Mein 1968 in Bonn

Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung berichten von ihren ganz persönlichen Erlebnissen im Jahr 1968. Hartmut Streppel schreibt über seine Schulzeit in Bonn, erste Demonstrationen und politische Einmischung. 

Bonn war als Sitz der Bundesregierung und der Ministerien Provinz und Weltstadt in einem: ruhig, vornehm konservativ, beamtenheimstättisch, aber auch rheinisch offen und voller fremdländisch aussehender Gäste von den Botschaften und der großen Universität – und Ziel von Demonstranten gegen und für alle möglichen Themen. Ich, Jahrgang 1954, war zu jung, um die politischen Vorgänge um 1968 umfassend einordnen zu können.  Aber ich hatte lange Haare, trug einen grünen Parka, interessierte mich für die „fürchterliche“ Musik aus England und fühlte mich wie alle anderen stark.

Der Lehrkörper des von mir besuchten Gymnasiums in dem von liberalkonservativen Ministerialbeamten bewohnten Vorort von Bonn, in dem Mitte der 1960er Jahre der Kulturkampf mit zerstochenen Reifen tobte, weil die bisher katholische Grundschule in eine Gemeinschaftsschule umgewandelt werden sollte, war eher liberal im guten Sinne. Unser Direktor „rettete“ allein für unsere Klasse drei Schüler, die auf einem erzkonservativen Gymnasium in der Stadt keine Chance gehabt hatten. Unser erster Klassenlehrer war SPD-Mitglied, kandidierte für den lokalen Gemeinderat und brachte uns die eine oder alternative Wahrheit über die Politik bei.

Im Jahr 1968, an einem Morgen kurz nach dem 21. August, hatten einige Schüler morgens im Umkleideraum der Turnhalle selbstgemalte Plakate auf dem Zeichenblock dabei, mit tschechischer Fahne, „Dubček/Svoboda“, „Freiheit für die ČSSR“ und anderen Parolen. Ich vermute, wir hatten Kunst an dem Tag und hängten die „Plakate“ an die Wände unseres Klassenzimmers. Ein späterer Mitschüler berichtete, er hätte mit einer erzürnten Gruppe junger Leute an diesem Tag die Straße vor der russischen Botschaft in Rolandseck teilweise blockiert und ein kleines Spiel mit – oder war es gegen? – die Polizei gewonnen. Eine erste Erweckung, dass wir nicht allein auf dieser Welt waren und uns einmischen mussten.

Ich kaufte mir das Kursbuch #12 – „Der nicht erklärte Notstand“ – und verstand, dass die Herrschenden nicht immer recht haben. Die Notstandsgesetze wurden diskutiert und die bunten, intelligenten, kleinen Aufkleber, die dagegen sachlich, deutlich Stellung bezogen, klebten überall. Wir diskutierten im Unterricht über die RAF, ich hielt ein Referat über Ulrike Meinhof und hatte dafür fast alle ihre Konkret-Leitartikel gelesen. Wir fanden den Stadtplaner doof, der uns im Deutschunterricht erklärte, er wolle den Rasen in seinem Garten komplett durch Steine ersetzen.

In privaten Zirkeln sahen wir Filme über die Realität in der UdSSR, der DDR und in Kuba, wobei uns das letztere eher zusagte. Einige gingen zu den Jusos, wo ich auch eine Zeitlang reinschaute und im kleinen Arbeitskreis, u.a. mit dem Sohn unseres Klassenlehrers, Ernest Mandel las; andere mischten die Jugendarbeit auf und gründeten neue Jugendgruppen. Wieder andere verfielen den Drogen oder begannen zu meditieren; einige machten mehreres. Die Jungen trugen lange Haare, die Mädchen kurze Röcke und fast alle waren sehr selbstbewusst.

Wir boykottierten einen Tag lang die Schule, weil 4 von 5 Stunden ausfallen sollten. Resultat: keins, keine Bestrafung, nicht mal eine Ermahnung. Wir gingen zum Direktor und forderten bessere Lektüre im Französisch-Unterricht und hatten Erfolg. Aha, so einfach geht das. Wir diskutierten, auch wenn die Universität noch einige Jahre weg war, über die roten Zellen, und ob es sinnvoll war, Vorlesungen zu sprengen.  Wir beteiligten uns immer mal wieder an Demos, die in der Bundeshauptstadt sehr regelmäßig stattfanden. Mit unserer Austauschklasse aus Dijon besuchten wir die finale Diskussion zu den Ostverträgen im Bundestag und hatten eine private Diskussionsveranstaltung mit Richard von Weizsäcker.

Wir träumten von Uschi Nerke, die uns im Beat Club die neuesten Größen der Popmusik präsentierte. Nachts unter der Bettdecke hörte ich Alan Bangs vom BFBS und einmal die Woche Joachim-Ernst Berendt mit den wirklich ausgefallenen Musiktrends.

Und die Moral von der Geschicht'? Sich nichts gefallen lassen, sich einmischen, Mensch bleiben.