Digitalisierung: Land für Pioniere

Energieatlas

Wie können Millionen von Solarmodulen und Windturbinen in ein zuverlässiges System integriert werden, das Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmt? „Smarte“ Techniken liefern die Lösung.

Teaser Bild Untertitel
Ausschnitt (vollständige Grafik siehe unten)

Am 20. Mai 2015 stand das deutsche Stromnetz vor einem Problem, das zehn Jahre zuvor nicht einmal denkbar gewesen wäre. Eine partielle Sonnenfinsternis verringerte ab 10 Uhr morgens die Helligkeit um bis zu 70 Prozent. Als die Sonne hinter dem Mond verschwand, produzierten Solarzellen mit einer Kapazität von sechs Atomkraftwerken keinen Strom mehr. Die Netzbetreiber hatten für diesen Tag Monate im Voraus geplant. Denn aus Stromnetzen muss immer die gleiche Menge Elektrizität abgegeben werden wie in sie eingespeist wird. Wenn nur ein geringes Ungleichgewicht zwischen den beiden besteht, kann es zu einem Stromausfall oder Stromstoß kommen. Der plötzliche Verlust einer so großen Erzeugungskapazität ist ein Worst-Case-Szenario.

Es gab im Vorfeld viele Diskussionen darüber, ob schnell reagierende Gaskraftwerke einen solchen plötzlichen Stromausfall kompensieren könnten. Und sie konnten. Aber als die Sonne am Mittag wieder vollständig zu sehen war, stand sie am höchsten Punkt. Mehr als 1,5 Millionen Solaranlagen kamen mit der Kraft von jetzt zwölf Atomkraftwerken ins Netz zurück. Die Netzbetreiber versuchten, für den plötzlichen Anstieg des Solarstroms Platz zu schaffen. Die großen fossil befeuerten Kraftwerke, die gerade die Lücke in der Erzeugung gefüllt hatten, mussten wieder stillgelegt werden. Gegen Mittag war alles vorbei, und die Erneuerbaren deckten wieder 40 Prozent des deutschen Strombedarfs. Innerhalb von nur zwei Stunden hatte das deutsche Stromnetz einen Großteil seiner Stromerzeugung von einer Quelle auf die andere und wieder zurück verlagert.

Ein großer Teil des Energiesystems ist noch nicht digitalisiert

Dies zeigt, wie stark sich das Energiesystem in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Die Zeit der großen, monopolistischen Versorgungsunternehmen ist vorbei. Die Stromerzeugung hat sich von einigen Hundert großen, zentralen Kraftwerken hin zu Millionen von kleinen, dezentralen Solaranlagen und Windturbinen verlagert. Bei angestrebten 100 Prozent erneuerbarer Energie muss klar sein, dass zukünftig länger anhaltendes wolkiges Wetter die gleiche Wirkung haben kann wie eine Sonnenfinsternis – nur ist dies fast unvorhersehbar. Um sicherzustellen, dass das Netz stabil bleibt, müssen Kommunikation und Interaktion zwischen Erzeugung, Nachfrage, Speicherung und Netz enorm gesteigert werden. Der Schlüssel dazu ist die Digitalisierung.

Manche nennen den Ökostrom bereits „Digitalstrom“ – denn dies wird im kommenden Jahrzehnt sein neues Kennzeichen
Der größte Teil der Infrastruktur des Energiesystems ist heute noch nicht digitalisiert. Wenn überhaupt, dann sagen Computer die Energieerzeugung und das Wetter voraus. Es existieren digitale Handels- und Abrechnungssysteme, aber meist nur bei den großen Energiekonzernen. Die Datenverarbeitung in der Energiewirtschaft ist heute noch beinahe auf dem Stand vor der Erfindung des Personal Computers. Informationstechnologie wurde im großen Stil vor allem im Bankwesen, in der Raumfahrt oder der Forschung an Universitäten eingesetzt. Erst PC und Internet erlaubten die uneingeschränkte Interaktion zwischen Personen in Netzwerken und lösten einen Schub an Innovationen aus.

So ist die Lage heute: Pioniere unternehmen erste Schritte, um Technologien im Energiesystem zu demokratisieren. Ihre Ziele sind etwa die Bündelung kleinteiliger Speichereinheiten zu großen „virtuellen Kraftwerken“ oder Elektrofahrzeuge, die an Straßenlaternen aufgeladen werden können. Oder lokale Mininetze: Kleinere Stromerzeuger können ihre eigene Energie verbrauchen oder direkt an Nachbarhäuser verkaufen.

Großkonzerne wehren sich gegen neue Technologien

Warum steckt die Digitalisierung im Energiesektor noch in den Kinderschuhen? Die Einführung neuer Technologien und Ideen in einem streng regulierten Sektor ist eine Herausforderung. Allein in Deutschland bestimmen mehr als 10.000 Gesetzesparagrafen das Energiesystem. Konzerne suchen nach juristischen Gründen, um neue Technologien vom Markt fernzuhalten. Junge Unternehmen finden sich oft in rechtlichen Auseinandersetzungen über die trivialsten Fragen wieder.

Digitale oder „intelligente“, „smarte“ Zähler könnten die Nachfragezeiten und ihre schwankenden Strompreise registrieren. Doch sie sind in vielen europäischen Ländern immer noch nicht verfügbar. Für die Zeiten hoher Nachfrage entwickeln sich Strommärkte langsam und sind oft auf Großverbraucher wie Papierfabriken oder Kläranlagen beschränkt. Wer eine kleine, flexible Batterie-Einheit betreiben will, um billige Überschüsse einzulagern und sie später teurer zu verkaufen, muss sie mit anderen Anlagen zu virtuellen Kraftwerken bündeln, um Einnahmen zu generieren.

Die Digitalisierung steckt noch in den Kinderschuhen und kämpft gegen Konzerne, Paragrafen und die Lethargie von Politikerinnen und Politikern

In ihrem zur Beschlussfassung vorliegenden Clean Energy Package möchte die EU allen aktiven Verbraucherinnen und Verbrauchern den Zugang zum Energiesystem ermöglichen. Der Gesetzesentwurf will Haushalten erlauben, Strom zu erzeugen, zu speichern und zu verkaufen. Das wäre vergleichbar mit der Öffnung des Internets für kommerzielle Internetprovider zu Anfang der Neunzigerjahre.

Die Zukunft des Energiesystems hängt weitgehend davon ab, ob neue Technologien entweder als Instrumente zu Demokratisierung und Teilhabe oder nur zur Effizienzsteigerung der etablierten Energieriesen eingesetzt werden. Einige begrüßen die Digitalisierung als Gestalter eines dekarbonisierten Systems – erneuerbare Energien, Batteriespeicher, Elektroautos und das Stromnetz würden leise und digital für den Strom sorgen, während die Menschen ihrem Alltag nachgehen. Andere sehen in der Digitalisierung die Überwachungsgefahr. Dritte wieder halten sie für einen Hype. Wegen der lebenswichtigen Rolle der Elektrizität, sagen sie, sollte die Kontrolle über das System am besten an große, erfahrene Energieunternehmen übertragen werden.

Es bleibt abzuwarten, welche Ansicht sich durchsetzen wird.