"Rückblickend war das alles umsonst"

Bauarbeiter in Peking
Teaser Bild Untertitel
Wenn Wei Chen heute auf diese acht Jahre zurückblickt, glaubt er, seine Jugend vergeudet zu haben.

Wei Chen ist 26 Jahre alt und mag Städte eigentlich nicht. Doch in seiner Heimat auf dem chinesischen Land gibt es keine Arbeit.  Zahlreiche Veröffentlichungen, Forschungen und Analysen gibt es zu Wanderarbeiter/innen in China. Doch nur selten kommen die betroffenen Menschen selbst zu Wort. Drei individuelle Geschichten von Menschen, die erzählen, warum sie in die Städte gezogen sind, mit welchen Herausforderungen sie dort konfrontiert sind und wie sie sich und ihre Zukunft sehen.

Wei Chen wurde in Tongzhen, im Kreis Yulinjia geboren. Im Jahr 2006, als er gerade die dritte Klasse der Mittelschule besuchte, beschloss er, die Schule abzubrechen. Er glaubte, nicht fürs Lernen gemacht zu sein. Wei Chen, einziger Sohn seiner Eltern, stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach Arbeit zu machen. Er folgte einem Verwandten, der in der Inneren Mongolei auf einer Baustelle arbeitete. Acht Jahre arbeitete er dort als Baggerfahrer.

Das erste halbe Jahr verbrachte Wei Chen mit seiner Ausbildung, um anschließend mit dem Bautrupp Straßen zu bauen. Er lernte den Umgang mit Baggerlader, Straßenwalze und Kippwagen und wie man Anweisungen erteilt. Als das Straßenbauprojekt im Jahr 2008 abgeschlossen war, bekam Wei Chens Bautrupp wegen der Finanzkrise keine neuen Aufträge mehr. Er musste sich an andere Unternehmen wenden. Auf einer neuen Baustelle arbeitete er ein Jahr rund um die Uhr mit nur wenigen Pausen. Nach Fertigstellung der Baustelle ging er nach Wushenqi, wo er weitere drei Jahre im Straßenbau arbeitete. Im Laufe der Jahre hatte er 130.000 RMB [ca. 17.000 Euro] zusammengespart. Wenn Wei Chen heute auf diese acht Jahre zurückblickt, glaubt er, seine Jugend vergeudet zu haben. Es waren acht Jahre in einer monotonen, verlassenen Gegend. Es war wie in einem Schwarzweiß-Film. Es gab keinerlei Farben und nur Wüste.

Für das Stadtleben nicht mehr geeignet

Wei Chen, der heute 26 Jahre alt ist, kehrte schließlich nach Yulin zurück, um eine Familie zu gründen. Nach einiger Zeit merkte er, dass er nach all der Zeit in der Inneren Mongolei weder etwas Substanzielles mit seinen gut 130.000 gesparten RMB anfangen konnte noch dass er für das neue Leben in der Stadt geeignet war. […]

"Die Jahre im Bautrupp haben mich sehr geprägt. Dort musste die Arbeit sehr genau gemacht werden. In der heutigen Gesellschaft ist es jedoch sehr schwer, auf diese Weise weiterzukommen. Hier zählt nur der Schein; die ganze Gesellschaft ist eine einzige Blase. Während dieser acht Jahre habe ich mir vieles hart verdient, aber rückblickend war das alles umsonst. […] Seit ich wieder in Yulin bin, lebe ich von meinen Ersparnissen. Ich suche zwar nach einer Beschäftigung, gleichzeitig versuche ich, mich so gut es geht zu entspannen und etwas zu finden, was mir wirklich Spaß macht."

Als er gefragt wird, ob diese Orientierungslosigkeit unter seinen Altersgenossen nicht sehr verbreitet sei, antwortet er, dass es vielen so gehen würde und sie einfach vor sich hinlebten:

"Ein paar meiner Schulfreunde haben Kinder bekommen und müssen ständig überlegen, wie sie Geld verdienen können. Wenn die Kinder krank werden und sie deshalb nicht arbeiten können, kommt es zu Verdienstausfällen. Wenn die Kinder dann noch einen Arzt brauchen, wird der finanzielle Druck noch größer. Wenn es nach mir ginge, würde ich nicht heiraten."

Schwierige Integration in die Stadt

Auch zum Thema Reintegration in die Stadt hat Wei Chen seine ganz eigene Meinung:

"Langfristig bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an die Stadt zu gewöhnen, denn auf dem Land kann man nicht mehr leben. Die Landwirtschaft bringt einfach kein Auskommen, und in den Dörfern funktioniert nichts mehr. Es gibt kaum noch Schulen und die Kinder bekommen keine ordentliche Ausbildung. In den kleinen Städten ist es etwas besser. Die Dorfbewohner haben sich mittlerweile auf diese Veränderungen eingestellt und ziehen dorthin, auch wenn die Kosten für vieles dort höher sind."

Ein paar Freunde von Wei Chen arbeiten in kleineren Städten als Kellner oder Köche, und obwohl sie ein regelmäßiges Einkommen beziehen, können sie sich nicht einmal ein einfaches Leben leisten. Im Service verdienen sie selten 1.800 RMB [ca. 235 Euro] pro Monat. Es heißt zwar, dass in den vergangenen beiden Jahren die Löhne gestiegen seien, allerdings sind auch die Preise entsprechend in die Höhe geschnellt. Im Grunde hat es keinerlei Lohnsteigerungen gegeben.

"Vor ein paar Jahren konnte man mit zwei RMB noch einen ganzen Einkaufskorb füllen, aber jetzt kann man 200 RMB [ca. 26 Euro] ausgeben, und der Korb ist noch immer halb leer.»

Am untersten Ende der Leiter stehen nach wie vor die Wanderarbeiter und die Bauernschicht. Während des Interviews hatte Wei Chen anfangs auf mehrere Fragen nach seiner Zukunft keine wirkliche Antwort gegeben. Erst am Ende des Gesprächs betonte er mehrmals, dass sein ideales Leben darin bestünde, anderen zu helfen. In Wirklichkeit hat die Generation junger Dorfbewohner wie Wei Chen bereits ihren ehrlichen, vorbehaltlosen Beitrag zur Gesellschaft geleistet. Und dieser Beitrag zeigt sich in einer ganz anderen Form: Aufopferung.

Dieser Text ist einer von drei Auszügen aus Interviews mit Wanderarbeiter/innen. Erstmals  2012 und 2013 in einer Interviewsammlung auf Chinesisch erschienen. Diesen Text finden Sie auch in der aktuellen Ausgabe von Perspectives Asien der Heinrich-Böll-Sitftung.