Mein blutiger Freitag im Juni 1968

Freundinnen und Freunde der Heinrich-Böll-Stiftung berichten von ihren ganz persönlichen Erlebnissen im Jahr 1968. Luiz Ramalho schreibt über seine Erfahrungen in Brasilien und das Gefühl Teil einer weltweiten Bewegung zu sein.

Es war der 21. Juni 1968, der Tag der als die Sexta Feira Sangrenta in die politische Geschichte Brasiliens einging, als „der blutige Freitag“. Fast 30 Menschen wurden an diesem Freitag erschossen, Hunderte verletzt, über Tausend verhaftet. Dieser Tag ist auch für mich unvergessen und wurde zu einer Weichenstellung in meinem Leben, da er mich – was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte, auch ins Ausland migrieren ließ. Ich stand vor dem amerikanischen Konsulat in Rio de Janeiro, als ich bei einer verbotenen Demonstration angeschossen wurde. Drei Militärpolizisten zielten und schossen auf mich, trafen aber zum Glück nur einmal. Ich schaffte es, in den Hauseingang eines Hochhauses zu kriechen und wurde dort von Journalisten entdeckt und später aus dem Stadtzentrum gebracht.

Das brasilianische 1968, mein 1968, war geprägt vom aufkommenden Widerstand gegen die Militärs, die sich vier Jahre zuvor an die Macht geputscht hatten. Zunächst gab es Proteste im studentischen und intellektuellen Milieu, später erste Streiks in Sao Paulo und Minas Gerais. Ein paar Tage nach dem blutigen Freitag dann der letzte öffentliche Auftritt der Opposition: Die Passeata dos Cem Mil, der Marsch der Hunderttausend – ebenfalls in Rio de Janeiro – vereinigte nicht nur Studierende, sondern auch fortschrittliche Menschen aus Musik, Kunst, Kino, Wissenschaft, Gewerkschaften, Kirchen.

Das war die letzte öffentliche Regung der Opposition, danach wurden alle Versammlungen verboten, die Zensur wurde eingeführt, Verhaftungen, Folter und Unterdrückung folgten. Auch die bleiernen Jahre in Brasilien fanden 1968 ihren Anfang: Am 13. Dezember 1968 erließ das Regime die sogenannte „Institutionelle Akte Nr. 5“ – das Parlament wurde endgültig geschlossen, alle Freiheiten zugunsten der „nationalen Sicherheit“ eingeschränkt. Die Opposition ging in den Untergrund, floh ins Ausland oder verschwand in den Folterkellern der Militärs.

Für mich und viele andere waren 1968 und die Folgejahre aber auch der Beginn eines kulturellen und intellektuellen Aufbruchs in Brasilien, trotz Diktatur: Das „cinema novo“ blühte, die brasilianische Musik war kreativer denn je (u.a. entstand der Tropikalismus), in den Unis wurde alles aufgenommen und diskutiert, was neu war. Die Synchronität zu den Ereignissen in Europa, in den USA und Mexiko ist für mich erstaunlich und heute noch ein interessanter Gegenstand des Nachdenkens. Das Gefühl, international zu einer Bewegung zu gehören, war für mich überwältigend. Ich selbst entschied mich, nach meiner Genesung und den Verhören durch die politische Polizei ins Ausland nach Deutschland zu gehen. Dort bekam ich mit, dass viele meiner Mitschüler verhaftet und gefoltert wurden und etliche niemals zurückkehrten.

In Deutschland suchte und fand ich Anschluss an die hiesigen 1968er/innen. Aber dies ist eine andere Geschichte.