequenzen zu verwandeln? Welche Rolle spielen Wahrheit und Verifizierung für die Überlieferung von Informationen?

All diese Fragen veranlassen uns, uns zunächst mit den Ursprüngen von Gerüchten und mit deren Hauptmerkmalen, die Soziologen und Anthropologen in ihren Bann ziehen, auseinanderzusetzen. Danach werden wir sowohl die Methoden der Verbreitung von Gerüchten untersuchen als auch die neuen Herausforderungen der digitalen Revolution, die am sichtbarsten in sozialen Netzwerken und sogenannten „Nachrichtenseiten“ sind, ergründen.

Die Ursprünge und Grundlagen von Gerüchten

Die Verbreitung von Gerüchten kann als Austauschprozess von Informationen, deren Wahrheitsgehalt noch nicht festgestellt ist, definiert werden. Gerüchte entstehen gleichzeitig am Rande von “Fakten“ und im Innersten von alltäglichen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen. Sie sind eingebunden in politische, ökonomische und finanzielle Strukturen.

Andere Quellen beschreiben Gerüchte anhand ihrer Hauptmerkmale als kurzlebige Phänomene, brüchig und unbeständig zugleich. Dennoch verbreiten sich Gerüchte durch den Prozess des Austausches von einer Person oder Gruppierung zur nächsten. Zudem verfestigen sie sich durch die Folgen ihrer Verbreitung.

Die Verbreitung eines Gerüchts bedeutet somit die Erfassung und Verwendung einer Nachricht, indem man ihr eine weitere Schicht zuschreibt, bevor man sie an Einzelpersonen, Gruppen oder Medien weiter kommuniziert. Dieser Prozess der Verbreitung durch die Übertreibung oder teilweise Verzerrung einer nicht-bestätigten Sachlage ist keine neue Erscheinung. Als gesellschaftliches Phänomen par excellence fanden Gerüchte stets ihren Ursprung im alltäglichen menschlichen Verhalten und wurden durch vorgefasste kulturelle, politische und geschichtliche Auffassungen bestärkt.

Gerüchte können sich in kurzen Pressemeldungen einnisten, sich dann verbreiten und in epischen Ausmaßen entfalten. Sie können auch als Folge einer starken kollektiven Emotion entstehen. So wie es etwa im Jahr 1955 der Fall war: Damals kehrte Sultan Mohammed V., der Großvater des gegenwärtigen Königs von Marokko, Mohammed VI., aus dem Exil zurück. Aufgrund eines Gerüchts, das sich mittlerweile zu einer nationalen Legende entwickelt hat, glaubten die Marokkaner zum Zeitpunkt der Rückkehr des Sultans, sein Antlitz im Mond erkennen zu können. Dieses Traumbild sollte sich bald in der Kollektivphantasie von Millionen von Marokkanern festsetzen und sich als Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gegenüber den europäischen Kolonialmächten beweisen.

Zwischen Angst und Euphorie

Bei Gerüchten handelt es sich also um komplexe kollektive Konstrukte, die sich im Spannungsfeld zwischen Archaismus und Moderne, Vergangenheit und Gegenwart, Angst und Euphorie, Momenten des Zweifelns und Gefühlen der Überlegenheit entfalten. Sobald ein Gerücht entstanden ist, wird es „hungrig“: Es verschlingt den Kontext, in dem es sich gebildet hat, einschließlich der Sorgen, Ängste, kulturellen Mythen, gesellschaftlichen Instanzen und Frustrationen aller Art.

Das Beispiel des sogenannten Jihad Al-Nikah, des sexuellen Dschihad, ist in dieser Hinsicht bezeichnend für das Zusammenspiel von Frustrationen und Gerüchten. Im Dezember 2012 twitterte der saudische Sheikh Mohammed al-Arefe, dass es Frauen erlaubt sei "mehrere Dschihadisten nacheinander für einige Stunden zu heiraten, um die Krieger in ihrer Kampfmoral zu stärken und die Pforten zum Paradies zu öffnen." Obwohl diese Aussage sofort von dem saudischen Sheikh geleugnet wurde, verbreitete sie sich in der arabischen Welt wie ein Lauffeuer. Die staatlichen Medien in Syrien zelebrierten sie regelrecht.

Im September 2013 trieb der tunesische Innenminister Lotfi Benjeddou das Gerücht noch auf die Spitze. Er behauptete, dass tunesische Frauen nach Syrien gereist seien, um den islamistischen Gotteskriegern ihre Dienste im "sexuellen Dschihad" feil zu bieten. Im April 2014 wurde ein Bild des jungen saudischen Mädchens Aisha, das angeblich für den "sexuellen Dschihad" nach Syrien gereist war, auf einer iranischen Website (Bultan News) veröffentlicht. Wenige Tage später enthüllten Blogger jedoch die wahre Identität der „jungen Aisha“ – sie ist Pornodarstellerin.

Dieses Gerücht, entstanden aus einem falschen Tweet und blitzartig verbreitet, macht Einiges deutlich. Es zeigt, wie eine Nachricht, die weder geprüft noch verifiziert wurde, vom Frust einer breiten und doch homogenen Masse genährt wurde und schließlich beinahe globale Dimensionen annahm. Kurz gesagt: Es offenbart den Entwicklungsprozess, der zwischen der Entstehung und Verbreitung von Gerüchten liegt – in Geschichten, die die Runde machen, in Klatsch und Tratsch. Dazu gedichtete Details verzerren oder überspitzen ein Gerücht, das wie ein gefräßiges Ungetüm alles verschlingt, was sich ihm in den Weg stellt und unzählige Male wiederkäut.

Die Einzelpersonen, die Gerüchte verbreiteten, verschaffen sich Selbstbestätigung, indem sie sich als gleichzeitig als Informationsquelle und Bezugspersonen für andere inszenieren. Wie eine Gerücht entsteht, erhellt die Beziehungen zwischen der Einzelperson und dem Kollektiv. Sie beeinflussen sich gegenseitig, verarbeiten und verstärken Informationen. Im Kontext dieser gesellschaftlichen Dynamik wurden sämtliche Bedenken durch neue Möglichkeiten der Kommunikation und des Informationsaustausches nochmals auf den Kopf gestellt.

Methoden der Verstärkung und neue Herausforderung

Gerüchte, so heißt es, seien die ältesten Medien der Welt. Sie waren immer allgegenwärtig in menschlichen Beziehungen und Gesellschaften. Die Geschichte der Menschheit bezeugt, dass Gerüchte gesellschaftliche Entwicklungen schon immer begleitet haben, sei es im chinesischen Reich, Afrika südlich der Sahara oder Westeuropa. So galt zum Beispiel unter der chinesischen Bevölkerung lange Zeit die Chinesische Mauer als das einzige Bauwerk auf Erden, dass auch auf vom Mond aus sichtbar sei. In Subsahara-Afrika wurden mehrere Männer gelyncht, weil ein Gerücht besagte, dass die Penisgröße der Männer verringern können, die ihnen die Hand schüttelten.

Im 19. Jahrhundert wurde durch die Industrialisierung, die Vervielfältigung der Kommunikationsmöglichkeiten und die damit einhergehende schnellere Verbreitung von Nachrichten, das Gerücht global. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich das Gerücht zum Propagandainstrument, das die Nazis perfektionierten.

Die Wechselwirkung zwischen einem starken Bild und einem schonungslosen, einfachen, aber deutlichen Text kann die Effektivität der Gerüchteküche ankurbeln. Ein Gerücht kann das Image oder gar die Karriere eines Politikers zerstören. Während Barack Obamas erster Präsidentschaftskampagne äußerten seine Gegner Zweifel an seiner Geburt in den Vereinigten Staaten, um ihn politisch zu schwächen. Die gewaltige amerikanische Medienmaschinerie verbreitete dieses Gerücht, die sozialen Netzwerke taten ihr Übriges zur Verbreitung im öffentlichen Raum.

Die Medien sind dafür verantwortlich, Informationen zu verifizieren. Doch ob eine Nachricht richtig oder falsch ist, liegt nicht mehr exklusiv in ihrem Ermessensspielraum. Ein neuer Akteur ist auf der Bildfläche erschienen: der Internetnutzer. Er oder sie kann bloggen, Webmaster einer Website oder einfach jemand, der einen Account bei einem der zahlreichen sozialen Netzwerke besitzt. Seine Macht, Nachrichten zu liefern, zu verbreiten oder zu erfinden, ist beachtlich. Der Webuser kann Nachrichten manipulieren, indem er sie aufbläht und somit verzerrt. Zugleich können sich Gerüchte mittlerweile in Sekundenschnelle global entfalten.

Im Juli 2014 verbreiteten mehrere Webuser das Gerücht, eine bewaffnete Gruppe von Libyern hätten den Flughafen von Tripoli erobert und zwei Kampfflugzeuge in ihre Gewalt gebracht. Außerdem bedrohe diese Gruppe nicht nur Tunesien und seine Nachbarländer, sondern alle Staaten des Maghrebs.

In einem Tweet vom 25. August 2014 wurde der Tod des US-amerikanischen Schauspielers Sylvester Stallone bekannt gegeben. Nachdem die Seite microblogging dieses Gerücht verbreitet hatte, löste es ein weltweites Mediengewitter aus, dem schließlich nur die Familie des Schauspielers ein Ende setzen konnte. All dies geschah innerhalb nur eines Tages.

Ohr-zu-Mund-Syndrom

Gerüchte verbreiten sich nicht nur über soziale Netzwerke und die sogenannten Massenmedien (Fernsehen, Radio, Zeitungen). Sie entfalten sich auch in alltäglichen und informellen Begegnungen, wie in Empfängen und Meetings. Hierbei handelt es sich um bevorzugte Orte für den Austausch und die Verbreitung von Gerüchten und Nachrichten, deren Wahrheitsgehalt durchaus fraglich ist. Dazu kommen Büros, Kantinen und Cafés, in denen Millionen von kleinen Geschichten ausgeschmückt und weitererzählt werden. Zahlreiche Mini-Gerüchte, die auf den Familienkreis, den Arbeitsplatz, den lokalen Raum, das Dorf begrenzt sind, breiten sich ungehemmt aus. Wir alle leiden an einem chronischen "Ohr-zu-Mund-Syndrom", für das bestimmte Leute besonders anfällig sind. Keine gesellschaftliche Schicht, keine Berufsgruppe, kein politischer oder intellektueller Kreis kann sich ihm entziehen. Nicht einmal Nachrichtenexpert/-innen. In einer Welt, in der Ungewissheit und Wettkampf herrschen, ist das "Es-heißt" eine schnell abrufbare Funktion.

Eine Geschichte, ein Manuskript, einige Schlagwörter und Akteure sowie ein kohärentes narratives Konstrukt, dies sind die Faktoren, die die Verstärkung und Eskalation von Gerüchten beeinflussen. Verstärkung fällt unter die psychologische Tendenz des "Nachschenkens" oder des "Dazugebens" kleiner Dosen von Übertreibungen in die Gerüchteküche, das annehmbare Bruchstück einer Lüge, mit der man sich vom Rest abheben kann. Eine der größten Herausforderungen, mit der wir uns heute konfrontiert sehen, ist die schiere Masse an Informationen. Um sicherzustellen, das Gerüchte in einer Welt, in der sich beinahe jeder Zugang zu Daten verschaffen kann, nicht Überhand gewinnen, ist die Mitwirkung von Nachrichtenspezialist/-innen, die Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, eine absolute Notwendigkeit. Die etablierten Medien - Presseagenturen, Zeitungen, 24h-Nachrichtenkanäle, Radiosender, etc. - müssen ihrer Rolle gerecht werden, denn ausgeglichene, verifizierte und geprüfte Nachrichten haben ihren Preis. In erster Linie müssen die etablierten Nachrichtenanbieter unabhängig und darüber hinaus mit den nötigen materiellen und menschlichen Ressourcen ausgestattet sein.
 

Aus dem Englischen von Christina Sell

Dieser Text ist eine Übersetzung aus englischsprachigen Publikation Perspectives Middle East #7: Rumours.