Putins Tempelberg, Europas Rechte

Euromünze
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Diese kleine Münze zeigt einen viel größeren als ihren Nominal-Wert – nämlich Frieden und Freiheit, Wohlstand und Glück, Geschäftssinn und Selbstbewusstsein

Der Kampf um die Zukunft des Kontinents hat längst begonnen – ein Essay von Bernd Rheinberg.

Homers Geschichte vom Trojanischen Krieg, die Ilias, kennen wir als ein großes Schlachtengemälde, das an Gewaltdarstellung und Splatter-Momenten den Kämpfen um Mittelerde in nichts nachsteht. Doch der Dichter zeigte auch Interesse an dem Leben seiner Protagonisten und an der Welt zur Bronzezeit. Er bündelt das kunstfertig in der Beschreibung von Achills Schild. Dieser zeige ein ganzes Universum: Sterne seien abgebildet, Menschen, Felder und Künste, zwei Städte ebenso, die eine im Frieden, die andere im Krieg befindlich.

Auch in unserer Zeit gibt es diese Art von Abbildungen, aber sie sind nicht literarischer Gestalt, sondern greifbare, handfeste Darstellungen unseres heutigen Selbstbildes. Sie sind schlichter, aber nicht weniger aussagekräftig: Zu erkennen ist der Globus als stilisiertes Eurozeichen, das Gebäude der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, Windkraftanlagen, ein Fabrikgebäude, ein Handelsschiff auf See, einige Bäume, Teile einer Altstadt, eine vierköpfige Familie, die zum Jubel die Arme hochreißt – auf manchen Betrachter mag sie wirken wie eine Teletubbie-Landschaft. Doch jeder hat sie wahrscheinlich schon einmal in der Hand gehalten, denn sie findet sich auf einer 2-Euro-Münze, die zum 10. Jahrestag der Einführung des Euro-Bargeldes vor drei Jahren in Umlauf gebracht wurde. Das Münzmotiv, entworfen von einem österreichischen Künstler, war in einer EU-weiten Internetabstimmung als Sieger hervorgegangen und soll den Euro als „Währung von weltweiter Bedeutung“ symbolisieren.

Aber natürlich auch ein bisschen mehr: Diese kleine Münze zeigt einen viel größeren als den Nominal-Wert – nämlich Frieden und Freiheit, Wohlstand und Glück, Geschäftssinn und Selbstbewusstsein. Selbst wenn man den propagandistischen und autosuggestiven Gehalt dieses Kleingeldmotivs abzieht, so kann man doch die Lebenswirklichkeit der Menschen in der Europäischen Union deutlich wiedererkennen. Wir blicken auf einen Kontinent, der nach Hunderten, ja, Tausenden Jahren voller verheerender Kriege einen Moment des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands gefunden hat. Einen Kontinent, der in seiner neuen Verfasstheit allem Militarismus, Imperialismus und Kolonialismus abgeschworen hat. Es gefällt nicht jedem, und es wundert noch manchen – aber genau diese profane Diesseitigkeit, das zivile Miteinander, in dem das Individuum seines Glückes Schmied ist und der Zwang unter Aufsicht von Gesetz und Gesellschaft steht, übt eine gewaltige Anziehungskraft auf Menschen und Länder aus, denen es an diesen Vorzügen ermangelt.

Das ist der einfache Grund, warum sich auch die Ukraine auf den Weg nach Westen gemacht hat. Warum Putin aber dem schwierigen Weg der Ukraine zwischen europäischer Integration und wirtschaftlicher Kooperation mit Russland Panzer in den Weg stellt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Letztlich bieten sich drei Antworten an. Sie haben – wenig überraschend – mit Macht zu tun, mit Ideologie und mit Geld. Auch nicht überraschend: Sie lassen sich nicht scharf voneinander trennen.

Potemkin auf dem Tempelberg

Seit Jahren behauptet Putin, Russland sei bedroht – vom Westen, der NATO, den USA, der EU und von ukrainischen Faschisten. Und tatsächlich, es gibt eine Bedrohung – aber nicht für Russland, sondern für Putin und sein Regime. Es dürfte ihm spätestens bei den Protesten der Zivilgesellschaft gegen die manipulierten Wahlen im Winter 2011/12 klar geworden sein und zu einer echten Sorge um seine Macht geführt haben. Seitdem ist von der russischen Zivilgesellschaft nur noch wenig zu hören, zu schwierig ist mittlerweile ihre Situation in einem Land, dessen Gefühlshaushalt sich gerade am Herdfeuer eines spirituellen Nationalismus wärmt. Entzündet wurde dieses Feuer von Putin selbst, das, wie sein geistiger Lehrer Iwan Iljin schrieb, den „Menschen zum aufopfernden Dienst und das Volk zum geistigen Aufschwung bringen“ soll. Daher wurde die annektierte Krim von Putin kurzerhand zur „spirituellen Quelle“ erklärt und die Annexion selbst zu einem Dienst an „Wahrheit und Gerechtigkeit“.

Putin holt sich aus der alten Familientruhe Russlands jene historischen Erbstücke, die ihm für seine Zwecke passend erscheinen, poliert sie auf und stellt sie, grell ausgeleuchtet, ins Schaufenster seiner Anstalten. Da ist Moskau wieder das dritte Rom, das neue Jerusalem, eine eigene Zivilisation, eine eigene Kultur voller heiliger Stätten, und jede Machtübernahme wird zu einer Weihehandlung.

Und er bietet Folgendes: allrussische Ideen, doch gleichzeitig die alte Aufteilung in Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen; eine religiöse Identität durch die russisch-orthodoxe Kirche; Panslawismus wegen einer „kulturellen und geistigen Einheit der slawischen Völker“ sowie die unverhohlene Fortsetzung des zaristischen Imperialismus mit Heim-ins-Reich-Attitüden. So machte er mehrmals deutlich, dass seine Fürsorge nicht nur den ethnischen Russen, sondern auch den bloß Russischsprechenden gelte, auch sie seien „Landsleute“ Russlands.
Man möge sich in diesem Zusammenhang einmal vorstellen, dass die Kanzlerin von der deutschsprachigen Minderheit Belgiens oder Italiens als ihren „Landsleuten“ spräche. Und die Signale, die Putin in den letzten Jahren und Monaten in die postsowjetischen Staaten sandte, sind in etwa so, als würde Deutschland unter Ausblendung der Nazi-Zeit sich auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation berufen und daraus Gebiets- und Herrschaftsansprüche ableiten.

Vielleicht ist sein heimliches Vorbild jener Feldmarschall und Fürst Gregor Alexandrowitsch Potemkin, der Neurussland für das Zarenreich gewann und ausbleibende Fortschritte mit frischgestrichenen Fassaden kaschierte. Putin hat seit dem Beginn seiner Herrschaft systematisch alle demokratischen Gehäuse entkernt und eine potemkinsche Fassadendemokratie hinterlassen: Es gibt keine fairen Wahlen mehr, keine Gewaltenteilung, keine Rechtsstaatlichkeit, kaum noch eine Zivilgesellschaft. Den Eliten bleibt nur Auswanderung, Treueschwur oder inneres Exil. Putins Ancien Régime ist gut ausstaffiert mit von ihm initiierten und von Vertrauten gelenkten willfährigen Simulationsorganen: Parteien, Jugendorganisationen, NGOs, Medien, Kommissionen, Räte und Akademien. Sie machen den Machterhalt, die Kontrolle und die Propaganda perfekt.

Gepflegte Doppeldeutigkeit

Vielleicht muss man selbst ein Demokratieverächter sein, um das durch und durch Illiberale von Putins Politik zu verstehen. Das liest sich dann so: „Alle Länder, denke ich manchmal, sollten der Schweiz ähnlich sein. Sie sollten wie diese in Hygiene und Seichtheit, in der Vergötzung der Gesetze und im Kult des Menschen behaglich erschlaffen. Andrerseits sind nur die von kleinen Skrupeln im Denken und Handeln angekränkelten, die fieberhaft unersättlichen Nationen für mich anziehend, welche stets bereit sind, die anderen zu verschlingen, sich selbst zu verzehren und Werte, die ihrem Aufstieg und ihrem Erfolg im Wege sind, mit Füßen zu treten, verstockt gegen die Weisheit, diesen Krebsschaden der alten, von sich selbst und von allem anderen übersättigten und gleichsam vom Schimmelgeruch behexten Völker.“

Emil M. Cioran, der große Skeptiker und Stilist der französischen Sprache, schrieb diese Zeilen Ende der fünfziger Jahre in einem Essay mit dem Titel „Russland und das Virus der Freiheit“. Es ist eine Abrechnung mit der Demokratie und eine Eloge auf Russland: „Was“, schreibt er, „kann man noch hoffen, wenn man in der Freiheit lebt? oder unter der Regierungsform, die sie verkörpert, diesem System aus Kraftvergeudung, Beschaulichkeit und Verweichlichung? Die Demokratie ist ein Wunder, das nichts mehr anzubieten hat, sie ist zugleich das Paradies und das Grab eines Volkes. Das Leben hat nur durch sie einen Sinn; aber sie ist ohne Leben...“

Schöner hätte es Putin mit seiner Dekadenzvorstellung vom Westen nicht beschreiben können. Und weiter: „Damit Russland sich zu einer liberalen Regierungsform bequemte, müsste es beträchtlich geschwächt sein, müsste seine Kraft müde werden; mehr noch: es müsste seinen spezifischen Charakter verlieren und sich im tiefsten entnationalisieren. Wie sollte ihm dies gelingen, mit (...) seiner tausendjährigen Autokratie? Gesetzt, es käme mit einem plötzlichen Sprung dahin, dann fiele es sofort auseinander. Manche Nationen brauchen, um sich zu erhalten und auszubreiten, eine gewisse Dosis von Terror.“ Deshalb: „In seinem Widerwillen, sich zu definieren und Grenzen zu akzeptieren, pflegt der Russe die Doppeldeutigkeit in der Politik, in der Moral, und (...) auch in der Geographie.“

Es ist eine Werbeschrift für ein ewiges russisches Imperium, gespickt mit Vorstellungen der Konservativen Revolution aus der Zeit um 1900. Die Kreml-Sender könnten es von morgens bis abends senden. Das Argument, das große Reiche nicht mit der Demokratie kompatibel seien, hört man auch seit Jahrzehnten immer wieder in Sachen China, um so Autokratie und die Unterdrückung unbotmäßiger Völker zu rechtfertigen. Natürlich drohten Chaos und Gewalt nach dem Ende von Repression. Aber ist die Repression nicht selbst schon Gewalt? Und enthält man so nicht einem Volk das Recht vor, sich die Freiheit zu erkämpfen? Kaum zu glauben, dass das russische Volk eine Tyrannen-DNA hat, die die Freiheit auf ewig unmöglich machte. Tatsächlich kennt das leidgeprüfte russische Volk seit Tausend Jahren fast nichts anderes als eine Abfolge von erstarrten, rückwärtsgewandten Regimen – aber es könnte ja sein, dass es das bald leid ist.

Auch Deutschland hat Cioran, einst ein glühender Hitler-Verehrer, schon enttäuscht: „Kein weitausholender Schwung mehr bei den Germanen, keine Botschaft und kein Irrwahn, nichts mehr, was sie anziehend oder hassenswert machen könnte! (...) Sie sind der Belanglosigkeit verfallen, künftige Helvetier, für immer ihrer gewohnten Maßlosigkeit entrissen, darauf beschränkt, ihre heruntergekommenen Tugenden und ihre verminderten Laster wiederzukäuen.“

Am Ende hat der Eremit aus dem Quartier Latin eine böse Ahnung: Der Okzident, so seine Analyse, „gewinnt, in dem er sich verliert“. In der Abkehr von der Idee des Universalreiches, des Imperiums, liege die neue Kraft, so wie das antike Griechenland die geistige Vorherrschaft erobert habe, als es die politische Macht verlor.

Eine lupenreine Kleptokratie

Wie geht es Russland eigentlich? Die Russische Föderation hat die mit Abstand größte Landmasse der Erde, rund 145 Millionen Menschen, eine reiche Kultur, äußerst kluge Köpfe in Naturwissenschaft und Informatik, reiche Vorkommen an fast jeder erdenklichen natürlichen Ressource und so weiter. Doch im Human Development Index, dem Wohlstandsindikator der Vereinten Nationen, der vor allem auf Lebensstandard, Lebenserwartung und Bildung basiert, nimmt es nur Platz 57 ein, noch hinter Nachbar Weißrussland. Ähnlich ist es beim Index für das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, da steht Russland auf Platz 58, deutlich hinter Ländern wie Litauen, Palau oder Äquatorialguinea. Aber es gibt eine Liste, da liegt Russland noch sehr viel weiter hinten. Und diese Tatsache erklärt auf direktem Wege die beiden anderen mageren Platzierungen. Es geht um die Korruptionsliste, die Transparency International jedes Jahr erstellt: In der aktuellen nimmt Russland Platz 136 von 175 ein; das ist nicht nur eine beschämende Platzierung, sondern auch eine Verschlechterung um drei Plätze im Vergleich zum Vorjahr. (Noch schlechter listet Reporter ohne Grenzen Russland bei der Pressefreiheit, aber immerhin noch vor Ländern wie Iran oder Nordkorea.)

Das Problem mit der Korruption besteht nicht erst seit gestern. Und es wird von der russischen Regierung auch immer mal wieder behauptet, sie wolle etwas dagegen tun, wie sie auch die russische Wirtschaft wettbewerbsfähig machen wolle. Warum sich da aber nichts ändert, das hat die Politikwissenschaftlerin Karen Dawisha jetzt in ihrem Buch Putin's Kleptocracy analysiert und erklärt. Sie hat viele Interviews mit Geschäftsleuten und Bankern geführt, etliche bislang unbekannte Quellen zusammengetragen – und alle Indizien sprechen dafür, dass Putin und seine Vertrauten mit System einen „kleptokratischen Autoritarismus“ installiert haben, der auf einem solch massiven Raub basiert, wie man es seit den Zaren nicht mehr gesehen hat.

Dawisha ist überzeugt, dass Putin von Beginn an ein autoritäres Regime im Auge hatte, bei der einige demokratische Verfahren nur der Dekoration und Täuschung dienten, die Schalthebel der Macht aber von einer Clique aus ehemaligen Geheimdienstlern, Oligarchen und Freunden besetzt waren, – dass also nicht die Reformer, die Zivilgesellschaft, die Intellektuellen, die Eliten oder der Westen versagt haben, sondern Putins Drehbuch einfach einen anderen Verlauf vorsah. Demnach hat eine Gruppe von entschlossenen und revanchistischen KGB-Offizieren, geschockt vom Kollaps der Sowjetunion und ihrem eigenen Machtverlust, zusammen mit dem organisierten Verbrechen in Russland ab Ende der 80er Jahre die Rückkehr an die Macht geplant. Mit Hilfe skrupelloser internationaler Banken stahlen sie dem russischen Staat Geld, brachten es im Ausland in Sicherheit, reinvestierten es in Russland mit Hilfe selbst gegründeter Firmen und Geldinstitute und übernahmen dann schließlich den Staat selbst. Tatsächlich schafften es Putins Gefolgsleute zu Millionären und Multimillionären, und die Oligarchen in seinem Kreis sind gar Milliardäre geworden. Loyalität macht sich direkt bezahlbar. Wer ausschert, wie Chodorkowskij, der landet im Gefängnis.

Immer noch nimmt Russland einen Spitzenplatz bei der Kapitalflucht ins Ausland ein, und die jährlichen Bestechungskosten in Russland schätzt Transparency International auf rund 300 Milliarden Dollar – Geld das außerhalb des Rechtsraums von Hand zu Hand geht für Gefälligkeiten. Dies aber bloß als Systemversagen zu sehen, wäre ein großer Fehler. Vielmehr ist die Korruption ein Grundpfeiler von Putins Macht und deshalb gewollt. Denn weil sie jeden korrumpiert, macht sie auch alle erpressbar; sie ist eine perfide Form der Kontrolle, weil jeder befürchten muss, bei einer gewollten oder unbedachten Unbotmäßigkeit angeklagt zu werden. Die Korruption macht jeden zu einem potentiellen Delinquenten.

Da es immer viele Triebkräfte gibt, die die Politik beeinflussen und das auch in wenig offenen, autoritären Regimen, kann man davon ausgehen, dass Dawishas Erklärung für Putins parasitäre Herrschaft zwar plausibel ist, aber nicht die ganze Geschichte erzählt. Doch eines kann man mit Sicherheit sagen: Die Gründe für die Entwicklungen, die großen Probleme in Russland liegen vor allem in dem Land selbst.

Divide et impera

Wer sich in den 70er und 80er Jahren ins politische Getümmel stürzte, der begegnete bei Diskussionen um den richtigen Umgang mit dem Ostblock im Allgemeinen und der DDR im Besonderen immer mal wieder der sogenannten „Stalin-Note“. Die Meinungen waren geteilt: Die einen hielten sie für einen Bluff Stalins, die anderen deren Zurückweisung für eine vertane Chance.

Zur Erinnerung: Der sowjetische Diktator hatte im März 1952 den westlichen Siegermächten ein vereintes Deutschland zum Preis der Neutralität angeboten. Das klang interessant, war aber – wie man heute weiß und damals auch schon vermutete – ein bloßer Trick, mit nur einem Ziel: die politische und militärische Integration Deutschlands ins westliche Bündnis zu verhindern. Man stand kurz vor der Unterzeichnung des Deutschland- und EVG-Vertrages; der Ost-West-Konflikt war durch den Korea-Krieg, also der Invasion nordkoreanischer Truppen in Südkorea, auf seinem ersten Höhepunkt; und die Westmächte wie die Bundesregierung befürchteten eine sowjetische Intervention in Westeuropa.

Daher war die Antwort der Westmächte auf die Note auch unmissverständlich: Sie forderten, erstens, freie Wahlen in der DDR; zweitens, die Freiheit und die Souveränität Deutschlands mit dem Recht, selbst über Beitritte zu Bündnissen zu entscheiden; drittens machten sie klar – auch das Misstrauen gegenüber Deutschland war wenige Jahre nach dem Ende des Krieges und der Nazi-Barbarei natürlich noch frisch –, dass ein neutrales Deutschland mit Streitkräften ohne eine europäische Integration keine Option sei.

Auch Bundeskanzler Adenauer gab sich damals keiner Illusion hin; er schrieb: „Ich bin seit Jahr und Tag bei meiner Politik davon ausgegangen, daß es das Ziel Sowjetrußlands ist, im Wege der Neutralisierung Deutschlands die Integration Europas zunichte zu machen (...) und damit die USA aus Europa wegzubekommen und im Wege des kalten Krieges Deutschland (...) und damit auch Europa in seine Machtsphäre zu bringen.“

Aber das ist nicht die einzige Parallele zum Vorgehen Putins heute, der keine Gelegenheit ungenutzt lässt, einen Keil ins westliche Bündnis zu treiben. Auch die Stalin-Note war schon als Fördermaßnahme für Nationalismus angelegt, denn sie enthielt die ausdrückliche Billigung Stalins, unbesehen allen ehemaligen Wehrmachtsangehörigen – gleich welche Verbrechen sie begangen hatten – und sogar Ex-Nazis die bürgerlichen Rechte wieder zuzusprechen. Damit sollte die Note auch den nationalen, rechtskonservativen Kräften im Nachkriegsdeutschland schmackhaft gemacht werden. Diese wären ein Garant für ein national gesinntes, isoliertes Deutschland gewesen – ein Staat auf einem unkalkulierbaren Sonderweg.

Es ist ein Irrtum zu glauben, Putin müsste heute einen aggressiven Virus in die Einzelstaaten der EU einschleusen, damit das als besiegt geglaubte alte Leiden namens „Nationalismus“ wieder ausbrechen könnte. Das braucht er nicht, schließlich gibt es genug Populisten, die am Zwist und Zerfall der EU arbeiten – und das von links wie rechts. Vor allem aber von rechts: Im neuen EU-Parlament gehören mittlerweile 70 Abgeordnete aus 15 Mitgliedsstaaten zur rechtskonservativen Fraktion ECR. Sie ist damit die drittgrößte Fraktion in Straßburg. Gerne gewährt der russische Präsident vielen dieser Parteien Unterstützung durch Kredite wie im Fall des Front National in Frankreich oder andere großzügige Gunstbezeigungen wie für die bulgarische Ataka-Partei oder die ungarische Jobbik. Die AfD ist noch gespalten: Sie will zwar Brüssel-Verächterin, aber keine Moskau-Freundin sein. Noch. Und weiß sie ganz genau, wem sie ihren Nibelungenschatz verkauft, um die Parteikasse zu füllen?

Die Nähe der rechtskonservativen und rechtsextremistischen Parteien zu Putin hat vor allem zwei Gründe. Strategisch eint sie die Gegnerschaft zur Europäischen Union, zur friedlichen europäischen Einigung, zur Transzendierung des Nationalstaates in einen Staatenverbund. Doch während die Rechtspopulisten wieder zurück wollen in die isolierten Festungsanlagen ihrer Nationalstaaten, sucht Putin einfach nur die Axt an die geschwächten Fundamente der EU zu legen, ihre Attraktivität zu schmälern, ihren inneren Streit zu forcieren. Das passt gut zu seinem „Teile und herrsche“ und dem anderen außenpolitischen Kalkül, mit dem er schwelende Konflikte im postsowjetischen Raum – siehe Ukraine, Moldau, Georgien – entfacht und beatmet, um eine Entwicklung der betroffenen Länder zu erschweren und sie als Erpressungsmittel bei etwaigen Verhandlungen, beispielsweise auf OSZE-Ebene, zu nutzen.

Daneben gibt es allerdings auch eine weltanschauliche Nähe zwischen den neuen reaktionären Partnern in Russland und der EU. Putin betreibt durch seine historische, kulturelle und religiöse Aufladung Russlands eine Art politische Gegenreformation, das sich von der westlichen Moderne mit ihren Bürger- und Minderheitenrechten, der Rationalität, dem Pluralismus, dem Säkularismus und der Toleranz abheben will. Es ist der alte Kampf der politischen, kulturellen und religiösen Orthodoxie gegen die rasante und zumutungsvolle Reformation der Moderne. Den Nationalkonservativen und Ultrarechten dürstet es wieder nach dem Gebräu aus religiöser Erweckung, elitistischen Machtphantasien, Antiamerikanismus, Homophobie und der Ablehnung von Demokratie, um sich in ein tausendjähriges Delirium zu versetzen. Das ist das Angebot, das Putin mit seinem scheinbar „spirituellen“, „traditionalistischen“ Autoritarismus macht.
Doch in der Geschichte der Menschheit hat noch nie ein Land, ein Reich oder ein Imperium die Zukunft mit einem Rückgriff in die Geschichte gewonnen. Die Zukunft, so lautet vielmehr die Lehre, kann nur mit der Zukunft gewonnen werden. Russland muss also seine Richtung ändern, wenn es aus der Vergangenheit hinaus will.

So gehen wir ins neue Jahr, und Europa wirkt merklich nervös: Die Osteuropäer schauen mit Bangen und Skepsis auf Russland; die Westeuropäer nach Deutschland wegen seiner traditionell großen Zahl an Russlandfreunden und Amerikahassern. Sie haben die Alternativen vor Augen: Deutschland, eingebettet in die EU und an der Seite des Westens; oder als nationalistische Mittelmacht in Europa neben anderen vom Nationalismus infizierten Nationen unter dem Einfluss eines hegemonialen Russlands. Und dann sind da noch ein paar andere kleine Problemchen: der wackelige Euro, die zentrifugalen Briten, der Hang zu technokratischen Lösungen...

Manch einer hofft, dass es nur darauf hinaus läuft: dass Russland will, dass Europa – halb aus Furcht, halb aus eigenem Nutzenkalkül –, bei allem, was es tut, Russland nicht aus den Augen verliert. Ja, manchmal wirkt Russland tatsächlich wie der wegen seines Benehmens an den Rand gedrängte Halbstarke, der, lernunfähig und lernunwillig, mit seinen alten üblen Sitten und Gebaren um Anerkennung buhlt.
Aber so billig wird es nicht werden.

Der neue Nomos

Was also tun? Das, was man schon tut. Es war eine vernünftige Entscheidung der europäischen Regierungen, als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und der Annexion der Krim Russland mit Sanktionen zu belegen. Und es wäre ein großer Fehler, sie auch nur teilweise oder sogar ganz wieder zurückzunehmen, solange Russland nicht zu Zugeständnissen bereit ist, die Souveränität der Staaten in seinem ehemaligen Herrschaftsbereich zu akzeptieren und jede Destabilisierung zu unterlassen. Doch die Zeichen stehen nicht gut.
Es ist ein Kennzeichen des absolutistischen Staates, wie es heißt, dass seine Politik nur Außenpolitik ist; im Innern gebe es nur die Polizei. Wir dürfen auch annehmen, dass durch die „Ent-Theologisierung“ des öffentlichen Lebens durch den Staat eine Rationalisierung erreicht wurde, die eine Einhegung des Krieges erst weitgehend ermöglicht. Eine weitere Vorbedingung für diese Einhegung ist die Regularität der Soldaten, dazu gehört natürlich vor allem das Tragen der Uniform. Auch in einer stabilen Raumordnung des Flächenstaates kann man eine Bedingung für die Einhegung des Krieges und damit für eine Friedensordnung sehen. Was aber, wenn ein absolutistischer Staat die Politik wieder theologisiert und mit irregulären, hybriden Mitteln arbeitet und sich einer konkreten Raumordnung durch schwelende Konflikte widersetzt? Dann könnte eine Friedensordnung echte Kärrnerarbeit sein.

Es ergibt leider nicht viel Sinn, ständig die Verletzung des Völkerrechts zu beklagen. Es ist ein wichtiges Instrument zur Einhegung des Krieges, aber solange es keinen Weltstaat mit Legislativorganen und Exekutivgewalt gibt, bleibt es ein Recht, das vom Wohlwollen der Staaten abhängig ist und ihrer situativen, strategischen Abwägung zwischen Eigeninteressen, Schutzpflichten und dem Geist des Rechts. Es kann nur partiell zu „geronnener Politik“ werden. Das Klagen kann also nur den Zweck haben, Rechtsverletzer an das Recht zu erinnern. Mehr ist kaum zu erwarten.

Solange sich dies nicht ändert, bleiben politische und wirtschaftliche Sanktionen billige wie teure Rechtsakte. Sie können als multilaterale Druck-, Straf- und Verteidigungsmittel fungieren. Doch sind sie nicht nur aus der Not geboren. Zwar gibt es Handelssanktionen schon seit der Antike, aber durch die heutige Globalisierung, also den weltweiten Handel mit seiner umfassenden Vernetzung, seinen immensen Kapitalströmen, dem fiebrigen Warenaustausch und den fluiden, innovativen Dienstleistungen gründet sich ein neues Recht, eine neue Ordnung in Handelsabkommen und Partnerschaften. Es ergänzt die öffentliche Macht und das private Eigentum, aufgehoben im internationalen Recht, dem alten Nomos, durch das Recht zur Teilnahme. Und es sind die Teilnehmer und Partner, die multilateral andere Teilnehmer ausschließen können. Fraglos, auch das ist eine Frage von Macht. Aber schon die Hanse war so lange erfolgreich, weil sie sich ein eigenes, fortschrittliches Seerecht gab.

Recht auf Teilnahme ist ein neues Stadium globaler Ordnung, ein neuer Nomos. Er beruht auf materiellem und virtuellem Geschehen und der globalen Teilhabe daran; Sanktionen sind das Zwangsmittel dieses neuen Rechts, es ist Strafe, Ausgrenzung, Entzug des Rechts auf Teilnahme am uneingeschränkten Waren- und Finanzverkehr. Wer sich dieses Mittels benimmt, muss sich auf den alten Nomos verlassen können. Kann man es? Oder will man ihn mit militärischen Mitteln ins Recht setzen? Man will nicht, man kann nicht. Europa ist weder eine terrane noch eine maritime Macht, es ist allein eine ökonomische. Mit einer letzten Rückversicherung: dem transatlantischen Bündnis.
Am Beginn des politischen Denkens vor rund 2600 Jahren ging es um die rechte Ordnung, die die Menschen auf dem schmalen Weg zwischen Tyrannei und Bürgerkrieg hindurchführt in eine glückliche Zukunft. Wir könnten sie in Europa gefunden haben. Eine kleine Zwei-Euro-Münze ist die Bulle dieses neuen Nomos, Siegel und bildliche Urkunde zugleich.