Stadt, Land, Schluss? Zur politischen Geographie Deutschlands

Veranstaltungsbericht

Ökonomisch-gesellschaftliche Veränderungen wirken sich unterschiedlich auf Stadt und Land aus. Gefühlte und empirisch belegte Spaltungen und Disparitäten prägten die politischen, gesellschaftlichen und medialen Diskurse im Sommer 2019. Dazu passend diskutierte die Grüne Akademie im Rahmen ihrer Sommertagung Herausforderungen und Lösungen regionaler Disparitäten in Deutschland.

Plenarrunde im Rahmen der Sommerakademie

Im Zentrum stand die Frage: Was ist dran an den verschiedenen Spaltungen, wie können sie, soweit bestehend, politisch adressiert werden und welche regional abgestimmten Lösungen sind im Sinne einer nachhaltigen, ökologisch-sozialen Transformationspolitik geboten? Ökonomische, sozialräumliche, demokratische sowie demographische Herausforderungen standen im Fokus der Plenardebatten, darüber hinaus wurden die Aspekte Demokratie, Daseinsfürsorge und Landleben in vertiefenden Arbeitsgruppen bearbeitet.

Die Sommerakademie tagte entkoppelt vom beschleunigten Berliner Politikdiskurs

Ökonomische Herausforderungen:

Regionale Disparitäten in Deutschland – und was die Politik tun kann

Der Frage, welche ökonomischen Disparitäten warum im Land bestehen und inwieweit die Politik hier überhaupt gestaltend eingreifen kann, wurde von Prof. Jens Südekum (Universität Düsseldorf) und Anja Hajduk (stv. Fraktionsvorsitzende, B90/Grüne im Bundestag) mit der Akademie diskutiert. Südekum stellte heraus, dass Stadt-Land-Disparitäten keineswegs neu, nun aber wieder neu auf der Agenda stünden. Im internationalen Vergleich habe Deutschland als „dezentrale Industriegesellschaft“ mit vielen prosperierenden ländlichen Gegenden deutliche Vorteile gegenüber zentralistisch organsierten Ländern. Auch sei es bisher gut gelungen, den Strukturwandel und seine demographischen und sozialen Folgen zu moderieren. Die Stadt Duisburg etwa habe in den vergangenen Jahrzehnten nur etwa 12 Prozent seiner Bevölkerung eingebüßt, während die ehemalige nordamerikanische Industriemetropole Detroit um ganze 60 Prozent geschrumpft sei. Die erfolgreiche Fortsetzung dieses Balanceaktes sei jedoch keineswegs garantiert. Für die Zukunft entwarf Südekum zwei Szenarien, die insbesondere die Folgen des digitalen Strukturwandels in den Blick nahmen. Im pessimistischeren der beiden Szenarien sei mit einer großen Zahl von Arbeitsplatzverlusten im ländlichen Raum gerade bei den heute mittelständischen Industrieunternehmen, den sogenannten Hidden Champions, zu rechnen. Da neue Arbeitsplätze im Zuge der Digitalisierung in kreativen, zumeist digitalen, Arbeitsfeldern vornehmlich in den Städten entstünden, werde sich der Wandel direkt auf der Landkarte niederschlagen und die Disparitäten zwischen urbanen und ländlichen Räumen massiv verstärken. Dass die Politik aber durchaus Instrumente zum Gegensteuern besäße, verdeutlichte Südekum in einem zweiten, optimistischeren Szenario. Durch die verstärkte Automatisierung und Vernetzung der Industrie sei eine Rückkehr des produzierenden Gewerbes aus Niedriglohnländern denkbar und im Sinne einer ökologischen Transformation auch wünschenswert. Weiterhin bestünde durch die Digitalisierung die Möglichkeit, Wohnort und Arbeitsplatz zu entflechten und Berufstätige durch die hohe Lebensqualität des ländlichen Raumes zu binden. Für die Realisierung dieses zweiten Szenarios seien jedoch weitreichende Weichenstellungen, insbesondere die Bereitstellung einer flächendeckend exzellenten – nicht nur - (digitalen) Infrastruktur, ebenso notwendig wie eine nachhaltige und stetige Investitionsoffensive. Die Frage von Investitionen griff Hajduk auf, wobei sie insbesondere auf Versäumnisse im Bereich nachhaltiger Investitionen hinwies. Diese seien nicht zuletzt auf das haushaltspolitische Festhalten an der starren Symbolik der schwarzen Null zurückzuführen. Ziel grüner Politik müsse es sein, die Schuldenbremsen in Bund- und Länderverfassungen zwar ernst zu nehmen, die Investitionskraft der öffentlichen Hand aber mindestens zu verdoppeln. Trotz des Föderalismus sei die Gestaltung eines großen Strukturwandels, wie etwa in Nordrhein-Westfalen, immer auch unter Einsatz von Bundesmitteln erfolgt. Investitionen müssten nicht zuletzt deshalb entschlossen und über einen längeren Zeitraum erfolgen, weil nur so verlorengegangene Kapazitäten in Verwaltung und Planung, aber auch bei privaten Partnern wie etwa Bauunternehmen, wiederhergestellt werden könnten.

Sozialräumliche Herausforderungen:

Stadt vs. Land, Zentrum vs. Peripherie? Neue und alte Spaltungen der Gegenwartsgesellschaft

Im abendlichen „virtuellen Kamingespräch“ stand die Frage gesellschaftskultureller Veränderungen im Raum. In lockerer Atmosphäre befragte Ellen Ueberschär die Soziologieprofessorin Claudia Neu (Universität Göttingen) dazu, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt auch im Schatten des gesellschaftlichen Wandels gelebt werden könne. Neu betonte zunächst, dass es nicht den ländlichen Raum, sondern eine Vielfalt ländlicher Gemeinschaften gebe. Regionen wie die Eifel, Ostfriesland und die Uckermark ließen sich nicht ohne Weiteres als ländlicher Raum verallgemeinern, sondern seien landschaftlich und kulturell ausgesprochen divers. Was viele ländliche Regionen in Deutschland vereine, sei die Abwanderung junger Menschen zwischen 18 und 25 Jahren in die Städte und ein damit einhergehender Schrumpfungsprozess. Unter diesen Voraussetzungen funktionierende soziale Räume zu schaffen, sei ausgesprochen schwierig, da deren Grundlagen, etwa zivilgesellschaftliches Engagement, ihrerseits voraussetzungsvoll seien und Ankerpunkte benötigten. Gerade die Bündelung aller Infrastruktur in den Mittelzentren sei aus dieser Perspektive kontraproduktiv, weil sie Gefahr laufe, die Strukturen in kleineren Orten auszuhöhlen. Die vertikale Herangehensweise des sogenannten Zentrale-Orte-Konzepts, so Neu, müsse deshalb mit der horizontalen Perspektive eines Soziale-Orte-Konzepts ergänzt werden. Dabei könnten sehr verschiedene Orte die Funktionen sozialer Ankerpunkte erfüllen. Dies sei nicht nur das bekannte Modell des Dorfladens, sondern auch die gemeinschaftlich betriebene Dorfkneipe oder die Anlaufstelle für Geflüchtete. Entscheidend sei es an dieser Stelle, nicht zeitlich und inhaltlich begrenzte Projekte, sondern dynamische Prozesse zu fördern, die den Beteiligten größtmöglichen Spielraum zur Anpassung der Orte an die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaften bieten. In diesem Sinne seien auch die Pläne, die Versorgung im ländlichen Raum durch technische Innovationen, etwa die Lieferung von Medikamenten durch Drohnen, zu lösen, nur von begrenzter Bedeutung. Sie gingen, so Neu, an den Bedürfnissen der Menschen nach sozialer Nähe vorbei.

Demokratische Herausforderungen:

Neue Spaltungen & demokratische Innovationen

In seiner Morning Lecture wies der Wahlforscher Prof. Thorsten Faas (FU Berlin) darauf hin, dass Fragmentierung, Brüche und erzwungene Koalitionsinnovationen in der deutschen Landespolitik kein Spezifikum der ostdeutschen Länder seien, sondern ein generelles Phänomen der vergangenen Jahre. Dabei würden viele Spaltungslinien – einschließlich der zwischen Stadt und Land – elektoral verstärkt. Dies führe zu einem hohen Maß an Diversität und Unberechenbarkeit in der Landespolitik, welche sich in den inzwischen 13 verschiedenen Koalitionsmodellen der 16 Bundesländer widerspiegele. Gleichzeitig ließen sich bestimmte Trends und Dynamiken erkennen. So seien die jüngsten Wahlen in den ländlich geprägten Flächenstaaten Brandenburg und Sachsen in ihrer Dynamik nicht unähnlich zu den Landtagswahlen 2016 in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. In allen vier Fällen, erklärte Faas, hätten prominente Landespolitiker/innen, insbesondere die jeweiligen Ministerpräsident/innen, überraschend gute Ergebnisse am Ende eines sehr dynamischen Wahlkampfes erreicht. Dabei hätten die größten Wählerwanderungen zumeist innerhalb der politischen Lager stattgefunden, was auf die besondere Relevanz prominenter Spitzenfiguren wie zuletzt Dietmar Woidke und Michael Kretschmer hindeute. Ein weiteres entscheidendes Phänomen sei der Aufstieg der AfD, welcher die anderen Parteien zu immer breiteren Koalitionen zwinge. Faas bezweifelte, dass solche unfreiwilligen Koalitionen in der Lage seien, tragfähige und innovative Lösungen für den Strukturwandel im ländlichen Raum zu finden. Gerade auch in der Kommunalpolitik müsse deshalb die unbequeme Frage, ob die AfD dauerhaft von allen politischen Ämtern ausgeschlossen werden könne, ernsthaft diskutiert werden.

Demografische Herausforderungen:

Das Ende der Peripherie? Herausforderungen für eine grüne Politik für Stadt & Land

Eine weithin unterschätzte Herausforderung für die Entwicklung in Stadt und Land ist der demographische Wandel. Manuel Slupina, Ressortleiter am Berlin-Institut für Bevölkerung & Entwicklung, betrachtete die demographischen Veränderungen sowohl aus der infrastrukturpolitischen als auch aus der soziokulturellen Perspektive. Schrumpfende ländliche Gemeinden seien, so Slupina, ein gesamtdeutsches Phänomen, das nicht auf einige Regionen Ostdeutschlands zu begrenzen sei und über das auch eine durch Einwanderung stabilisierte Bevölkerungszahl nicht hinwegtäuschen könne. In manchen Dörfern kämen auf eine Geburt vier Beerdigungen und der zunehmende Bildungsgrad junger Menschen in den ländlichen Regionen stelle einen zusätzlichen Pull-Faktor in die urbanen Zentren dar. Es müsse also darum gehen, den Schrumpfungsprozess vor allem ländlicher Räume positiv zu gestalten und die Versorgung resilient gegen den demographischen Wandel zu machen. Hier schloss Slupina auch an den Beitrag Neus an und betonte, dass sich ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Zufriedenheit bei den Menschen im ländlichen Raum nur einstellen könne, wenn diese auch über die Garantie einer Grundversorgung hinaus Mittel zur Verfügung gestellt bekämen, mit denen sie den Wandel in ihren Gemeinschaften selbst gestalten können. Zustimmung erhielt Slupina von Claudia Müller (B90/Grüne, MdB, Mittelstandsbeauftragte) sowie Mona Neubaur (Landesvorsitzende B90/Grüne NRW). Beide Politikerinnen konnten die Diskussion mit einer Fülle an Beispielen aus ihren jeweiligen Bundesländern bereichern. Müller betonte zunächst, dass auch in Mecklenburg-Vorpommern Zentralisierungsversuche keine zufriedenstellenden Ergebnisse erbracht und oft kontraproduktive Folgen für ländliche Gemeinschaften gehabt hätten. Der Umgang mit dem demographischen Wandel könne nicht darin bestehen, ganze Gegenden aufzugeben. Stattdessen müsste der Weg für neues Wachstum, etwa durch die Bereitstellung dezentraler Bildungs- und Mobilitätskonzepte sowie den raschen Ausbau der digitalen Infrastruktur, geebnet werden. Für letzteren sah Müller nur noch ein begrenztes Zeitfenster von 5 - 10 Jahren. Viele Unternehmensgründer seien inzwischen im Rentenalter und die digitale Anbindung sei für viele ein wichtiger Faktor in der Frage, ob sie ihr Unternehmen auf- oder weitergeben werden. Sowohl Müller als auch Neubaur forderten im Weiteren, ein besonderes Augenmerk auf die Situation und Rolle von Frauen zu legen. Während Müller anmerkte, dass Mobilität auf dem Land besonders ein Frauenthema sei, da viele Ältere keinen Führerschein besäßen, betonte Neubaur, dass gerade auch der Weg- oder Zuzug junger Frauen entscheidend für das Überleben einer Gemeinde sein könne. Dies gelte, wie so vieles in ihrem Heimatbundesland NRW, nicht nur für den ländlichen Raum, sondern auch für manche städtischen Gebiete. Zentral für eine positive Gestaltung des Wandels sei eine politische Zusammenarbeit nicht nur vertikal zwischen den verschiedenen Ebenen der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, sondern auch horizontal über Gemeindegrenzen hinweg.

In Ergänzung zu den Plenarrunden wurden in vier Workshops ausgewählte Aspekte vertiefend bearbeitet. Die Workshops befassten sich mit den Aspekten Demokratie, Daseinsvorsorge, Gesellschaft und Landleben.

Workshop Demokratie

Digitale Infrastrukturen für die Demokratie: Lösung für das Zentrum-Peripherie-Problem?

Thorsten Thiel, Forschungsgruppenleiter am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft und Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin, bearbeitete die Schwierigkeiten (partei)politischer Teilhabe auf dem Land und stellte die Frage, inwieweit digitale Instrumente neue Formen demokratischer lebendiger Demokratie außerhalb der urbanen Zentren ermöglichen können.

Einige Befunde der Debatte um Digitalisierung & Demokratie

Workshop Daseinsvorsorge

Tödliche Peripherie? Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum

Jörg Sauskat, Fachreferent der Bundestagsfraktion B90/Grüne, adressierte die Frage, wie auch in weniger dicht besiedelten Gebieten gute und erreichbare Gesundheitsinfrastruktur angeboten werden kann. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf der Frage, wie die Wünsche der Menschen nach Nähe mit den wirtschaftlichen und medizinischen Realitäten moderner Gesundheitsversorgung in Einklang gebracht werden können.

Workshop Gesellschaft

Gefühle des Abgehängtseins & die politisch-gesellschaftlichen Folgen

Ein zentrales Thema der jüngsten gesellschaftspolitischen Debatten sind Gefühle des Abgehängtseins und der sozialräumlichen Deprivation. Larissa Deppisch vom Thünen-Institut für ländliche Räume betonte zum einen die Vielfalt verschiedener Gefühle und Formen des Abgehängtseins und fragte zum anderen, wie der Mobilisierung dieser Gefühle durch populistische Parteien entgegengewirkt werden könne.

Einige Befunde für Ursachen und Lösungen des Anschlussverlusts

Workshop Landleben

Öffentliche Räume auf dem Land: Vom Vereinssterben & neuen Ideen für den ländlichen Raum

Patrik Gilroy, Projektleiter von Zivilgesellschaft in Zahlen (ZiviZ), und Silvia Henning, Geschäftsführerin von neuland 21, thematisierten in ihrem Workshop das Vereinssterben auf dem Land und die Möglichkeiten der Digitalisierung, diesem entgegenzuwirken bzw. neue (öffentliche) Räume der milieu- übergreifenden Begegnung zu schaffen.