Der Flüchtling – ein Leben in der Leere

Literarische Reportage

Unterstützt durch die Heinrich-Böll-Stiftung nahm Khalid Khalifa am 17. Internationalen Literaturfestival Berlin teil, das vom 6. bis 16. September 2017 stattfand. In seiner literarischen Reportage erzählt er vom Bleiben in Syrien.

Luftaufnahme von Aleppo im Jahr 2009
Teaser Bild Untertitel
Aleppo im Jahr 2009

Aus dem Arabischen von Larissa Bender.

Meine Schwester, die ich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen habe, erzählte mir am Telefon, dass sie das Meer in einem Schlauchboot überqueren wolle. Dann legte sie auf. Meine Meinung dazu wollte sie nicht hören. Sie begnügte sich damit, mir in äußerst emotionalen Worten ihre drei Söhne für den Fall ans Herz zu legen, dass sie ertrinken würde.

Einige Minuten später versuchte ich, die mir unbekannte türkische Nummer zurückzurufen, doch das Telefon war aus. Plötzlich gingen mir unzählige Bilder unserer Kindheit durch den Kopf. Es ist nicht leicht, sich von einem halben Jahrhundert, einem Teil des eigenen Lebens zu verabschieden und bangen zu müssen, dass diejenigen, die man liebt, ertrinken.

Kälte kroch mir in die Glieder, mein Kopf war leer, ich hatte keine Kraft mehr zu diskutieren. Was hätte ich denn einer Frau schon sagen können, die ihre Wohnung und ihr ganzes Hab und Gut verloren hatte und die ihre Jungen, um diese nicht auch noch zu verlieren, auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort durch die ganze Türkei geschleppt hatte.

Da die Situation in der Türkei für eine einfache Frau wie sie, genau wie für Millionen anderer Syrer, alles andere als leicht ist, war ihr nur die Hoffnung auf Asyl in Europa geblieben – auch wenn das bedeutete, sich in ein Schlauchboot zu setzen. Die Botschaft, die sie mir mitteilen wollte, kannte ich bereits: Den Syrern bleibt keine andere Hoffnung als das Meer.

Meine Schwester ist nicht ertrunken, sie hatte Glück. Freunde halfen ihr in Griechenland und anderswo auf ihrem Weg. Über die bitteren Erfahrungen mit Schleusern, die ihr die wenigen Habseligkeiten raubten und sie auf verschiedenen Flughäfen ihrem Schicksal überließen, will sie nicht sprechen, aber sie erreichte schließlich ihr Ziel und traf in Dänemark Freunde von uns, die sie unterstützten. Andere, die gleichfalls das Abenteuer einer Überfahrt gewagt hatten, sind hingegen ertrunken.

Der Gedanke ist unvorstellbar, und wenn der Tod verschiedene Farben hat, so ist der schwärzeste aller Tode bestimmt der Tod durch Ertrinken. Der menschliche Körper verliert, wenn er zum Fraß der Fische wird und sich wie Salz im Wasser auflöst, vollkommen seine Bedeutung.

Ein paar Tage später bekam ich einen ähnlichen Anruf von meinem jüngsten Bruder, der seine Wohnung in Aleppo verlassen hatte, um nach Mersin zu gehen, wo er seine Familie zurückließ. Allein trat er dann die beschwerliche Fahrt über das Meer nach Griechenland an, von dort nach Italien, und schließlich landete er in Schweden.

Ich erhielt danach immer mehr Anrufe von nahen Verwandten, von den Söhnen meiner Geschwister, von Freunden, und sie alle erzählten mir, dass sie auf dem Weg in Richtung Meer seien. Ich erkundigte mich weder nach den Details der Reise noch diskutierte ich mit ihnen. Ich wünschte ihnen einfach alles Gute und bat nur darum, dass sie mir Bescheid geben, ob alles gut gegangen sei.

Hunderttausende Syrer befinden sich zurzeit in der gleichen Situation. In den Cafés türkischer Städte tauschen sie Telefonnummern von Schleusern und Informationen über die besten Routen aus und veröffentlichen diese auf Facebook.

Ich erinnere noch, wie ich im Sommer 2015 von Damaskus über Beirut nach Istanbul reiste. Die Art der Fluggäste weckte meine Neugier, denn alle waren ungefähr vom gleichen Typ: junge Männer, kaum 20 Jahre alt, und eine Gruppe Frauen mit ihren Kindern. Sie kamen mir vor wie Freunde aus der Kindheit oder wie Verwandte. Aus der Art ihrer Fragen ging hervor, dass sie unser Land gerade zum ersten Mal verließen. Nachdem das Flugzeug in Damaskus abgehoben hatte, atmeten sie auf und begannen laut über die nächsten Schritte zu diskutieren.

Sie würden nach Istanbul reisen und von dort mit einem anderen Flugzeug zur am nächsten an der griechischen Grenze gelegenen Stadt fliegen. Die meisten dieser jungen Männer waren vor dem Militärdienst geflohen und genossen nun den Luxus, zum ersten Mal in einem Flugzeug zu sitzen. Alles schien vorab für sie geregelt worden zu sein. Ich bemerkte einen Mann in den Vierzigern, der sie auf dem Flug von Damaskus nach Beirut mit wichtigen Informationen versorgte. Im Transitbereich des Flughafens von Beirut wiederholte sich das Ganze, und die Frauen erhielten die gleichen Direktiven.

Ich dachte nun wieder an diese jungen Leute, deren letzte Hoffnung in einer Reise über das Meer bestand. Das war zwar auch damals nichts Neues mehr für mich, und obwohl es schmerzlich war, es mit eigenen Augen zu sehen, fand ich die Vorstellung gleichzeitig auch kurios, dass sich eine ganze Gruppe von Freunden entschieden hatte, kollektiv zu emigrieren.

Ich musste daran denken, wie wir uns als Kinder in meiner Clique ewige Treue geschworen und davon geträumt hatten, unser Leben gemeinsam zu planen. Und diese jungen Männer hier hatten sich entschieden, entweder zusammen zu leben oder zusammen zu sterben. Ihnen stand zwar die Angst in den Augen, doch in der Gruppe fühlten sie sich auch stärker. Ich beobachtete, wie sie versuchten, sich gegenseitig Mut zu machen, um all das überstehen zu können, was auf sie zukam.

Die meisten meiner Freunde haben inzwischen das Land verlassen und wurden Flüchtlinge. Mir bleibt nur noch, nach den Namen von Verschollenen und Ertrunkenen zu schauen und die Adressen meiner Freunde nachzuverfolgen. Immer wenn ein Boot kentert, warte ich wie verrückt auf eine Meldung, durchsuche die Listen von ertrunkenen Personen, sammle Fakten, aus welcher Stadt oder welchem Dorf sie stammen, welche Familiennamen sie tragen, nach irgendwelchen Fotos.

Im Jahr 2015 hatte ich mit der gleichen Hysterie die Fotos betrachtet, die von den Toten in den Gefängnissen des Regimes gemacht und außer Landes geschmuggelt worden waren und als »die Fotos von Caesar« bekannt wurden. Ich forschte nach verhafteten Freunden, denn Dutzende von ihnen sind verschwunden, über deren Verbleib wir nicht das Geringste wissen. Wir haben keine Nachricht von ihnen, keine mündliche Botschaft, es gibt niemanden, der sie gesehen oder irgendeine Information über sie hat.

Ich durchsuche die Fotos, und wenn ich einen Verdacht hege, versuche ich mich an Details zu erinnern, an ein Muttermal auf der Wange, eine Wunde am Knie. Aber die Suche nach den Ertrunkenen oder den Toten und das Warten auf die Rückkehr der Verhafteten sind sinnlose Unterfangen, genauso sinnlos, wie in jenen Städten auszuharren, die nur darauf warten, als nächstes zerstört zu werden.

Der Strom der Auswanderer riss indes nicht ab. In den Jahren 2013 und 2014 hatten wir noch große Abschiedspartys für unsere Freunde veranstaltet, die uns verlassen würden, um ihre Reise ins Unbekannte anzutreten. Über Alternativen haben wir nicht mehr mit ihnen diskutiert, genauso wenig wie über unsere eigenen Erfahrungen berichtet.

Die Migration hatte sich zu einer Epidemie entwickelt, die sich im ganzen Land ausbreitete, alles leerte sich, alles veränderte sich in rasender Geschwindigkeit, die Straßen wurden leerer, in den Fenstern schien kein Licht mehr.

Ich leide sehr unter dem Verlust meiner Freunde. Es hat alles keinen Sinn mehr. Wir, die im Land Gebliebenen, sind nur noch damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Wir fragen uns nicht mehr, wer weggehen wird, sondern: Wann wirst du gehen? Oder: Du bist noch hier? Zum ersten Mal spüren wir, was kollektive Trennung bedeutet.

Anfänglich hatte ich noch bezweifelt, dass sie wirklich alle nicht mehr zurückkämen; ich hielt ihre Abwesenheit für zeitlich begrenzt. Aber jetzt, nach all diesen Jahren, habe ich mich ohne sie in meinem Leben eingerichtet. An der Stelle der Leere, die sie hinterlassen haben, hat sich eine andere Leere breitgemacht. Ich stelle mir nicht mehr vor, wie sie jetzt aussehen, denn jemand wie ich, der die ganze Zeit mit Menschen lebt, die er auf dem Papier erfindet, und die Fantasie preist, spürt den Mangel nicht. So klammere ich mich noch mehr an mein Leben hier.

Und trotzdem befürchte ich mittlerweile, von der Migrationsseuche angesteckt zu werden, die zusammen mit der Verzweiflung um sich greift, die ich jeden Morgen auf den Gesichtern der Menschen wahrnehme. Ich frage mich, ob ich wohl bleiben würde, wenn mein Haus zerstört wäre, und denke, selbst dann würde ich bleiben. Warum? Darauf habe ich keine Antwort.

Vielleicht weil mich die Tatsache verlegen macht, dass ich an dem Ort festhalten möchte, dessen Geruch mir so vertraut ist. Es sind letzten Endes die Illusionen eines einsamen Schriftstellers, der nichts mehr zu verlieren hat, weil er zu lange dabei zusehen musste, wie ein Volk versucht hat, sein Land zurückzubekommen, und es dabei vollständig verliert.

Es scheint für die Wiedererlangung seiner Freiheit und seiner Würde mit jedem Stein, jedem Viertel, jedem Baum bezahlen zu müssen. Die Syrer können ihr Land den Klauen der Diktatur nicht entreißen, in der sie seit 50 Jahren leben und in der sie, in Verteidigung einer jahrtausendealten Kultur, schon unzählige Möglichkeiten des Widerstands erprobt haben. Eine davon war das Schweigen und das Warten.

In den vergangenen Jahren habe ich viele Einladungen erhalten, bin durch die Welt gereist und habe Syrer getroffen, die das Land bereits vor Jahren verlassen hatten. Ich habe ihr Leben betrachtet und festgestellt, dass der Flüchtling seine alte Identität verliert, aber keine neue gewinnt. Die Vorstellung, die vielen kleinen Gewohnheiten aufgeben zu müssen, die für mich persönliches Glück bedeuten, ist mir unerträglich.

Ich denke an meinen morgendlichen Kaffee zu Hause oder mit Freunden im Café, bevor sie zur Arbeit gehen, an unsere Plaudereien, an die Gerüche der Stadt, die gemeinsamen Abendessen, den Duft des Herbstregens. Meine Freunde, die jetzt Flüchtlinge sind, vermissen all diese Dinge sicherlich, aber sie haben sie auch aufgegeben.

In den letzten Monaten telefonierten wir und schrieben uns über Facebook und per E-Mail in immer größeren Abständen. Als das letzte Mal Regen in Damaskus fiel, feierten nicht mehr wie früher Hunderttausende Geflüchtete in aller Welt ein Fest der Sehnsucht. Die gemeinsamen Momente wurden immer seltener, wir sprachen kaum noch über die Probleme der Integration in eine fremde Kultur oder über den möglichen Verlust der ursprünglichen Identität. Ich verstehe ihre Frustration und kenne die Schwierigkeiten, unter denen sie leiden, und weiß von ihrer Angst um uns, die wir hiergeblieben sind, während der Krieg uns überall auflauert.

Ich habe weder meine Empathie verloren noch möchte ich mich als Soziologe aufspielen, aber die syrischen Geflüchteten unterscheiden sich genau betrachtet von anderen Flüchtlingsgruppen. Die verschiedenen Kulturen und Schichten zu untersuchen, aus denen die syrischen Geflüchteten stammen, würde Hunderte Seiten füllen.

Ich möchte vor allem über Menschen schreiben, die geflüchtet sind und uns verlorengingen. Wir hoffen zwar, dass sie die Welt für sich gewinnen, aber ich bin mir nicht sicher, dass es gelingt, denn der Verlust der Identität ist, als risse man sich das Herz heraus.

Eine Zeitlang klingelte mein Telefon sehr oft. So berichtete etwa der über 70-jährige Vater eines Freundes, der geflüchtet ist, weinend, dass er mit jemandem sprechen möchte, der seine Sprache versteht und ihre Geheimnisse kennt, dass er einen Witz in seinem Dialekt hören und von Herzen lachen möchte. Von Herzen lachen, das ist es, was die Menschen im Leben möchten, und Geflüchteten wird dieses Glück meist nicht mehr zuteil, zumindest nicht in den ersten Jahren in der Fremde. Irgendwann ist das Klingeln verstummt, denn früher oder später versinken alle im schwarzen Nichts des Flüchtlingsdaseins.

Erst waren es Hunderte, dann Tausende, schließlich Hunderttausende, und jetzt sind es Millionen Geflüchtete. Manche Bilder aus Ländern, in denen Flüchtlinge nicht willkommen geheißen werden, versetzen mich in Panik. Die Bilder von Nazis, die Geflüchtete bedrohen, jagen mir Angst ein. Die Schilder in libanesischen Ortschaften, auf denen steht, dass es Syrern verboten sei, sich nach sechs Uhr abends auf der Straße aufzuhalten, sowie Transparente, auf denen Geflüchtete beschimpft werden, erschrecken mich.

Die ungarische Reporterin, die einen Syrer tritt, der, mit seinem Sohn auf dem Arm, vor einem Krieg flieht, den er nicht gewollt hat, macht mich fassungslos; trotzdem wurde dieser Journalistin kürzlich ein Preis verliehen. Dass jemand einen Preis erhält, der meine Landsleute mit Füßen tritt, jagt mir Angst ein. Ich fühle mit den vielen Menschen, deren Schicksal ich kenne.

Wenn ich an ihre Leiden denke, werde ich von Schlaflosigkeit geplagt. Ich will mich nicht damit abfinden, dass wir eines Tages aufwachen und die Stadt entvölkert ist, ohne Menschen, ohne Licht in den Häusern, ohne Autos. Und dass uns, wenn wir nach dem Warum fragen, klar sein muss, dass alle einen Anteil daran haben, wenn aus uns eine Gesellschaft von Flüchtlingen geworden ist.

Menschen, die noch nie Kontakt zu Syrern hatten und nichts über die alte und die neue Geschichte Syriens wissen, mag es überraschen, aber es ist eine Tatsache, dass die Syrer in den letzten 100 Jahren selbst viele Geflüchtete aufgenommen haben, die dem Tod entkommen waren. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren es Armenier, dann Tschetschenen und Albaner, die vor Massakern und Kriegen fliehen mussten. Nach der Niederlage von 1948 und dem Junikrieg von 1967 kamen mehr als eine Million Palästinenser nach Syrien.

Den Höhepunkt aber bildeten die über drei Millionen irakischen Geflüchteten, die nach der amerikanischen Invasion im Jahr 2003 nach Syrien kamen. Und im Julikrieg im Jahr 2006 schlossen die Syrer nicht einen Tag ihre Grenzen, sondern nahmen Hunderttausende Libanesen als Geflüchtete auf.

Schon in früheren Zeiten gab es Migrationsbewegungen, die Syrien zu einem Land gemacht haben, das eine starke Anziehung auf Geflüchtete ausübt. Seit jeher haben sich viele verschiedene Völker in Syrien niedergelassen und dieses Land als ihre neue Heimat gewählt.

Gleichzeitig war Syrien im letzten Jahrhundert auch immer ein Land, aus dem Migranten abwanderten. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts strömten Hunderttausende Syrer nach Nordamerika und in die lateinamerikanischen Staaten, wo sie oft äußerst erfolgreiche Lebenswege beschritten.

Laut einer Statistik aus dem Jahr 2006 leben 20 Millionen Menschen syrischer Abstammung außerhalb Syriens, die meisten von ihnen in Argentinien und Brasilien. Doch die Gründe, warum Syrer damals ihr Land verließen, waren ganz andere als die, welche die Menschen heute zur Flucht zwingen.

Ihre Zahl wird bald die Sieben-Millionen-Grenze erreicht haben, und von diesen Geflüchteten leben die meisten unter unvorstellbar schlechten Umständen in Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon. Aber auch die Geflüchteten in den türkischen Lagern, wo die Situation angeblich besser ist, leben unter großen Schwierigkeiten, insbesondere was die Ausbildung ihrer Kinder betrifft.

Eine ganze Generation von Syrern ist dort von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Demgegenüber haben es jene Glücklichen besser, deren Boote nicht gekentert sind und die es zum Beispiel bis nach Deutschland oder Frankreich geschafft haben, wo nicht wenige Menschen Mitgefühl mit Migranten zeigen.

Die weitaus größere Zahl von Geflüchteten lebt jedoch in Lagern wie im jordanischen Zaatari unter unvorstellbaren Bedingungen. Sie sind der grundlegenden Menschenrechte beraubt. Hinzu kommt ihre ständige Furcht davor, dass die Grenzen geschlossen werden, um Menschen die Flucht vor dem anhaltenden Krieg zu verwehren.

Nicht vergessen sollten wir allerdings, dass aber auch schon früher, unter der Herrschaft von Hafiz al-Assad und seinem Sohn Baschar, Menschen aus Syrien vertrieben wurden. Die grausame Unterdrückung durch das Regime und das Fehlen grundlegender Menschenrechte ließen das Land im Laufe der letzten 50 Jahre zu einem Königreich der Angst werden.

Dies führte zu einer fortwährenden Abwanderung von Talenten. Hunderttausende Syrer lebten bereits vor 2011 in den Golfstaaten, und Millionen studieren heute in Europa und den USA, wo sie für immer bleiben werden. Ein Blick auf die Statistik offenbart erschreckende Zahlen.

Aus einem kleinen Land wie Syrien mit einer Fläche von 185 000 Quadratkilometern und 24 Millionen Einwohnern vor 2011 stammen wohl allein in Frankreich 10 000 Ärzte, und vermutlich leben genauso viele in den USA und anderen Ländern. Das Regime begnügt sich jedoch nicht damit, diese Experten aus dem Land zu treiben, sondern es verfolgt sie noch bis ins Exil und hindert sie daran, sich zusammenzuschließen.

Das Regime sät Argwohn unter den Syrern und droht damit, den noch in Syrien lebenden Familien etwas zuleide zu tun. Außerdem wird den Exilanten angekündigt, ihnen die Rückkehr in ihre Heimat zu verwehren. Solche Drohungen untergraben die Bemühungen der Syrer, sich zu verbünden und Druck auf ihre jeweiligen Gastländer auszuüben.

Syrische Migranten und Exilierte rufen seit jeher Mitleid bei Migranten anderer Länder hervor, die sich gegenseitig unterstützen können und denen es gelingt, ihre eigene Kultur in einem fremden Land zu leben. Vergleicht man beispielsweise die Erfahrungen der Argentinier mit denen der Syrer, so wird einem klar, wieviel schwieriger und begrenzter das Leben der Syrer im Exil immer schon gewesen ist.

Bis heute können Syrer nicht verstehen, wie sie von einem Aufnahmeland für Geflüchtete selbst zu einem Volk von Geflüchteten werden konnten. Und warum überall, wohin sie fliehen, die Grenzen geschlossen und ihre Kleidung, die Linien ihrer Handflächen und ihre Herzen strengen Prüfungen unterzogen werden.

Bei der Betrachtung dieses furchtbaren Krieges müssen wir feststellen, dass die Welt, die die Syrer im Stich ließ, mehr noch, die ihr Abschlachten und ihr Sterben im Mittelmeer absegnete, gleichzeitig immer auch Gründe findet, Mitleid zu haben. Das Foto des toten kleinen Aylan erschütterte ein paar Tage lang die Welt, um nur allzu schnell wieder in Vergessenheit zu geraten – genauso wie die Suche nach den Ursachen für die syrische Tragödie und die Frage, wie dieser Krieg beendet werden könnte.

Immer wieder wird ein ähnliches Foto die Welt einige Augenblicke innehalten lassen, um Mitleid für ein Volk zu empfinden, das unter den unablässigen Bombardements des Regimes und Russlands leidet.

Aber sie wird trotzdem nicht ernsthaft darüber nachdenken, wie dieses endlose Blutvergießen beendet werden könnte. Die Bombardements ähneln der »Chronik eines angekündigten Todes«, und die Verwandlung eines ganzen Volkes in Geflüchtete scheint das heimliche Ziel zu sein. Statt diesen Krieg zu beenden, wird er stetig angefacht, indem immer wieder Feinde geschaffen werden, um die Bevölkerungen in den europäischen, amerikanischen und übrigen Ländern davon zu überzeugen, dass eine Lösung unmöglich sei. Dass der sogenannte Islamische Staat entstehen konnte, ist nur ein schrecklicher Beleg dafür, dass die Welt ihre moralische Verantwortung dafür nicht wahrgenommen hat, ein Volk in seinem Streben nach Freiheit und Demokratie zu unterstützen.

Obwohl die europäische Kultur und die Moderne insbesondere auf dem Drang zu forschen und zu fragen basieren, scheint man hier keine Fragen stellen zu dürfen. Oder wer fragt danach, wer eine faschistische und verbrecherische Organisation wie den IS – der sich wie ein Staat aufführt, dessen Souveränität die Welt zu respektieren habe – geschaffen und wer sie finanziert hat? Wer die Besetzung ganzer Städte ermöglicht und weggesehen hat, als lange Autokolonnen die Wüste zwischen der syrischen Stadt Rakka und dem irakischen Mossul durchquerten?

Werden diese Fragen heute nicht mit Nachdruck gestellt, werden sämtliche Werte der Zivilisation wie Gerechtigkeit, Verurteilung von Kriegsverbrechen, Demokratie und das Recht auf Selbstbestimmung zerstört, Werte, für die die Menschheit lange gekämpft und für deren Verwirklichung sie einen hohen Preis bezahlt hat.

Doch genau das ist bereits geschehen: Die Menschheit hat sich von all diesen Werten verabschiedet. Wir haben es mittlerweile mit einem wahren Monster namens IS zu tun, und es wird unablässig darüber diskutiert, wie es zu besiegen wäre. Dieser IS ist eine der Ursachen für die Millionen von Geflüchteten und die Entvölkerung ganzer Länder.

Wir werden uns an die Vorstellung gewöhnen müssen, dass in sehr naher Zukunft ganze Ethnien und Religionsgemeinschaften an die Stelle anderer Ethnien und Religionsgemeinschaften treten werden. Und dass diese Umverteilung der Preis für die Beendigung des Krieges und des Blutvergießens sein wird, während über die Rolle des Regimes und seiner Verbündeten weiter geschwiegen wird.

Es geht in Syrien darum, wie ein ganzes Volk entweder zu Mördern oder zu Geflüchteten werden konnte; und um die Frage, warum die ganze Welt dazu schweigt. Die vielen Beteuerungen, insbesondere der westlichen Staatsoberhäupter, dass Zivilisten geschützt werden müssten und syrische Städte und Dörfer nicht entvölkert werden dürften, sind nichts anderes als Worte zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Eine tatsächlich konstruktive Rolle bei der Beendigung des Krieges und der Überführung der Verbrecher an den Internationalen Strafgerichtshof spielen sie nicht.

Man kann aber die Bilder nicht einfach wegwischen, und ich kann mich auch nicht damit begnügen, die Freunde, die ich verloren habe, sporadisch in ihrer neuen Heimat zu treffen. Ich denke dabei etwa an meinen Aufenthalt in Oslo im Jahr 2013, als eine Freundin, die dorthin geflüchtet war, zu meiner Veranstaltung kam. Sie war völlig verzweifelt und weinte die ganze Zeit.

Ich konnte den Anblick ihrer Tränen nicht ertragen und musste meine Lesung für ein paar Minuten unterbrechen. Es fällt mir schwer zu beschreiben, welche Art von Briefen wir seitdem austauschen. Ebenso schwer fällt es mir zu beschreiben, wie unendlich bitter das Exil ist. Viele haben ihr neues Leben nicht frei gewählt, sondern wurden dazu gezwungen.

Die meisten von ihnen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Viele leben in der Fremde, um die nächste, gesunde Generation von Kindern großzuziehen, die sich in das neue Leben integrieren, sie kennen aber das frühere Leben ihrer Eltern nicht mehr. Es sind zwei Lebensweisen, die nebeneinander existieren und nicht miteinander verschmelzen können, so sehr sich alle Beteiligten auch darum bemühen.

Und das wird so sein, bis alle Zeugen gestorben sind, bis die Kinder, die einst Geflüchtete waren, gelernt haben, in fremder Umgebung in Frieden zu leben und ihre neue Identität anzunehmen. Aber bis diese letzten Zeugen gestorben sind, wird eine lange Spur der Trauer von Berlin und den anderen deutschen, französischen, türkischen oder skandinavischen Städten bis in die Orte und Gassen Syriens bestehen bleiben.

Mein Bruder hat kürzlich die Erlaubnis auf Familienzusammenführung erhalten. Er macht aus seiner Freude über das Ende der Trennung keinen Hehl und lernt jetzt Schwedisch. Ich bezweifle allerdings, dass er es, mit fast 50, wirklich lernen wird. Meine Schwester lernt jetzt noch Dänisch, im besten Fall wird sie ein paar Dutzend Sätze beherrschen, die ihr erlauben, Petersilie zu kaufen, um Tabbouleh zuzubereiten, denn darin ist sie eine Meisterin.

Und um das Rezept ihren Nachbarn zu erklären, die sie aber nicht besuchen werden und sich noch nicht mal nach ihr erkundigen werden, falls sie alleine stirbt. Es wird wahrscheinlich niemanden kümmern, während es in unserer Kultur eine Schande für die ganze Familie ist, wenn ein Familienmitglied irgendwo allein plötzlich verstirbt.

Andere Freunde versuchen uns auf unterschiedlichste Art und Weise davon zu überzeugen, dass sie in ihrem Exil glücklich sind. Und diejenigen, die bislang noch hiergeblieben sind, werden einer nach dem anderen verschwinden, Familie für Familie, bis die Vorstellung von einer leeren Stadt in ein paar Jahren Realität sein wird.

Es bleibt letztendlich meine Überzeugung, dass der Geflüchtete seiner Identität beraubt wird. Er wird keine neue Identität erhalten und seine alte nicht vergessen können. Er lebt ein Leben in der Leere. Es ist ein schmerzliches Leben, so sehr wir auch versuchen, es schönzureden.

Damaskus, 26. Oktober 2016

 

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V.

© 2016 Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V.
Übersetzung © 2016 von Larissa Bender
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Dieser Beitrag erschien auch in „Refugees Worldwide. Literarische Reportagen“ , herausgegeben von Ulrich Schreiber und Luisa Donnerberg.