Städte sind Begegnungsräume!

Argumente

Jahrzehntelang wurde der urbane Raum für Autos geplant und umgebaut. Aber lebendige Städte sind keine Durchgangsräume, sondern Orte sozialer Begegnung und kultureller Innovation.

Argumente für die kommunale Verkehrswende: Städte sind Begegnungsräume. Grafik weniger Autos mehr Lebensqualität

Die Stadt ist ein Ärgernis, welches das ideale Raster der Autostraßen durchkreuzt. So lässt sich die Grundhaltung mancher Stadt- und Verkehrsplaner in den Nachkriegsjahrzehnten charakterisieren. An suburbanen Großmetropolen wie Dallas oder Los Angeles kann man beobachten, dass sich in Städten, die im Zeichen des Autos geplant und gebaut werden, kaum öffentlicher Begegnungsraum ausbildet. Hier steht die Autostraße dem im Wege, zu dem sie eigentlich Zugang gewähren wollte: dem urbanen Stadtraum. Denn wo alle nur im Transit sind, will und kann sich niemand aufhalten.

Im Nachkriegsdeutschland bot die Zerstörung vieler gewachsener Innenstädte die Möglichkeit, die Vision einer von großen Verkehrsachsen durchzogenen Stadt umzusetzen. Das Leitbild war damals die moderne „funktionsgetrennte Stadt“ nach der Charta von Athen, die sich dem Boom der Motorisierung anzugleichen hatte. „Je größer die Hauptstraßen, desto flüssiger der Verkehr“ war die Formel. Die Stadthighways sollten die funktional getrennten Lebensbereiche des Wohnens, Arbeitens und der Freizeit verbinden. Heute wird deutlich, wie sehr sich dieses Leitbild verbraucht hat: In den staureichsten Metropolen Deutschlands stehen Autofahrer zwei Tage pro Jahr im Stau. Noch einmal zwei Tage verbringen sie mit der Parkplatzsuche, die für etwa dreißig Prozent des innerstädtischen Verkehrs verantwortlich ist. Die autogerechte Stadt funktioniert nicht – von den gesundheitlichen und klimatischen Schäden durch Lärm und Abgase ganz zu schweigen.

Rückeroberung des öffentlichen Raums

Darüber hinaus wurde durch die Kolonisierung der Stadt durch die Blechlawine vielerorts die Qualität des öffentlichen Raums beschädigt. Die Folgen sind überall sichtbar: von Durchgangsstraßen zerteilte Stadtviertel, an die Seite gedrängte Fußgänger/innen und Radfahrer/innen, in autogeschützte Spielplatz-Karrees eingezäunte Kinder. Parkflächen, die zu Stoßzeiten überfüllt und zu Randzeiten verwaist sind, Lärm und Dreckluft an verstopften Zugangsstraßen, von Stadtringen eingekesselte Fußgängerzonen, die sich entleeren, wenn die Karawane der Autos die Innenstädte wieder verlässt. Ausgerechnet dem umwelt- und gesundheitsschädlichsten Verkehrsmittel haben wir den meisten Platz und das Primat darüber eingeräumt, wie wir den öffentlichen Raum unseres Gemeinwesens gestalten.

In den Städten mehren sich die Zeichen für einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel: Vielfältige lokale Initiativen setzen sich unter dem Motto wie „Reclaim the Streets“ dafür ein, den Stadtraum wieder menschengerechter zu machen. Oft nehmen diese alternativen Nutzungen des öffentlichen Raums noch die Form zeitlich begrenzter Feste an, vom „Autofreien Samstag“ bis zum „Tag des guten Lebens“. Das zeigt, mit wie viel Mühe die Macht des Faktischen zurückgedrängt werden muss: Die autogerechte Stadt erscheint als normal und natürlich. Trotzdem sind solche Aktionstage Ausdruck des Wandels: Über 90 Prozent der Bürger/innen sind laut einer Umfrage des Umweltbundesamtes mittlerweile der Meinung, dass eine Stadtentwicklung, die es den Menschen erlaubt, ihre Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV)  zurückzulegen, zu einem guten Leben beiträgt.

Spontane soziale Begegnungen ermöglichen

Die Gestaltung des Stadtraums ist nicht nur die Summe stadtplanerischer Einzelfragen wie Straßen- oder Häuserbau - sie bestimmt, wie Öffentlichkeit in einer Stadt möglich ist. Angesichts einer zunehmenden virtuellen und sozialen Segregation der Gesellschaft ist es besonders wichtig, Räume zu schaffen, in denen spontane soziale Begegnung möglich ist. Das schließt freundschaftliche Begegnungen ebenso ein wie das gewaltlose Ausagieren sozialer Konflikte und die Möglichkeit, sich auf Sichtweite zu ignorieren. In einer lebendigen Stadt treffen Arme und Reiche, Heimische und Fremde, Alte und Junge unmittelbar und unwillkürlich aufeinander. Dadurch, dass einem der Andere im Stadtraum begegnen, ist ein erster notwendiger Schritt zu ihrer Anerkennung und damit zu gesellschaftlicher Solidarität getan.

Voraussetzung dafür sind Stadträume, in denen Bürger/innen das Notwendige schnell und einfach erledigen können und die zugleich Platz schaffen für Begegnung, Verweilen und Gespräch. Große Teile unserer Städte tun das nicht: weil es zu wenig Sitzgelegenheiten gibt, die Barrierefreiheit eingeschränkt ist, Menschen sich unsicher fühlen oder einfach weil sie sich nicht an ästhetisch unschönen Orten aufhalten wollen. Dieser öffentliche Raum bleibt verwaist oder wird nicht von Frauen, Alten und Kindern frequentiert. Er vermittelt weder Schutz noch Komfort oder Freude – also keines der drei übergeordneten Qualitätskriterien für öffentliche Räume, wie sie der weltweit renommierte Stadtplaner Jan Gehl vom „Centre for Public Space Research“ in Kopenhagen definiert.

Lebendige Orte ohne Gentrifizierung: die „Stadt der kurzen Wege“

Mit der Novelle der Baunutzungsordnung von 2017 liegt eine gesetzliche Grundlage für den Bau urbaner Mischgebiete vor, welche laut Bundesregierung die sogenannte „Stadt der kurzen Wege“ mit dem Ziel, das Zusammenleben in der Stadt zu stärken, ausdrücklich zum Leitbild der Quartiersentwicklung erhebt. Allerdings wird dies nur gelingen, wenn nicht gleichzeitig die flächengreifende Ausbreitung der Vorstädte gefördert wird. Ebenso wichtig ist es sicherzustellen, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität, das sogenannte Placemaking, nicht zu einer Verdrängung einkommensschwächerer Bevölkerungsgruppen führt (Gentrifizierung). Auch wenn es gern behauptet wird, ist dieser Zusammenhang kein notwendiger. Aber es bedarf einer besonderen Anstrengung der Kommunen - etwa durch Bürgerbeteiligungsverfahren und den Verzicht auf die Privatisierung öffentlichen Wohnraums - dafür zu sorgen, dass die soziale Polarisierung in den Stadtquartieren nicht weiter zunimmt.

Die Wiederbelebung des öffentlichen Raums in den Städten kann gelingen. Das zeigen Beispiele wie Kopenhagen und Wien. Kopenhagen begann in den früheren 1960er Jahren, den Fuß- und Radverkehr sukzessive auszubauen. Damals gab es Zweifel, ob sich in einer skandinavischen Stadt überhaupt ein lebendiges öffentliches Stadtleben entwickeln könnte. 30 Jahre später galt die Innenstadt als „größtes öffentliches Forum Dänemarks". Auf den Straßen entwickelte sich eine Vielfalt öffentlicher Aktivitäten, die vorher undenkbar war. Dabei nutzen die Kopenhagener ihren Stadtraum nicht nur öfter, sondern auch länger. Die Außensaison in der Stadt erstreckt sich nun von April bis November.

Die Transformation der Stadt hat aber auch ihre Schattenseiten. Kopenhagen ist eine der teuersten Städte der Welt geworden. Einzelne Stadtviertel wie Vesterbro sind von starker Gentrifizierung mit ihren bekannten Vor- und Nachteilen betroffen. Zuletzt lag Kopenhagen auf Platz 15 der teuersten Städte der Welt. Das zeigt, dass die nachhaltige und sozial gerechte Rückeroberung des Stadtraums von flankierenden Maßnahmen wie dem Erhalt öffentlichen Wohnraums begleitet werden muss. Hier kann Wien als gutes Beispiel dienen. In der österreichischen Hauptstadt hat die Stadtregierung den sozialen Wohnungsbau nicht verscherbelt. Obwohl die Stadt viel für die nachhaltige Mobilität und die Aufenthaltsqualität getan hat, sind die Mietpreise nicht explodiert.