Von Hans Magnus Enzensberger lernen

Der Poesieautomat von Hans Magnus Enzensberger in Landsberg
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Der Landsberger Poesieautomat von Hans Magnus Enzensberger

Immer war Hans Magnus Enzensberger beweglich in seinen Gedanken und Meinungen. Nun wird der Schriftsteller 85 Jahre alt. Jochen Schimmang beglückwünscht ihn in seiner Kolumne.

„was habe ich hier verloren, / in diesem land, / dahin mich gebracht haben meine älteren / durch arglosigkeit?“

Diese Frage, die ich mir auch zuweilen stelle, leitet den 1960 erschienenen Gedichtband landessprache (man beachte die zeittypische kleinschreibung) des Dichters Hans Magnus Enzensbergers ein, der heute, am 11. November 2014, fünfundachtzig Jahre alt wird. Das glauben wir jetzt erst mal nicht, wir, die als Leser mit diesem Dichter groß geworden sind, denn für uns hat er wie kein anderer geradezu über Jahrzehnte den Typus des jugendlichen Helden in der Literatur verkörpert. Deshalb wird sein Geburtstag wohl auch nicht in einen halben Staatsakt ausarten, wie das zum Beispiel bei Günter Grass regelmäßig der Fall zu sein pflegt.

Und deshalb wird dies kein Geburtstagsartikel, auf den der Autor vermutlich gut verzichten kann, sondern eine „Handreichung“ (solche Worte liebt er, auch der Begriff „Gebrauchsanweisung“ gehört dazu) darüber, was wir von ihm lernen können. Denn der Eindruck der Jugendlichkeit kommt ja nicht von ungefähr, sondern hat seinen Grund in einer bestimmten Grundhaltung Enzensbergers. Von HME lernen heißt vor allem, Beweglichkeit lernen.

Das haben ihm seine Gegner, darunter durchaus kluge Menschen, heftig zum Vorwurf gemacht, weil sie Beweglichkeit mit Opportunismus gleichgesetzt haben, so, als praktiziere dieser Autor lebenslang eine persönliche Variante des Adenauerschen „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ Enzensberger gehörte dankenswerter Weise von Anfang an nicht zu denen, die „einen Standpunkt einnehmen“ und für den Rest ihres Lebens darauf stehen bleiben. Seine Beweglichkeit hat mit Opportunismus nichts zu tun, sondern mit Zeitgenossenschaft. Denn wenn die Zeiten sich ändern, und das tun sie ja, wie wir spätestens seit 1964 von Bob Dylan wissen, dann muss sich doch auch der Zeitgenosse ändern. Oder er kapituliert einfach und sagt: „Ich komme nicht mehr mit, ich bleibe hier stehen.“ Auch das ist eine Haltung, die man respektieren muss, aber es war nie die von Hans Magnus Enzensberger.

Eine seiner berühmtesten Zeilen, aus dem Gedicht Schaum, lautet: „Ich bin keiner von uns.“ Es ist eine unzulässige Vergröberung, dies als Variation auf Brechts „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“ zu lesen. Bauen konnten wir auf HME von Anfang an, vor allem auf seine analytischen Fähigkeiten und seinen Hang, genauer hinzusehen. Seine Königsdisziplin ist ja nicht das Gedicht, sondern der analytische Essay, angefangen mit solchen Klassikern wie Die Sprache des SPIEGEL oder Journalismus als Eiertanz, eine Untersuchung der FAZ zu Beginn der sechziger Jahre. Zeitgenossen waren die anderen Autoren seiner Generation ja auch; sie unterschrieben Manifeste und äußerten Meinungen. Enzensberger war das bloße Meinen jedoch nie genug, und wo das doch einmal der Fall war, ging es schief, vor allem in dem berühmten SPIEGEL-Essay über Saddam Hussein mit dem Titel Hitlers Wiedergänger.

Kein Träumer des Absoluten

Auch in den Hochzeiten der Studentenbewegung hat sich HME bei einigen Reden mitreißen lassen, mehr zu meinen als zu wissen, was sich aber spätestens nach der kubanischen Ernüchterung änderte. Sehr zum Ärger der „Bewegung“, die ihm nicht verzeihen konnte, dass er nicht mit roter Fahne ihren karnevalesken Umzügen durch den Wedding oder Neukölln vorangegangen ist und ihn deshalb des Verrats bezichtigt hat. Man kann aber, zum Glück, nicht dauerhaft einer „Bewegung“ angehören, wenn man „keiner von uns“ ist. Der Vorwurf des „Verrats“, ohnehin eins der zentralen Ausschluss- und Vernichtungsinstrumente dogmatischer Strömungen und totalitärer Apparate, geht hier aber auch inhaltlich fehl. Im Gegensatz zu manchem prominenten Ex-68er hat HME zeit seines Lebens darauf bestanden, 1968 habe „dieses Land erst bewohnbar gemacht“.

Vielleicht ist allein die Aussage, dieses Land sei bewohnbar, einem gestandenen Fundamentalisten ein Dorn im Auge. Zu den durchgehenden Haltungen von Hans Magnus Enzensberger, von wenigen Irrtümern abgesehen, gehört jedoch die Abneigung gegen Fundamentalismen aller Art, ebenso wie eine mit den Jahren ständig wachsende Menschenfreundlichkeit gegenüber den sogenannten normalen Menschen, zu denen er selbst gewiss nicht gehört – und eben doch. Er ist kein Träumer des Absoluten, wie ein Glanzstück seiner frühen Essayistik über den antizaristischen Terror der 1860er und 1880er Jahre hieß. Der Antifundamentalist weiß, dass „Politik nur Notwehr“ ist, wie er kürzlich in einem Interview gesagt hat, und dass „es Angenehmeres gibt“. Jedoch: „Es gibt immer eine Macht, die das Sagen hat, und wer nicht selbst Politik macht, ist das Objekt der Politik und wird herumgeschubst. Man muss sich dazu verhalten...“ Gäbe es mehr von solchem Pragmatismus, der von Parteiprogrammen aller Art und von glühenden Glaubensbekenntnissen Lichtjahre entfernt ist, wäre die Welt mit Sicherheit deutlich bewohnbarer, und wir hätten einfach mehr Zeit für die wirklich wichtigen und schönen Dinge.

Nun ist Tumult erschienen, ein autobiografisch geprägter Rückblick auf die sechziger Jahre, ausgelöst angeblich durch alte Tagebücher, Briefe, Notizen, die der Autor in seinem Keller gefunden haben will. Na ja, diesen Klassiker mit den zufällig wiederentdeckten Spuren der Vergangenheit mag man glauben oder nicht. Ich lasse mich da von Enzensberger gern beschwindeln, auch wenn ich finde, dass der Keller nicht seine Etage ist. Es hätte dann schon eher der Dachboden sein müssen, wo doch das Element dieses Dichters die Luft ist: Leichter als Luft heißt einer seiner Gedichtbände (die schon lange nicht mehr in kleinschreibung publiziert werden), und eines seiner allerschönsten Bücher ist ohnehin Die Geschichte der Wolken. Im neuen Buch jedenfalls erzählt er die herrliche Geschichte eines Besuchs bei Herbert Marcuse, der gerade in Pontresina Urlaub macht. Marcuses „Mißtrauen den gewöhnlichen Leuten gegenüber“, so Enzensberger, sei „grenzenlos“, und das Wort „Proletariat“ nehme er „nur mit ironischen Gänsefüßchen in den Mund: ‚Das Volk ist ein Nazi-Begriff‘“. Weiter:
 

„Der Mann, der schon vor dreißig Jahren vom repressiven Charakter der Kultur schrieb, hält an einem Kunstglauben fest, der mir wunderlich vorkommt; im Faust, sagt er, sei mehr revolutionäres Potential enthalten als in allen Kadergruppen der westlichen Welt. Da mag er nicht unrecht haben. Doch provoziert mich seine Halsstarrigkeit derart, dass ich mich am Ende in einen schüchternen Leninisten verwandele, der die Diktatur des Proletariats gegen Platons Herrschaft der Philosophen verteidigt. So enden wir beide, mitten in den Hochalpen, auf dem falschen Dampfer.“

So geht’s zu mit den Standpunkten. Der Bewegliche aber, der von HME gelernt hat, ist jederzeit in der Lage, den falschen Dampfer am nächsten Anleger zu verlassen und das richtige Schiff zu nehmen. Deshalb jetzt doch: Herzlichen Glückwunsch!