Moderne Heldinnen in antikem Gewand

"Antigone of Syria" - Eine Neuinterpretation eines griechischen Dramas verleiht syrischen Schwestern, Müttern und Töchtern eine Stimme. Drehbuchautor Mohammad Al Attar berichtet von der Arbeit mit den Frauen aus Flüchtlingslagern in Beirut.

Die Tochter des Ödipus ist voller Trauer und Schmerz über den Tod ihrer beiden Brüder, nachdem diese gegeneinander in den Krieg gezogen waren. Sie besteht darauf, einen von ihnen den religiösen Ritualen gemäß zu bestatten. Für ihre Standhaftigkeit bezahlt sie mit dem Leben, da König Kreon von Theben befohlen hatte, den Leichnam ihres Bruders als Bestrafung für dessen Revolte gegen das Königreich unter freiem Himmel dem Wohlwollen der Götter zu überlassen. Das ist die Antigone des Sophokles, die thebanische Prinzessin, eine der großen Figuren des antiken griechischen Dramas. Wer aber wäre Antigone heute? Inwiefern kann Sophokles’ Meisterwerk als Ansatzpunkt dienen, die syrische Tragödie begreifbar zu machen – und syrischen Frauen in der Diaspora eine Stimme zu geben?

Diese Fragen bilden den Ursprung einer Theaterreise durch Beirut: die Stadt, in der der syrische Konflikt in all seiner erdrückenden Unmittelbarkeit ständig präsent ist. Darsteller für das Stück kamen aus den trostlosesten Gassen der Camps von Sabra, Schatila und Bourj el-Barajneh: Syrische Mütter, Schwestern und Ehefrauen sollten die klassische Tragödie neu interpretieren. Moderne Heldinnen, die über die harten Bedingungen des Exils triumphieren, deren Seelen von den Narben des Krieges gezeichnet sind und die den Verlust derer, die sie lieben, mit Stärke und Würde tragen. Moderne Heldinnen mit ungewöhnlichen, einzigartigen Stimmen, die gleichsam gemeinsamen Hoffnungen Ausdruck verleihen.  

Die syrischen Frauen hatten keine Erfahrungen mit Theater, und auch Antigone war ihnen kein Begriff – aber sie wussten, dass ihre eigenen Geschichten es verdienen, erzählt und gehört zu werden. »Was ist ein Theaterstück? Wer wird im Publikum sitzen? Werden wir auch über Politik sprechen? Werden wir über unsere Situation hier im Libanon diskutieren?«, diese Fragen beschäftigten die Frauen während der Produktion. Die immanente Verbindung von Theater und Gesellschaftskritik, von Kunst und Politik war den Frauen sofort klar – sehr viel schneller als der Text selbst. Dieses intuitive Verständnis der Essenz des Theaters, das unmittelbare Gespür für die direkte Verbindung zwischen Darsteller und Publikum, die den Kern dramatischer Kunst ausmacht, machte das Projekt auch für die beteiligten professionellen Dramaturgen zu einem ebenso lehrreichen wie bereichernden Erlebnis.  

Antigone und die anderen Charaktere des klassischen Texts waren für die Frauen zugleich der Ansatzpunkt und der Kontext, von dem aus und in dem sie ihre eigenen Geschichten erzählen und teilen konnten. Jener Rahmen zeigt, in welchem Maße die Protagonisten der antiken Tragödie sich in den Schicksalen und alltäglichen Kämpfen der Frauen widerspiegeln. Mit der Zeit stellten die Frauen ihre eigenen Geschichten, die Geschichten des Hier und Jetzt, in den Vordergrund, während die Geschichte von Antigone allmählich verblasste.

Geschichten von Kindern, Geschwistern, von Häusern, die nun zerstört sind. Geschichten von märchenhaften Stadtvierteln und Gegenden im ganzen Land, von der Landschaft um Aleppo, Hama und Damaskus bis zu den Flüchtlingscamps Yarmouk und Deraa. Sie haben ihre Tränen mitgebracht – aber ebenso viel Lachen und Lebensfreude. Hajja Fadwa hat in einem Jahr zwei Söhne verloren und Hiba zwei ihrer Brüder unter tragischen Umständen. Mona sah ihr Kind an einer Krankheit sterben, während Intasar – deren Vater getötet wurde – noch immer auf Nachrichten ihres Bruders wartet, der vor Monaten inhaftiert worden ist. Alle mussten ihr Zuhause verlassen, manchen bleibt nur die Erinnerung an Ruinen.

Doch nicht eine einzige der Frauen ist bereit, vor all der Trauer und dem Schmerz zu kapitulieren. Wafaa schreibt einen Liebesbrief, während Ruba lachend von ihrer Entschlossenheit erzählt, in ihrem neuen Job weiterzuarbeiten – auch wenn ihr Vater gar nicht begeistert ist von dieser Idee. Walaa hat ihrem verstorbenen Vater versprochen, ihr Studium weiterzuführen und nicht an der Verzweiflung oder der Erfahrung von Vertreibung und Exil zu zerbrechen. Zaika, die Schäferin aus der Nähe von Aleppo, lächelt und erzählt immer wieder, dass sie eines Tages nach Hause zurückkehren wird, um in den weiten Ebenen, in denen es keine Zäune gibt, ihre Schafe zu hüten.

Mit dem Theaterstück sollte gegen die vielschichtigen Formen von Tyrannei und Ungerechtigkeit porträtiert werden. Diese Tyrannei ist tief verwoben mit den Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft. Sie verschärft sich aufgrund der extrem schwierigen wirtschaftlichen Situation und angesichts des tragischen Mangels an öffentlichem Interesse in Beirut – einer Stadt, deren eigene Wunden aus einem vernichtenden Bürgerkrieg noch immer nicht verheilt sind. Die »Antigonen aus Syrien« kämpfen diesen Kampf heute gemeinsam. Sie aber sind keine Prinzessinnen, sondern hart arbeitende Frauen, die für ihre Familien sorgen müssen. Den Luxus von Antigones dramatischer Hingabe an den Tod jedoch kann sich keine von ihnen leisten. Antigones Geschichte ist vorbei und kann in den Monumenten der Geschichte ruhen: Die Geschichte jener Frauen aber gehen weiter, ihre letzten Kapitel sind noch lange nicht geschrieben.  

Das Theaterstück »Antigone of Syria« ist in Zusammenarbeit mit Aperta Productions, unter der Regie von Omar Abusaada und geschrieben von Mohammad Attar, begleitet von Schauspiel-Trainerin Hala Omran entstanden. Im Dezember wurde es im Al Madina Theatre in Beirut aufgeführt. Sophokles‘ Meisterwerk diente als dramaturgischer Rahmen, in dem sich die Lebensrealität syrischer Flüchtlingsfrauen in der zeitlosen Aktualität des antiken griechischen Dramas widerspiegelt. Die Frauen erzählen dabei die Gräuel des syrischen Konflikts und des Kriegs, aus ihrer Sicht.

Übersetzt aus dem Englischen von Carolin Dylla

Dieser Artikel erschien zuerst in Zenith.