Die Geschichte des politischen Gerüchts in Syrien

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Aleppo 1982

Yassin Al Haj Saleh hat die Wirkung politischer Gerüchte in Assads Syrien am eigenen Leib erlebt. Er schildert deren Wirkungsweise aus persönlicher Perspektive.

Nur wenige Wochen nach unserer Verhaftung kam das Gerücht auf, man werde uns bald wieder freilassen. Das war in den 1980er Jahren und wir waren politische Gefangene. Unsere Besucher, beziehungsweise, die Besucher, die einige von uns hatten, sagten: ‚Man hört, die Gefangenen sollen anlässlich des Fests des Fastenbrechens begnadigt werden’ oder ‚anlässlich des Jahrestages der Korrekturbewegung’ (wie der Staatsstreich von Hafiz al-Assad vom 16. November 1970 genannt wird) oder anlässlich der ‚Erneuerung des Gelöbnisses’ (wie die alle sieben Jahre stattfindenden Abstimmungen über Hafiz al-Assads Präsidentschaft hießen). Diese Informationen stammten angeblich entweder von einem Offizier eines der Sicherheitsorgane, einem führenden Mitglied einer der religiösen Gruppen, einem wichtigen Bankier – und manchmal, so hieß es, stammte die ‚Nachricht’ sogar von einer anonymen Quelle ‚aus dem Palast’.

1. Gerüchte als Beruhigungsmittel

Wir saßen im Hauptgefängnis von Aleppo, das sich in Muslimiya befindet. Meist waren wir an die Hundert und allesamt Anhänger von politischen Bewegungen, die gegen das Regime arbeiteten. Förmliche Rechte hatten wir keine, alles spielte sich nach alter Sitte ab. Besuche waren zugelassen, wurden im Februar 1982 aber schlagartig verboten (etwa um die Zeit des Massakers von Hama). Auch in den Jahren 1987/88 waren Besuche zwanzig Monate lang nicht gestattet. Während all dieser Jahre hatten wir weder rechtlichen Beistand noch halfen uns Menschenrechtler. Bis Frühjahr 1992 wurden wir weder irgendeines Vergehens beschuldigt, noch wurden wir angeklagt. In meinem Fall bedeutete das, ich saß nach meiner Festnahme für elf Jahre und vier Monate in Haft. Am Wesentlichsten war, dass wir nicht wussten, wie lange wir einsitzen würden – einige Monate? Jahre? Vielleicht sogar lebenslang? Vielleicht würden wir hier sterben! Wir wussten es nicht, und auch unsere Familien hatten keine Ahnung.

Dies war der Hintergrund, vor dem die ersten Gerüchte über unsere bevorstehende Freilassung aufkamen. Es gab keine Informationen, keine für unsere Angelegenheiten vertrauenswürdige Quelle. Die einzige Alternative zu Informationen mit namentlich bekannter Quelle waren Gerüchte, von denen man nicht wusste, woher sie stammten. Der Glaube, den man einer Information schenkt, entspricht dem Glauben an die Quelle.

Dieser Mangel an Informationen belastete unsere Familien sehr. Im Sommer 1986 verbrachte meine Mutter einen ganzen, langen Tag vor dem Eingang des Militärgeheimdienstes in Aleppo, um herauszufinden, was aus ihrem dritten Sohn geworden war – und sie brachte nichts in Erfahrung. Im Winter 1995 hielten sich meine Geschwister tagelang vor dem Gebäude der Politischen Sicherheitsbehörde in Damaskus auf, um etwas über mein Schicksal zu erfahren, – auch das ohne Erfolg. Zu dieser Zeit saß ich bereits seit 15 Jahren im Gefängnis, und anstatt dass ich freigelassen wurde, versiegten auf einmal die Informationen über mich.

Information war teuer. In den 1980er Jahren gaben die Ehefrauen, Mütter und Schwestern von inhaftierten Islamisten ihren Goldschmuck der Mutter des Gefängnisdirektors von Tadmor (Major Faisal Ghanim), damit sie in Erfahrung bringe, ob der Gatte, Vater oder Bruder noch lebte und, wenn ja, sich bei ihrem Sohn dafür zu verwenden, dass sie ihn im Gefängnis besuchen dürften. Dieser Handel mit Informationen, ob jemand lebte oder tot war, begründete in den 1980ern einige beachtliche Vermögen.

Dass es in Syrien politische Gefangene gab, war ein offenes Geheimnis, nur mussten alle so tun, als wüssten sie nichts davon. Interessierte man sich für dafür, begab man sich in große Gefahr. Vertreter der syrischen Regierung erwähnten dergleichen nie, und Journalisten aus dem Westen, die viele der Tabus des syrischen Regimes verinnerlicht hatten, fragten Hafiz al-Assad und seine Leute auch nur äußerst selten danach.

Es ist denkbar, dass niedere Beamte versuchten, Familien zu beruhigen, indem sie ihnen erzählten, ihre Angehörigen würden bald freigelassen, und die Familien das glaubten oder glauben wollten, um die eigene Standhaftigkeit und die des inhaftierten Familienmitglieds zu stärken. Es ist jedoch auch denkbar, dass das Regime auf inoffiziellen Wegen bewusst das Gerücht streute, Gefangene würden freigelassen, um zu einer Zeit, als es in Gefängnissen und Einrichtungen der Sicherheitskräfte Zehntausende solcher Gefangenen gab, den öffentlichen Druck abzuschwächen. Oder um zu prüfen, wie unterschiedliche Teile der Gesellschaft auf solche Geschichten reagieren würden. Absichtliche Fehlinformationen von Behörden, das bewusste Streuen von Desinformation sind eine weitere Quelle für Gerüchte.

Nur im zweiten Fall werden Gerüchte bewusst gestreut, denn der Ausdruck „ein Gerücht streuen“ besagt ja, dass es Menschen oder Einrichtungen gibt, die bewusst falsche Informationen verbreiten. Sind diese anonym, und sieht es so aus, als sei ein Gerücht wie von selbst entstanden, wird es sich wahrscheinlich rascher verbreiten. Tatsächlich sind Gerüchte, die von selbst entstehen, sehr selten und nur sehr wenige Gerüchte werden ohne tiefere Absicht in die Welt gesetzt. Die meisten Gerüchte werden bewusst gestreut. Gleichzeitig können sich Gerüchte aber nur dann quasi organisch entwickeln, das heißt, sich in gewissen gesellschaftlichen oder Zielgruppen ausbreiten, wenn sie die Verbindung zu ihren Urhebern kappen – wodurch es unmöglich wird, die ursprüngliche Quelle ausfindig zu machen.

Hier stellt sich die Frage, was Gerüchte am Leben hält. Sind es jene unbekannten Personen, die sie in die Welt setzen – oder ist es das Umfeld, in dem ein Gerücht kolportiert wird, und in dessen Kreisen es sich dann ausbreitet? Ich denke, ist ein Gerücht erst in die Welt gesetzt und hat ein Eigenleben entwickelt, dann ist seine Triebkraft nicht mehr jene Person, die es ursprünglich in die Welt gesetzt hat, vielmehr entwickelt und verändert es sich, bis es sich, nach Funktion und Form, von seiner ursprünglichen Gestalt ganz abgelöst hat.

In unserem Fall, als politische Gefangene einer vergangenen Zeit, hatten die Gerüchte über unsere anstehende Freilassung, neben Informationsmangel und bewusster Fehlinformation möglicherweise noch eine dritte Quelle, nämlich, dass unsere Verwandeten und wir selbst jede Hoffnung aufgegeben hatten. Menschen verwandeln ihre Wünsche in Tatsachen, beziehungsweise, sie sprechen über sie als wären sie real. Das trägt dazu bei, dass sich Gerüchte verbreiten, nicht weil diese Menschen sie in die Welt setzen, sondern weil sie ihre Gefühle und Träume ausdrücken, und weil sie es ihnen erlauben, die Belastungen einer schwierigen Zeit zu überstehen. Sie machen sich diese Gerüchte zueigen. Während eines seiner Besuche sagte mein Vater zu mir: „Die Jahre im Gefängnis sind gezählt!“ Das war nur eine Redensart und bedeutet nichts weiter als ‚wie lange auch immer du einsitzt, einmal wird es vorbei sein’. Als ich meinen Mitgefangenen das erzählte, verwandelte sich dieser Satz in eine Information, und ich begann mich zu fragen, woher sie wohl stamme. Das Bedürfnis nach Hoffnung erzeugt Informationen, die es befriedigen, und die Welt weniger niederschmetternd machen.

Die Gerüchte über unsere Freilassung betrafen etwas, über das wir politischen Gefangenen keinerlei Informationen hatten. Wann würde man uns freilassen? Was würde aus uns werden? Aus Sicht der Gefangenen und ihrer Verwandten waren Gerüchte die Alternative zu den fehlenden Informationen. Aus Sicht des Regimes waren Gerüchte entweder Teil einer Strategie, die darin bestand, Informationen zu produzieren und zu bestreiten, oder ein Mittel, um den Druck, den die Angehörigen machten, abzuschwächen.

Man kann diese Gerüchteküche als ein Dreieck beschreiben – in einer Ecke sind jene, die das Gerücht streuen und über politische Macht und Informationen verfügen (das politische und Sicherheits-Establishment), dann gibt es den Empfänger, der „beruhigt“ oder getäuscht werden soll (die Angehörigen der Gefangenen), und schließlich ist da der Gegenstand des Gerüchts, in meinem Fall waren das wir, die Gefangenen. Konkrete Gerüchte drehen sich in konkreten Zusammenhängen um konkrete Themen. So verbreitet sich das Gerücht, man werde die Gefangenen freilassen, unter deren Angehörigen und nicht unter, sagen wir, Studenten oder in Künstlerkreisen. Umgekehrt verbreiteten sich Gerüchte über Künstler nicht über die Mütter politischer Gefangener, denn diese wären dafür nicht das geeignete Medium.

Bezeichnend war, dass die Gerüchte im Frühjahr 1992 abflauten – als wir an das Staatssicherheitsgericht überstellt wurden. Zwei der drei Eckpunkte für Gerüchte waren hierdurch weggefallen: Jene, die die Gerüchte in Umlauf gebracht hatten, ob gezielt oder ungezielt, hatten es nicht nötig, sie weiter zu streuen, und die Empfänger erhielten nun Informationen über den Stand der Verfahren sowie über Haftbedingungen und das Schicksal der Häftlinge von diesen selbst. Man beschuldigte uns einer Reihe von Verbrechen, darunter ‚falsche Berichte verbreitet zu haben’, um der Nation zu schaden. Das Regime, das seine Untertanen über das Schicksal von Zehntausenden Mitbürgern im Unklaren gelassen hatte, klagte somit einige von ihnen an, irreführende Gerüchte verbreitet zu haben!

2. Gerüchte mit dem Ziel, die Wirklichkeit zu verdrehen

Zu Beginn der syrischen Revolution kam das Gerücht auf, ich hielte mich, zusammen mit anderen Oppositionellen wie Razan Zaitouneh und Riad Al Turk, in der US-Botschaft in Damaskus auf. Die Website, die diesen „Bericht“ zuerst veröffentlichte, ging online nachdem die Revolution ausgebrochen war, und wurde in Verbindung gebracht mit einem der geheimnisvollen, verdeckt arbeitenden Nachrichtendienste des Regimes. Es gab demnach eine Quelle, die zwar oberflächlich bekannt, tatsächlich jedoch anonym war und sich nicht überprüfen ließ. Die meisten Berichte auf dieser Website fallen in die Kategorie der „schwarzen Propaganda“, das heißt, es geht um die persönlichen Beziehungen von Oppositionellen, ihre Einkünfte und ihre angeblichen Verbindungen zu völlig aus der Luft gegriffenen Zusammenhängen. Zwar sollen Gerüchte in der Regel glaubwürdig erscheinen, es gibt jedoch eine Art von Gerücht, das die Wirklichkeit nur entstellen soll, um die Maßstäbe, an denen sich Glaubwürdigkeit bemisst, zu zerstören – und damit die Fähigkeit der Öffentlichkeit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Es handelt sich um eine weitere Form der bewussten Irreführung, auf die sich die syrischen Geheimdienste so vorzüglich verstehen. Sie wissen genau, den Kampf um die Wahrheit können sie nicht gewinnen, und sie versuchen deshalb, den Begriff der Wahrheit anzugreifen.

Zu der Zeit als das Gerücht verbreitet wurde, ich sei in der US-Botschaft, hörte ich, dass bewaffnete Banden führende Persönlichkeiten und Soldaten ermordeten. Ich versteckte mich damals in Damaskus und veröffentlichte jede Woche ein bis zwei Artikel über die Lage in Syrien.

Es war ein Wesenszug der baathistischen Ideologie in Syrien, dass die Realität den „objektiven Analysen“ der Partei angepasst wurden. Wenn man „ein Feind des Vaterlands“ war und sich an „ausländischen Verschwörungen“ gegen das Vaterland beteiligte, dann spielte es keine Rolle, ob man zu einer „bewaffneten Bande“ gehörte oder nicht, ob man sich in der US-Botschaft versteckte oder nicht. Was zählte war allein die „objektive Komplizenschaft“, die demselben Ziel diente. Wenn wir alle unter einer Decke stecken, warum sollten dann die „bewaffneten Banden“ nicht auch von mir aufgestellt worden sein? Und was sprach dagegen, dass ich in der US-Botschaft lebte? Welche Rolle spielen noch konkrete Fakten, hat man erst einmal die Gesamtstrategie erkannt, die „grundlegenden Ziele“, die sich in den Ereignissen ausdrücken? Beharrt man dennoch auf einzelnen Fakten, verschleiert man nur die Strategie (die Verschwörung), welche die „wirkliche Wirklichkeit“ ausmacht. Gerüchte werden so „wirklicher“ als überprüfbare Tatsachen.

Worum es geht ist, dass die Gerüchte eine epistemologische Basis haben. Die überprüfbare Wirklichkeit schwindet angesichts des Verlangens, die Wirklichkeit umfassend zu begreifen und ein Urteil zu fällen. Das arabische Wort für Urteil ist hukm, und es bedeutet sowohl ‚ein Urteil fällen’ (zwischen richtig und falsch unterscheiden), als auch ‚die Menschen regieren und ihre Angelegenheiten regeln’. Der syrische Staatsapparat nannte Hafiz al-Assad einen epochalen, „weisen“ Führer. Das Wort für weise, hakim, hat dieselben Wurzeln wie hukm.

Zwei Jahre nachdem das Gerücht in die Welt gesetzt worden war, ich hielte mich in der US-Botschaft auf – ich lebte zu diesem Zeitpunkt in Ost-Ghuta –, wurde ich während eines online geführten Interviews von einem regimetreuen Journalisten nach meiner Zeit in der US-Botschaft gefragt. Ich antwortete, es sei sehr gemütlich gewesen, und ich hätte mich wohlgefühlt in der Gesellschaft der anderen Oppositionellen. Meine Absicht war, das Gerücht, indem ich es mir zueigen machte, ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Das gelang mittelfristig auch, zuerst führte es aber zu einer Farce. Anhänger und Gegner des Regimes nahmen meine gespielt ernsthafte Antwort als felsenfesten Beweis für das, was sie lange schon geglaubt hatten, nämlich dass die USA hinter der Revolution steckten. Zu diesen Leuten gehörten ein libanesischer Professor der American University in Beirut sowie ein recht bekannter syrischer Dichter. Beide sagten, schon lange vor meinem „Geständnis“ hätten sie gewusst, dass ich in der US-Botschaft gewesen sei, denn ein „patriotisches Mitglied der Opposition“ habe ihnen davon in einem Café in Damaskus berichtet.

Dies ist ein Beispiel dafür, wie, haben Menschen den Drang, ein Urteil zu fällen, ein reines Nichts zu etwas Kolossalem werden kann. Ohne diesen Antrieb lässt sich nicht erklären, wie ein über sechzigjähriger Dichter und ein Universitätsprofessor von um die Mitte Fünfzig glauben konnten, die Amerikaner würden einer Gruppe linker syrischer Oppositioneller, die das Regime erbittert bekämpfen, die Schlüssel zu ihrer schwer gesicherten Botschaft übergeben. Zudem, wie kann es sein, dass der syrische Geheimdienst, dem diese Informationen bekannt waren, daraus kein Kapital schlug? Sicher spielen hierbei auch Eigennutz und Bösartigkeit eine Rolle, vor allem aber zeigt es, was geschieht, wenn man überprüfbare Fakten zugunsten einer abstrakten „Strategie“ über Bord wirft, eines Schemas, das angeblich die Wirklichkeit maßstabsgetreu abbildet. Der Dichter und der Professor machten sich zum Narren, da sie andere als Narren abstempeln wollten, und für sich das alleinige Recht beanspruchten, ein Urteil zu fällen.

Ein Gerücht ist hierbei jedenfalls ein Mittel, dass bei politischen Konflikten dazu benutzt wird, die Sache des Gegners zu diskreditieren und zu vernichten.

3. Gerüchte mit dem Ziel zu täuschen

Seit meine Frau, Samira Khalil, am 9. Dezember 2013 zusammen mit Razan Zaitouneh, Wael Hammada und Nazem Hamadi in der Stadt Duma in Ost-Ghuta entführt wurde, ist der Strom der Gerüchte darüber, was mit ihnen geschah, nicht abgerissen. Razan, eine Anwältin, Autorin und Mitbegründerin des „Violations Documentation Centre“ war wenige Wochen zuvor von Jaish al-Islam (einer salafistischen, paramilitärischen Gruppe, die Duma kontrollierte) bedroht worden. Ich kann es nicht beweisen, aber durch das, was ich über die Lage vor Ort weiß, sowie durch einige andere Informationen, bin ich überzeugt, die genannte Gruppe steckt dahinter.
Die Gerüchte gingen in alle Richtungen: Geheime Kräfte des Regimes hätte sie entführt; sie würden festgehalten von Jabhat al-Nusra (einer Gruppe, die neben Jaish al-Islam auch in Frage kommt); jemand habe Razan in irgendeinem Gefängnis gesehen, und die eine oder andere der vier solle in einem anderen Gefängnis sein. Der Anführer von Jaish al-Islam tat so als untersuche man den Fall ernsthaft, und verbreitete deshalb vor einiger Zeit das Gerücht, eine Sonderkommission untersuche die Angelegenheit, und man habe „eine erste Spur“. Er deutete an, „ausländische Elemente“ seien in das Verbrechen verwickelt – um dann zu beklagen, dass Razan und ihre Freunde allzuviel Aufmerksamkeit erhielten, während andere Gefangene des Regimes – er sprach von gefangenen moslemischen Frauen – unbeachtet blieben.

Auch hier entsteht ein Gerücht, da es an Fakten fehlt und es keine glaubwürdigen Quellen oder unabhängigen politischen Akteure gibt. Ebenfalls nicht unwahrscheinlich ist, dass einige Gerüchte Teil einer gezielten Desinformationskampagne sind. Ich kenne wenigstens ein Beispiel hierfür, nämlich als behauptet wurde, eine Gruppe, von der noch nie jemand etwas gehört hatte, stecke hinter der Entführung.

Im Fall der vier Entführten von Duma werden die Gerüchte nicht vom Regime und Staatsapparat gestreut, sondern von neuen Mächten, neuen „Machthabern“, die über die Menschen herrschen und ihren Zugang zu Informationen kontrollieren. Das ist die neue Realität in Syrien, einem Land, in dem Gerüchte immer vom Staatsapparat ausgingen oder aus dessen Dunstkreis kamen. So wie die Revolution aber das Gewaltmonopol des Staats erschütterte, geriet auch sein Monopol über Wahrheit und Täuschung ins Wanken. Das Ende des staatlichen Informationsmonopols war zugleich auch das Ende des Monopols für Gerüchte. Gerüchte, so kann man sagen, waren eine Waffe der Machthaber, für die sie nicht zur Verantwortung gezogen wurden, eine Waffe, mit der sie die Gesellschaft deformierten und ihre Fähigkeit untergruben, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen, denn die Gerüchte versetzten die Menschen in Angst und Schrecken, indem sie Gefahren heraufbeschworen, die nie welche waren.

Besonders ISIS bedient sich Gerüchten, die Angst verbreiten sollen. Um die Bevölkerung bestimmter Gebiete zu vertreiben, schickt die Gruppe Drohungen oder zieht über sie in der Umgebung Erkundigungen ein. Dies genügt, damit viele die Flucht ergreifen. Die weithin bekannte Tatsache, dass ISIS für zahlreiche Gräueltaten verantwortlich ist, macht diese Ängste noch glaubhafter.

Dieses Beispiel zeigt, die Wirkmacht eines Gerüchts bemisst sich einerseits an der Macht des Akteurs, der es verbreitet (oder sein Gegenstand ist), und andererseits an der Rätselhaftigkeit dieses Akteurs.

Wie ich zu Beginn sagte, alle drei angeführten Beispiele stammen aus meinem Leben. Im ersten Fall saß ich im Gefängnis, wo ich und meine Mitgefangenen durch Gerüchte hörten, was mit uns werden solle. Im zweiten Fall war ich untergetaucht und wurde zum Gegenstand von Gerüchten. Und im dritten Fall war ich der Angehörige einer der Entführten, der Ehemann, dessen Frau man entführt hatte, und hörte zahlreiche Gerüchte über ihr Schicksal. Die drei Beispiele gehören in den Bereich der Politik – der Politik eines abgeschotteten Systems, das wie ein Geheimbund handelt, wie ein Akteur, der seine eigenen Interessen verfolgt, und das keine Instanz ist, die der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldet. Dies gilt auch für die bewaffneten salafistischen Gruppen, die sich ihrerseits verhalten wie Sicherheitsorgane. In all diesen Fällen ist die Spanne, die Politik und Verbrechen trennt, gering, und all diese Kräfte wollen vor allem eins – unbemerkt im Dunkeln agieren. Gerüchte sind das andere Gesicht geheimer Machtausübung.

Wehren sich Menschen gegen Gerüchte?

Wenn die Wahrheit stets das erste Opfer des Krieges ist, dann befindet sich Syrien seit einem halben Jahrhundert in einem kriegsähnlichen Zustand. Das sowieso schwach ausgeprägte Verlangen der Öffentlichkeit, Tatsachen zu erfahren, wurde hierdurch weiter geschwächt. Es ist allgemein bekannt, am Tag als die Baath-Partei an die Macht kam, wurde der Notstand ausgerufen. Der Vorwand hierfür war der Krieg mit Israel, das heißt, die Logik des Kriegs wurde auf die Innenpolitik übertragen, und sämtliche Voraussetzungen dafür, dass die Wahrheit an den Tag kommt, wurden zerstört – als da sind: unabhängige Kontrollen, die Untersuchung von Fakten und der Abgleich konkurrierender Erzählungen.

Unter den gegenwärtigen Verhältnisse zweifeln die Menschen bestimmte Erzählungen durchaus an, jedoch nicht auf Grundlage nachprüfbarerer Fakten oder einer Wahrscheinlichkeitslogik, d.h. der Frage, was möglich ist und was nicht. Der doppelte Krieg in Syrien (der „heiße Krieg“ findet vor dem Hintergrund des schon lange andauernden „kalten Kriegs“ mit Israel statt) macht eine derartige Herangehensweise nahezu unmöglich. Was uns fehlt, ist ein unabhängiger Blickwinkel, von dem aus wir die Ereignisse prüfen und untersuchen können, und speziell jene Ereignisse, die zeigen, woher der Wind weht, und wie sich die wechselnden Strömungen und Unwetter, die typisch für Revolutionen und Kriege sind, entwickeln.

Verstärkt wird dies noch durch einen anderen Faktor, der in Syrien häufig auftritt, und sich in Aussagen niederschlägt wie „wo Rauch ist, da ist auch Feuer“ oder „hätte sich jene Person nicht irgendetwas zuschulden kommen lassen, wäre sie auch nicht verhaftet worden“. Tatsächlich gibt es in unserer Welt viel Rauch, aber es ist durchaus möglich, an einer Stelle Rauch zu produzieren, um damit das Feuer, das an anderen Stelle brennt, zu vernebeln. Wenn ein Mann oder eine Frau verhaftet oder entführt wird, sagt das etwas über die Täter aus, nicht über das Opfer. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Syrien ist es nicht ungewöhnlich, dass jemand nur seiner Person wegen misshandelt wird – und nicht weil er oder sie etwas Konkretes getan hat. Wenn es falsch ist, man selbst zu sein (und nicht das, was man tut), dann sind wir alle schuldig, dann verstoßen wir alle gegen ein Prinzip. Das ist Sektierertum: ‚Du bist schuldig, denn du bist einer von denen, du gehörst zur falschen Gruppe. Ich habe Recht, denn ich bin einer von uns – und wir sind im Recht.’

Wir reden hier von Sektierertum, da Sekten eine ideale Zielgruppe für Gerüchte sind. Innerhalb von Sekten verbreiten sich Gerüchte, die fast nirgends sonst anzutreffen sind. Sekten sind besondere gesellschaftliche Gebilde in denen besondere Gerüchte umlaufen, deren Ursprung die Rivalität zwischen den Sekten ist, und die einen Aspekt ihrer Erzählungen über sich selbst und über die Anderen bilden. Die Verbreitung sektiererischer Gerüchte in der breiteren Gesellschaft ist umgekehrt proportional dazu, wie verboten oder tabu ein Thema innerhalb des öffentlichen Diskurses ist. Auch hier geht es wieder darum, das Informationen fehlen und absichtlich getäuscht wird.

Obgleich viele das Gegenteil erhofft hatten, hat die technische Revolution im Kommunikationswesen nicht dazu beigetragen, den Ansturm der Gerüchte zu mindern. Dieselben Werkzeuge, die bei der Forschung helfen und uns vertrauenswürdige Informationen liefern, sind auch der Kanal, auf dem sich Lügen und Fälschungen verbreiten. Soweit ich es für Syrien beurteilen kann, scheinen die Mitarbeiter jener Einrichtungen, die Lügengeschichten verbreiten, ihre Sache ernster zu nehmen, als jene, die unabhängige Untersuchungen anstellen und versuchen, die Wahrheit zu ergründen.

Helden im Kampf gegen Gerüchte: Skepsis und Beobachtung der Mächtigen

Dennoch sind wir gegen Gerüchte nicht völlig ohnmächtig. Wir können Geschichten miteinander vergleichen, um ihre Schwächen oder „Löcher“ aufzuspüren. Als im August 2013 in Ghuta sehr viele Menschen durch Chemiewaffen umkamen, verbreiteten sich Berichte darüber rasch in Syrien und weltweit, und viele, angefangen mit dem Regime, schienen dem Gerücht zu glauben, die Chemiewaffen seien von der Opposition eingesetzt worden. Der US-Journalist Seymour Hersh untersuchte das Ereignis neun Monate lang intensiv – und kam zu eben diesem Schluss. Dabei hatte keine Seite versucht, mit den Einwohnern von Ghuta Kontakt aufzunehmen (gegenwärtig leben dort ungefähr vier Millionen Menschen), und sie zu fragen, ob man dort etwas über die Chemiewaffen wisse, und dass Kämpfer der Opposition sie eingesetzt hätten. Hinzu kam, dass es nicht der erste derartige Vorfall war; schon vor dem Angriff vom August 2013 hatte das Assad-Regime in vielleicht bis zu 30 Fällen Chemiewaffen eingesetzt.

Untersucht man solche Gesichtspunkte, kann man unterscheiden, was Gerücht ist und was Tatsache, kann man zwischen einem Bericht unterscheiden, dem man trauen kann, und einem Gerücht, das einen täuschen will. Ein Bericht sagt etwas über ein Ereignis aus, ein Gerücht etwas über die Person, die es in die Welt gesetzt hat.

Individuen sind zwar in der Lage, bis zu einem gewissen Grad zu beurteilen, welchen Informationen sie vertrauen können, um aber Gerüchte in der Politik aufzuspüren, braucht es unabhängige, überparteiische Kontrolle und Recherche. Auf gesellschaftlicher Ebene kann gegen politische Gerüchte nur angegegangen werden, wenn die Mächtigen beobachtet und Politik transparent gestaltet wird.

Es gibt ein etwas scheinheiliges arabisches Sprichwort, „Ein Auspruch eines Königs ist der König aller Aussprüche.“ Das soll bedeuten, die Herrschenden sind auch die Weisesten. Wir müssen heute dazu ein Gegensprichwort entwickeln, eines das besagt, die Könige (d.h., die Machthaber) sind Lügner, ihre Worte sind falsch (außer jemand beweist das Gegenteil), und je mehr Macht ein Redner hat, desto genauer müssen seine Worte und Taten von der Gesellschaft geprüft werden. Die Herrschenden, das muss dieses Sprichwort ausdrücken, sind fahrlässig, verantwortungslos und meist auch kriminell.

In den allermeisten Gesellschaften sind Informationen fester Bestandteil der Regierungsführung – und des Widerstands. In unserem Land haben die Herrschenden das Informationsmonopol an sich gerissen, um das Volk zu kontrollieren und selbst zu bestimmen, was richtig ist und was falsch. Sie haben den Menschen damit die Fähigkeit genommen, die Wirklichkeit selbst zu bewerten und zu beurteilen, und sie haben sie auf die Anklagebank gesetzt und schuldig gesprochen. Die Trennung von Macht und Information, von Regierung und Justiz ist lebenswichtig, wenn wir eine freie, demokratische Politik entwickeln wollen.

In den oben genannten Beispielen hingen Gerüchte stets ab von Macht und waren jeder Kontrolle entzogen. Die politische Macht – der Könige und Herrschenden – muss kontrolliert werden, damit sie die Bürgerinnen und Bürger, die keinen Zugang zu Informationen oder Macht haben, nicht durch Gerüchte täuschen und die Regierung und die „Weisheit“ an sich reißen können.