Indien: Zu früh für ein Urteil

Das indische Parlament in Neu Delhi
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Das indische Parlament in Neu Delhi: Seit fünf Monaten ist Modi nun schon Premier

Seit fünf Monaten ist der indische Premierminister Narendra Modi nun im Amt. Seitdem hat Modi viel versprochen und wenig davon gehalten. Für eine erste Bilanz ist es jedoch noch zu früh.

Indiens Wirtschaft wuchs zwischen 2004 und 2014 um durchschnittlich 7,2 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich von 688,55 Milliarden Dollar im Jahr 2004 auf 2314,72 Milliarden Dollar 2014. Gleichzeitig verringerte sich in dieser Zeit die Staatsverschuldung von 85 Prozent des BIP auf 65 Prozent. Dies ist in jeder Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung, besonders im Vergleich zum chinesischen Wachstum, das mit einer zunehmenden Staatsverschuldung - Anstieg von 150 Prozent des BIP auf fast 200 Prozent - erkauft wurde. Trotz alledem erlitt die Kongresspartei, die in der Wachstumsphase regierte, bei den letzten Wahlen im Mai eine schmähliche Niederlage. Sie hatte nicht einmal genügend Sitze ergattern können, um als Oppositionspartei Anerkennung zu finden.

Die Unzufriedenheit war groß und der Schmerz saß tief. Es ist normal, dass in einer Demokratie Regierungen abgewählt werden. Denn das Stimmverhalten der Wähler hängt in erster Linie von Fragen des täglichen Lebens und Valenzthemen ab. Auf beiden Gebieten zeigte die UPA-Regierung eine katastrophale Leistung. Die Statistik spricht für sich: Die Inflation der Nahrungsmittelpreise betrug während der ersten Regierungszeit der UPA moderate 6,74 Prozent. Während der zweiten Legislaturperiode stieg sie auf sagenhafte 12,2 Prozent.

Acche din aanewale hain – Brechen gute Zeiten an?

Mit Narendra Modi wählten die Menschen eine Führungspersönlichkeit, von der sie zweifelsohne erwarteten, dass er den Preisauftrieb dämpfen und eine handlungsfähige und starke Regierung bilden wird. Sein Wahlkampf stand unter dem Motto "Gute Zeiten brechen an".

Obwohl die BJP geführte Nationaldemokratische Allianz (NDA) mit nur 38,5 Prozent der Stimmen gewählt wurde, erhielt sie doch im Parlament mit 332 Sitzen (von 545 Sitzen) ein überwältigendes Mandat. Gemeinsam mit ihren Bündnispartnern verfügt sie über eine ausreichende Mehrheit, um bahnbrechende Gesetzesänderungen durchzusetzen. Diese Regierung ist eindeutig ermächtigt worden, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um Indien wieder auf Wachstumskurs zu bringen und an die fast zweistelligen BIP-Wachstumsraten zwischen 2008 und 2011 anzuknüpfen.

Modi erfreute sich an der breiten Unterstützung von 120 Millionen Erstwählern (18 - 23 Jahre), von denen die meisten gerade in das Berufsleben eintreten. Nach allgemein anerkannten Schätzungen benötigt Indien jedes Jahr 12 Millionen neue Arbeitsplätze und muss deshalb das Investitionsvolumen gewaltig aufstocken.

Während seines Wahlkampfes erwähnte Narendra Modi häufig die bittere Medizin, die nötig sei, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Doch als Modis Regierung den ersten Haushaltsplanentwurf vorstellte, war das Staunen groß. Statt bitterer Medizin gab es süße Versprechungen für alle Interessengruppen und Branchen. Die erwarteten bahnbrechenden Neuregelungen und das Zurückfahren staatlicher Subventionen blieben aus.

Die Hoffnung, dass die abgemilderten Beschränkungen ausländischer Direktinvestitionen im Verteidigungssektor ausländische Unternehmen dazu veranlassen würden, Fabriken in Indien zur Herstellung von Rüstungsgütern zu errichten - und so eine Wertschöpfungskette mit neuen Arbeitsplätzen vor Ort zu schaffen - erfüllte sich nicht.

Die Erwartung, dass die Grunderwerbsvorschriften gelockert werden, um der Industrie den Erwerb von Land zu erleichtern und Sonderwirtschaftszonen (SEZ) zu fördern, wurde auch enttäuscht.

Die lang erwarteten Arbeitsmarktreformen, die gebraucht werden, um die Arbeitsproduktivität und unternehmerische Flexibilität zu erhöhen, wurden nicht in Angriff genommen.

Umwelt -  ein Hemmnis für die Entwicklung?

Unter dem Eindruck der Konjunktureintrübung bemühte sich Modi, Hürden bei der Genehmigung lang anstehender Projekte eiligst zu beseitigen. Es wird gesagt, dass staatliche und private Vorhaben im Werte von mehr als 70 Milliarden Dollar auf Eis gelegt worden waren, weil Genehmigungen besonders aus ökologischen Bedenken zurückgehalten wurden.

Die Regierung lockerte jetzt die Bestimmungen zur Umweltverträglichkeitsprüfung und -notifizierung (EIA) von 2006, und befreite diverse Klassen von Bauprojekten von vorgeschriebenen Umweltschutzanforderungen. Die ursprüngliche Notifizierung von 2006 unter dem Umweltschutzgesetz von 1986 sah vor, dass Bauvorhaben aller Art zuerst auf Umweltverträglichkeit zu prüfen sind, bevor eine Erlaubnis erteilt wird.

Umweltschützer sehen die neuen Regelungen als einen Freibrief für Großprojekte, das heißt für den Bau von Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, Straßen, Brücken und für Industrie- und Versorgungsbetriebe, die nicht länger staatliche Genehmigungen (EIA) einholen müssen. So sehr dies von der Industrie bejubelt wird, so wenig können die meist liberalen und NDA-kritischen Umweltschützer die Absichten der Regierung kritiklos hinnehmen.

Sinkende Popularität bei steigenden Preisen

Die schwachen Monsunregenfälle blieben um 23 Prozent hinter den Erwartungen zurück und zogen die regenabhängigen landwirtschaftlichen Anbaugebiete, die 60 Prozent des Ackerlands ausmachen, in Mitleidenschaft. So geraten die Lebensmittelpreise erneut unter Druck. Die Preise für Gemüse zogen im Juli um 40 Prozent an und die Preise für Milch- und Getreideprodukte verfestigten sich. Im Vorfeld der Wahlen versprach die BJP, dass sie die Lebensmittelpreise innerhalb von "20 Tagen" in die Knie zwingen werde.

Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Die BJP verliert bei Zwischenwahlen inzwischen Sitze, wo sie im Mai 2014 noch Erfolge gefeiert hatte. In Rajasthan unterlag sie bei drei von vier Zwischenwahlen und in Uttar Pradesh bei acht von elf. Nur in Gujarat kam sie noch an ihre alten Ergebnisse heran. Außerdem erhielt die BJP in diesen drei wichtigen Bundesstaaten, die sie als ihre Hochburgen betrachtet, bei den 13 gewonnenen Sitzen (von insgesamt 24) weniger Stimmen als im Mai. Diese Ergebnisse bestätigen den Trend, der sich schon bei den zehn Zwischenwahlen letzten Monat in Bihar abzeichnete, bei denen der Stimmenanteil der BJP-geführten Allianz auf 37,3 Prozent fiel, während er bei den Parlamentswahlen zum Lok Sabha noch bei 45,3 Prozent lag.

Schwer abzulegende Gewohnheiten: die BJP und Hindutva

Versuchte die BJP anfangs noch, sich auf ihre Entwicklungspläne zu konzentrieren, scheint sie inzwischen wieder in altes Sektierertum zurückzufallen. Dies wird besonders in Uttar Pradesh deutlich, wo der führende Parteikämpfer und selbsternannte Yogi Adityanath zusammen mit den Ministerpräsidenten von Gorakphur eine Hetzkampagne gegen das sogenannte muslimische “Love Jihad” startete, das angeblich hinduistische Frauen in eine muslimische Ehe locken will.

Auch in anderen Fragen scheint die BJP alte Positionen wiederzuentdecken. Sie fachte erneut die Diskussion um den Artikel 370 der indischen Verfassung an, der den Bundesstaaten Jammu und Kaschmir einen speziellen Status und größere Autonomie in der indischen Union einräumt.

Dieser Rückfall auf alte Positionen zeigt sich besonders auch in erneuten Anstrengungen, die indische Geschichte umzuschreiben und bestimmte Inhalte der Hindu-Mythologie zu historischen Tatsachen zu erheben. Die allgemein anerkannte und wissenschaftliche fundierte Theorie einer historischen Verschmelzung verschiedener Migrationsbewegungen zum heutigen Indien soll ersetzt werden durch den ideologisch verbrämten Begriff einer im Boden verwurzelten Rasse und homogenen Nation. Der Glaube läuft dem wissenschaftlichen Verstand den Rang ab.

Modis Konzept einer neuen Außenpolitik

Bei der Außen- und Nachbarschaftspolitik begann die Modi-Ära mit viel Optimismus. Zu seiner Amtseinführung lud er alle Regierungschefs der SAARC-Staaten ein. Er wollte ein Signal aussenden, dass die nachbarschaftlichen Beziehungen für Indien von erhöhtem Interesse sind. Der kurze Austausch mit Pakistans Premierminister Nawaz Sharif zog natürlich die größte Aufmerksamkeit auf sich und gab Anlass zu der Hoffnung, dass bei den erkalteten Beziehungen wieder Tauwetter einkehrt oder sogar ein Durchbruch erzielt wird. Doch das Treffen wurde überschattet von erneuten Spannungen und blutigen Scharmützeln an der gemeinsamen Grenze. In Neu Delhi sah es so aus, als ob die pakistanische Armee nach einer anderen Flöte tanzte. Als der pakistanische High Commissioner sich am 14. August mit Separatistenführern aus Kaschmir traf, war alles wieder beim Alten. Die indische Regierung blies sofort das geplante Außenministertreffen ab.

Mit einer neuen wirtschaftspolitischen Initiative versucht die Modi-Regierung ihr, wie sie sagt, vorrangigstes Anliegen, die Stärkung von Handel und Investitionen, auf die diplomatische Bühne zu stellen. Seine neue Politik stellte der Premierminister unter das Motto "Make in India". So will er Indien als ein attraktives Ziel für ausländische Direktinvestitionen (FDI) in den Fokus bringen und damit den Export von Industrieerzeugnissen aus Indien ankurbeln. Es ist eine Reihe von Maßnahmen geplant, die Zuflüsse von ausländischen Investitionen erleichtern sollen. Dies betrifft auch die Bereiche Verteidigung, Versicherungen und Schienenverkehr, wo eine neue FDI-Obergrenze von 49 Prozent für Beteiligungen an Joint Ventures festgelegt wurde.

Sein erster offizieller Auslandsbesuch führte Narendra Modi nach Japan und markierte den diplomatischen Auftakt seiner wirtschaftspolitischen Initiative. Der Besuch zahlte sich offenkundig aus, denn Japans Premierminister Shinzo Abe versprach, in den nächsten fünf Jahren 35 Milliarden Dollar in Indien zu investieren.

Kurz darauf machte Chinas Präsident Xi Jinping seine Aufwartung. Die erste Station von Xis Besuch war Ahmedabad, Modis Heimatstadt. Man konnte sehen, dass die beiden Staatsoberhäupter sich blendend verstanden. Während die meisten Inder noch begierig auf Ergebnisse warteten, die die japanischen Versprechen in den Schatten stellten, spitzte sich die Lage in Chumar im fernen Ladhak zu, wo chinesische und indische Truppenbewegungen zu gefährlichen Spannungen an der Grenze führten. Diese angespannte Situation überschattete das ganze Treffen. In der gemeinsamen Erklärung war denn auch nur von einem Investitionsvolumen in Höhe von 20 Milliarden Dollar die Rede, das in zwei Sonderwirtschaftszonen (SEZ) in Gujarat und Maharashtra fließen soll. Mit China lief es offensichtlich nicht so gut wie erhofft. Und die beiden Länder versuchen zur Zeit noch immer, den Konflikt an der nicht klar definierten Grenze zu lösen.

Vorsichtige Schritte in die Zukunft

Auf einem Gebiet jedoch kann die BJP-Regierung gute Ergebnisse vorweisen. Nach einer aktuellen Meinungsumfrage der India Today Group-Hansa Research “Mood of the Nation” glauben 57 Prozent der Teilnehmer, dass Modi der geeignetste Premierminister ist, 48 Prozent sind überzeugt, dass er die Minister überflüssig macht und fähig ist, der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) standzuhalten.

Fünf Monate sind vergangen. Die Kongresspartei scheint sich von ihrer vernichtenden Wahlniederlage noch immer nicht erholt zu haben und wie gelähmt zu sein. Bis jetzt war sie nicht in der Lage, sich von der Führungsriege, die verantwortlich für die derzeitige Misere ist, zu trennen. Das gereicht der Modi-Regierung zum Vorteil - sowohl im Parlament wie in der öffentlichen Diskussion. Die meisten Inder quer durch die Gesellschaft haben das Gefühl, dass das Land mit Modi einen starken und entschlossenen Führer besitzt, und möchten ihm Gelegenheit geben, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Bisher hat sich Premierminister Narendra Modi mit größter Vorsicht bewegt.

Ein bekannter Kommentator charakterisierte sein Vorgehen trefflich mit dem chinesischen Sprichwort: "Nach den Steinen tastend den Fluss überqueren“. Wenn dem so ist, sollte er darauf achten, den Fluss möglichst schnell zu überqueren, bevor man mit eben diesen Steinen nach ihm wirft. Noch ist ein Urteil verfrüht.