Ein ägyptischer Blick auf Tunesien: Erfolgsmodell Mourakiboun

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Im Wahlbüro: Ein Wahlbeobachtungsformular des Netzwerks Mourakiboun

Im Bereich Wahlbeobachtung scheint in Tunesien das Zusammenspiel zwischen Zivilgesellschaft und Staat gut zu funktionieren. Was sind die Gründe dafür und können andere Länder der Region davon profitieren?

Als ich in Tunesien Ende 2014 die letzte Runde der Präsidentschaftswahlen mitverfolgt hatte und anschließend nach Kairo zurückkam, wurde mir klar, wie bedeutsam die Arbeit des tunesischen Netzwerkes für Wahlbeobachtung, Mourakiboun, für einen demokratischen Übergang in der gesamten arabischen Welt sein könnte. Die Kommission zur Durchführung der ägyptischen Parlamentswahlen, die dieses Frühjahr stattfinden sollen, hat ihrerseits bereits Bedingungen bekanntgegeben, die Wahlbeobachter in Ägypten erfüllen müssen. Und aus der ägyptischen Zivilgesellschaft heraus, die zweifelsohne schwächer ist als die tunesische, gab es gegen diese Bedingungen bereits Protest.

Die umstrittenste Klausel, die die ägyptische Wahlkommission für Wahlbeobachter erlassen hat, ist die, dass entsprechende Organisationen „einen guten Ruf“ haben und für „Neutralität und Integrität“ bekannt sein sollen. Diese Formulierung ist so dehnbar und unbestimmt, dass man sie wohl in jeder Weise missbrauchen kann.

Die letzten Wahlen in Ägypten waren die Präsidentschaftswahlen. Sie fanden im Mai 2014 in einer undemokratischen Atmosphäre statt, und ihnen fehlte jeder Wettbewerb. Gemäß dem Bericht der EU-Wahlbeobachterdelegation ließ die ägyptische Wahlkommission 80 einheimische Vereinigungen als Beobachter zu und lehnte 32 ab. Demnach durften etwa 15.000 Ägypter als Wahlbeobachter mitwirken, während dies 1.518 anderen verwehrt wurde. Die tatsächliche Zahl der Wahlbeobachter lag jedoch wesentlich niedriger. Dies lag u.a. daran, dass die Wahlkommission Zulassungen oft erst im letzten Moment erteilte, so dass es den Wahlbeobachtern nicht mehr möglich war, rechtzeitig an die oft sehr weit von Kairo entfernten Wahlorte zu reisen.

Ägyptische Zivilgesellschaft: für Wahlbeobachtung schlecht aufgestellt

In jedem Fall offenbart der Vergleich mit Tunesien, wie schlecht es um die Zivilgesellschaft und ihre Rolle bei Wahlbeobachtungen in Ägypten steht. Gemäß der endgültigen Liste der unabhängigen tunesischen Wahlkommission wurden dort für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2014 24 inländische Vereinigungen mit insgesamt 28.676 Wahlbeobachtern zugelassen. Wenn wir die Zahl von etwa fünf Millionen tunesischen Wahlberechtigten in Betracht ziehen, also weniger als ein Zehntel derer in Ägypten, wo es zuletzt über 53 Millionen waren, wird klar, welche untergeordnete Rolle die Zivilgesellschaft in Ägypten bei Wahlbeobachtungen spielt.

In einem Interview mit einem Mitglied der tunesischen Wahlkommission, Nabil Baffoun, am 25. Dezember 2014 stellte sich heraus, dass die Einspruchsquote der Kommission gegen Wahlbeobachtungskandidaten im Vergleich zu Ägypten sehr gering war. Laut Baffoun habe die Zahl der Abgelehnten für alle drei Wahlgänge (Parlaments- sowie zwei Präsidentschaftswahlen) nicht mehr als fünfzig Personen betragen. Die Ablehnung von Anträgen zur Wahlbeobachtung sei mit Verstößen gegen den Verhaltenskodex und fehlender Neutralität oder Unabhängigkeit begründet worden. Aber besonders bedeutsam schien mir, was Baffoun zur Beziehung zwischen Wahlkommission und Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene ausführte – etwas, was in Ägypten völlig fehlt. In Tunesien finden laut Baffoun zwischen der Wahlkommission und den größten zivilgesellschaftlichen Gruppen, allen voran Mourakiboun, regelmäßige Treffen statt, und die Kommission greift Anregungen dieser Gruppen zur Verbesserung ihrer Arbeit auf.

Zu den angenommenen Vorschlägen gehörte zum Beispiel, jeweils andersfarbige Wahlzettel zu verwenden, um Wahlfälschungen zu erschweren. Rafik Halouani, Vorsitzender des Mourakiboun-Netzwerkes, teilte mir zudem in einem Gespräch Ende November 2014 mit, die Wahlkommission habe auch einen weiteren Vorschlag übernommen, der in Folge einer Testwahl in einer Schule der Region Sidi Bouzid eingebracht wurde. Demzufolge wurde die Anzahl von Wahlberechtigten pro Wahllokal auf maximal 600 begrenzt, um den Wahlprozess zu erleichtern und einen flüssigen Verlauf zu gewährleisten. Außerdem habe das Netzwerk der Wahlkommission eine ständig aktualisierte digitale Landkarte mit allen Wahllokalen zur Verfügung gestellt, so Halouani.

Mourakiboun stellt in Tunesien zahlenmäßig die meisten Wahlbeobachter. Mit insgesamt 5.898 Wahlbeobachtern liegt Mourakiboun vor dem „Zivilblock für Entwicklung und Menschenrechte“ mit 5.174 Personen, und dem „Tunesischen Verein für faire und demokratische Wahlen“ mit 4.555 Vertretern. Allerdings waren gemäß den Angaben von Mourakiboun während der Stimmabgabe in den Wahllokalen nur etwa 4.000 ihrer Wahlbeobachter in 27 Wahlkreisen in Tunesien und sechs im Ausland zugegen. Wenn wir nun dies wieder mit Ägypten vergleichen, so sprechen Mitglieder beteiligter zivilgesellschaftlicher Vereine in Kairo davon, dass die größte Wahlbeobachtungsgruppe von 2014, das „Ägyptische Bündnis für Wahlbeobachtung“ unter Vorsitz der „Ägyptischen Organisation für Menschenrechte“ insgesamt nur etwa 1.000 Beobachter in Wahllokale entsandt hatte. Diese konnten mit Sicherheit nicht mehr als 14.000 Wahllokale in Ägypten abdecken, und im Ausland gar keine.

Junge Menschen mischen sich ein: Tunesien als Beispiel

Aber am bedeutsamsten war das, was ich bei Mourakiboun im vergangenen Jahr beobachten konnte und was das Netzwerk 2011 noch nicht besessen hatte: Moralische Autorität und Glaubwürdigkeit bei tunesischen Journalisten und Bürgern. Als ich im Oktober, November und Dezember des vergangenen Jahres durch die Abstimmungslokalitäten in Tunis tourte und mit den jungen Frauen und Männern sprach, die dort als Wahlbeobachter tätig waren, konnte ich spüren, wie sehr sie darauf bedacht waren, keine Voreingenommenheit erkennen zu lassen und den Anforderungen an Wahlbeobachter umfassend gerecht zu werden. Sie taten dies mit einer fast übertriebenen Strenge.

Und wiederum im Vergleich zu Ägypten ist festzustellen, dass die Führung von Mourakiboun ebenfalls aus jungen Leuten besteht. Rafik Halouani erzählte mir, wie er im März 2011 mit neun anderen jungen Leuten, die an der Revolution vom Dezember 2010 beteiligt waren, die Idee zur Gründung des Netzwerkes hatte. Die meisten von ihnen hatten zuvor keine politische Erfahrung sammeln können. Im September 2011 wurde Mourakiboun als zivile Vereinigung zugelassen und wuchs schnell. Bemerkenswert ist auch, dass der Vorsitzende und Koordinator Halouani als Kind miterlebt hatte, wie sein Vater einmal gegen Präsident Ben Ali antrat – in Wahlen, deren Ergebnisse gefälscht wurden.

Einen weiteren Unterschied zwischen Ägypten und Tunesien konnte ich insofern beobachten, als alle die, die in Ägypten versuchen, zivile Vereinigungen zur Wahlbeobachtung zu schaffen – ohnehin sehr bescheidene Versuche im Vergleich zu Tunesien – der älteren Generation angehören. Die erste diesbezügliche Initiative war der „Ägyptische Nationalrat“ von 1995, der die damaligen Wahlen nur sehr oberflächlich beobachtete und erst 2007 zum ersten Mal in Wahllokalen präsent war. Die meisten der hier aktiven öffentlichen Persönlichkeiten waren schon an die 60 oder 70 Jahre alt; unter ihnen waren liberale Politiker und Wissenschaftler wie Saad Eddin Ibrahim (Jahrgang 1938) und Said Naggar (geboren um 1920). Und das Fehlen junger Menschen unter Wahlbeobachtern in Ägypten scheint anzuhalten.

Mourakiboun kontrolliert durchgehend seit Herbst 2011 die Arbeit der Wahlkommission und interagiert mit dieser so kritisch wie konstruktiv. Auch das ist in Ägypten nicht gegeben, denn es wird dort auch den zugelassenen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen nicht zugestanden, sich in die Arbeit der Wahlkommissionen so einzubringen, wie es in Tunesien der Fall ist. Die ägyptischen Organisationen zur Wahlbeobachtung bestehen zudem im eigentlichen Sinn immer nur zeitlich begrenzt, wodurch es ihnen nicht möglich ist, Erfahrungen zu sammeln und sich in der Öffentlichkeit als eine moralische Autorität zu etablieren.

Öffentliche Stellungnahmen von Mourakiboun

Zur Analyse eignen sich jedoch in besonderer Weise die neun öffentlichen Stellungnahmen von Mourakiboun zu den tunesischen Wahlen des letzten Jahres (jeweils drei pro Wahl, wobei die Erklärungen jeweils um 10.30 Uhr des Wahltages, dann um 19.30 bzw. 22.30 Uhr nach der Wahl, und schließlich um 15 Uhr am Tag nach der Wahl abgegeben wurden):

  • Mourakiboun deckte etwa 10 Prozent der Wahllokale ab, vorrangig solche innerhalb Tunesiens. Aus den Erklärungen ergibt sich, dass stichprobenartig 1.001 von insgesamt 11.000 Wahllokalen ausgewählt wurden. Daraus lässt sich auch auf die tatsächlichen Kapazitäten der Organisation vor Ort schließen.
  • Die neun Stellungnahmen geben keinen Aufschluss darüber, inwieweit die Wahlbeobachter gleichmäßig über die Wahlkreise zwischen Küstenstreifen, Norden, Süden und der Landesmitte Tunesiens verteilt waren. Ich erfuhr lediglich in einem Interview mit Halouani, dass die Beobachter von Mourakiboun an den Wahllokalen im Ausland für dort lebende Tunesier relativ schwach vertreten gewesen seien.
  • Die Erklärungen der Wahlbeobachter waren allgemein gehalten und gingen nicht auf Details oder konkrete Beispiele ein. Sie befassten sich insbesondere damit, inwieweit die Wahlhelfer die Wahllokale pünktlich öffneten und dort zur Arbeit erschienen, ob ausreichend Wahlzettel und -unterlagen vorlagen, die Urnen nach gesetzlichen Vorgaben versiegelt waren, die korrekten Wählerlisten zur Verfügung standen, die Ausweise der Wähler überprüft wurden und ob ihr linker Zeigefinger mit Wahltinte eingefärbt wurde. Daneben wurde die handschriftliche Hinzufügung von Namen ins Wählerverzeichnis beobachtet und überprüft, ob die Stempelung von Wahlzetteln vorschriftsgemäß erfolgte, ob die Abstimmung in Kabinen ohne Beisein weiterer Personen gegeben war, ob Begleitpersonen für Analphabeten zugelassen wurden und ob der Wahlvorgang irgendwo für mehr als 15 Minuten unterbrochen werden musste. Zudem wurde kontrolliert, ob und in welchem Verhältnis zu den Wahllisten beziehungsweise den Präsidentschaftskandidaten Vertreter von Wahlkandidaten in den Lokalen zugegen waren, ob es Versuche gab, Stimmen zu kaufen, Wähler zu beeinflussen oder ob Vorfälle von Gewalt oder Chaos verzeichnet wurden. Schließlich wurden in der jeweils dritten Erklärung die Wahlergebnisse aufgrund stichprobenartiger Stimmauszählungen bekanntgegeben.
  • Beiläufig gingen die Stellungnahmen auch auf schwere Verstöße ein, die aber ein Prozent nicht überstiegen haben sollen. Jedoch wurde auch hier der Öffentlichkeit nicht erklärt, wo, wann und wie sich diese Zwischenfälle ereignet hatten oder wer für sie verantwortlich war.
  • In späteren Erklärungen war auch von Frauen unter den Wahlhelfern die Rede; dies war erstmals der Fall in dem Kommuniqué vom 23.12.2014, 10.30 Uhr (erste Runde der Präsidentschaftswahlen). Zudem wurde hier erstmals auf den Prozess der Stimmenauszählung eingegangen. Unter anderem wurde auf den ordnungsgemäßen Verschluss der Wahlurnen und auf Beschwerden gegen Wahlprotokolle eingegangen. Keine Erwähnung fand der Abtransport der Stimmzettel durch die Armee von den Abstimmungsräumen zur zentralen Sammlung und Neuauszählung.
  • In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen gaben die Stellungnahmen den Protest von Mourakiboun und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen in Tunesien gegen den Beschluss der Wahlkommission wieder, Wahlbeobachter von der Präsenz im Umkreis von Wahllokalen auszuschließen, sowie gegen das Verbot, das manche Wahlleiter Wahlbeobachtern erteilten, sich in den Wahllokalen selbst aufzuhalten. Zudem kritisierten die Erklärungen zu diesem Wahlgang, dass das Wählerregister teilweise die Namen von Verstorbenen enthalten habe und forderte, dass dies künftig zu unterbinden sei.
  • In den Verlautbarungen des Tages nach den Wahlen wurde darauf verwiesen, wie exakt die Ergebnisse der Schnellauszählung gewesen seien, die Mourakiboun für seine Hochrechnungen verwendet hatte. Tatsächlich waren diese näher an den offiziellen Ergebnissen als die, die Umfrageinstitute anhand von Befragungen von Wählern nach Besuch der Wahllokale ermittelt hatten. Die Wahlkommission war ihrerseits weniger angetan davon, dass Mourakiboun nun auch noch in diesem bei der Presse so beliebten Metier agierte, wie Kommissionsvertreter Nabil Baffoun mir mitteilte. Das Netzwerk verwies jedoch stets darauf, dass seine Ergebnisse stichprobenartig gewonnen wurden, nicht offiziell seien und dass das offizielle Endergebnis erst später von der unabhängigen Wahlkommission verkündet würde.
  • In der Erklärung vom 21. Dezember, 19.30 Uhr – also ein wenig früh – kam Mourakiboun zu dem Schluss, dass der Wahlverlauf insgesamt sehr gut gewesen sei. Dies gelte zu 83 Prozent für die Parlamentswahlen, zu 93 Prozent für die erste und zu 95 Prozent für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen.

Solche kleinen Abstriche schmälern die Verdienste des tunesischen Mourakiboun-Netzwerkes jedoch in keiner Weise, besonders im Vergleich zu Ägypten. Nach Baffoun, also aus Sicht der Wahlkommission, war insbesondere positiv zu werten, dass Mourakiboun moderne EDV nutzt und eine Vielzahl an Wahlbeobachtern im Inland und im Ausland einsetzt. Kritisch sah er, dass das Netzwerk Presserklärungen herausgab, die teilweise der Wahlkommission unterstellten, sie verweigere die Herausgabe von Wählerlisten, und dass es vermeintlich vorschnell Wahlergebnisse bekanntgegeben habe.

Schließlich soll hier noch auf den Aspekt der Koordination unter den Akteuren der Zivilgesellschaft hingewiesen werden. Mourakiboun besitzt gleichermaßen Erfahrung und moralische Autorität und trägt daher für die Zukunft Verantwortung dafür, dass eine Vernetzung der tunesischen Zivilgesellschaft insoweit erfolgt, dass eine umfassende Wahlbeobachtung durch lokal tätige Zivilvereinigungen gewährleistet ist. Dies schließt die Finanzierung von Wahlkämpfen, professionelle Pressearbeit und behördliche Neutralität sowie eine bessere geografische Abdeckung ein, so dass Wahlbeobachtung zukünftig in wirklich allen Wahllokalen im In- und Ausland möglich werden kann. Auch sollten Mourakiboun und andere wahlbeobachtende zivile Gruppierungen Druck machen, damit Fehler in den Wählerverzeichnissen behoben werden, und zwar möglichst noch vor den Kommunalwahlen in 2015. Diese Wahlen werden angesichts ihrer noch höheren Komplexität eine neue Herausforderung und Reifeprüfung für die tunesische Zivilgesellschaft sein. Sollte sie sie bestehen, wäre sie ein Vorbild und Erfahrungsschatz für alle arabischen Länder.

 

Aus dem Arabischen von Günther Orth.

 

Veranstaltungshinweis:
Rafik Halouani, den Leiter von Mourakiboun, sowie weitere Gäste aus Tunesien können Sie am Donnerstag, den 29. Januar auch in der Veranstaltung "Vom Arabischen Frühling zur Demokratie. Erfolgsmodell Tunesien?" in der Heinrich-Böll-Stiftung erleben.