Endspiel im Libanon

Hintergrund

Der Libanon hat nach dem Rücktritt von Saad Hariri vor drei Monaten jetzt eine neue Regierung. Die Proteste der Demokratiebewegung gehen derweil weiter. Sie haben nun eine wesentlich breitere soziale Basis und sind über Beirut hinaus auch in anderen Landesteilen präsent.

Proteste in Beirut 2019/20 / Viele Menschen demonstrieren auf den Straßen von Beirut

Der Libanon hat eine neue Regierung. Fast drei Monate hat die politische Elite des Landes gebraucht, um nach dem Rücktritt von Saad Hariri am 29. Oktober 2019 ein neues Kabinett aufzustellen. In diesen drei Monaten ist das Land ein anderes geworden. Die Proteste der Demokratiebewegung haben nicht nachgelassen und eine neue politische Kultur zumindest auf der Straße geschaffen. Anders als noch 2015, als korrupte Regierungsführung zum Zusammenbruch der Abfallwirtschaft führte und die Hauptstadt im Müll ersticken ließ, hat die Protestbewegung jetzt eine wesentlich breitere soziale Basis. Und sie ist nicht nur auf Beirut konzentriert, sondern ebenso in anderen Landesteilen präsent.

Undurchdringliches Elitenkartell

Doch die Bewegung steht nicht nur einer ignoranten und seltsam unbeteiligt wirkenden politischen Elite gegenüber, sondern einer katastrophalen Wirtschafts-und Finanzkrise, die von Vielen als der letzte Nagel im Sarg des politischen Nachkriegssystems Libanons gesehen wird. Dieses basierte auf der Verteilung politischen Einflusses und Zugang zu öffentlichen Ressourcen unter den ehemaligen Parteien des Bürgerkriegs, der bereits seit Jahrzehnten Geschichte ist. So komplett unterschiedliche politische Akteure wie Hisbollah, die Partei des Hariri-Clans oder das Free Patriotic Movement des Präsidenten Aoun waren sich in einem einig: Die Aufteilung des Staates und der damit zusammenhängenden Einkommensmöglichkeiten garantiert die bestmögliche Umsetzung ihrer so unterschiedlichen Interessen. Damit haben sie ein quasi undurchdringliches Elitenkartell gebildet.

Mehrheitswahlrecht blockiert nicht-konfessionelle Opposition

Eigentlich unüberbrückbar wirkende politische Differenzen, die mit der regionalen Dynamik zusammenhängen, traten im Kontext des libanesischen Interessenausgleichs in den Hintergrund. Hisbollah hat als Kriegspartei in Syrien das politische Überleben des Assad-Regimes garantiert und lebt nicht zuletzt von der Unterstützung des Irans, während die Hariri-Familie ihr politisches und ökonomische Kapital aus ihrer Verwurzelung in Saudi-Arabien bezog, zumindest bis zum Aufstieg des Kronprinzen Mohammad bin Salman. Dennoch waren Hariris Partei und Hisbollah maßgeblich an der Regierungskoalition beteiligt. Abgesichert wurde diese Elitenkoalition innerhalb des formal demokratischen Systems Libanons durch ein äußerst kompliziertes Mehrheitswahlrecht, das nicht-konfessionell organisierten Oppositionsparteien kaum eine Chance auf Einzug in Parlamente auf kommunaler und nationaler Ebene bietet.   

Demokratiebewegung will System abschaffen

Aus diesen Gründen sind die Forderungen der Demokratiebewegung umfassend. Sie verlangen nicht weniger als die Abschaffung dieses Systems. Das Vehikel dazu soll eine von den etablierten Parteien unabhängige Übergangsregierung sein, die mit Vollmachten ausgestattet sein müsste, um einen Ausweg aus der Finanzkrise zu finden und den drohenden Staatsbankrott zu vermeiden - oder zumindest so zu verwalten, dass er nicht komplett von der Elite auf die Bevölkerungsmehrheit abgewälzt werden könnte. Die entscheidende Frage ist nicht, ob das politische System aus Gründen der Stabilität gerettet werden kann, sondern wie nach seinem Zusammenbruch die Verluste aufgeteilt werden, so der Ökonom und ehemalige Wirtschaftsminister Charbel Nahas.

Schwere Versorgungskrise im Anzug

Bereits jetzt steht die Versorgung mit Lebensmitteln, medizinischen Gütern und Diesel in Frage. Letzterer wird benötigt, um mithilfe von Generatoren die Stromausfälle auffangen zu können. Alle Importe müssen in US-Dollar bezahlt werden, doch die Banken haben den Zugang zu harter Währung stark beschränkt, so dass Krankenhäuser, aber auch andere privatwirtschaftliche Unternehmen die Versorgung nicht sicherstellen können. Libanon importiert ca. 85 Prozent seiner Wirtschaftsgüter und braucht dafür Devisen, die es nicht hat. Die Negativbilanz ist so hoch, dass Hilfsgelder, ad-hoc Kredite und Finanzspritzen die Lebensdauer des etablierten Systems vielleicht noch einige Monate verlängern, aber nicht sein Überleben garantieren. Zumal Geber aus der EU und internationale Institutionen Kredit und Finanzzusagen mit Forderungen nach politischer Reform, Transparenz und guter Regierungsführung versehen haben. Es ist vollkommen unklar, welche Auswirkung der Wertverlust der libanesischen Währung auf Einkommen, Guthaben, Pensionen usw. des Großteils der Bevölkerung haben wird. Oder was Anfang März geschieht, wenn Libanons Schuldenabtrag an europäische Banken ansteht.

Wird die neue Regierung des Ministerpräsident Hassan Diab diesen Herausforderungen standhalten?

Dem Kabinett gehören zwar unabhängige Minister/innen mit akademischen, nicht parteipolitischen Hintergrund an, vor allem Justizministerin Marie-Claude Najm oder der Minister für Umwelt, Damianos Kattar. Beide sind in den letzten Monaten als Unterstützer der Protestbewegung aufgetreten. Diese sieht ihre Regierungsbeteiligung jedoch als einen rein kosmetischen Akt, nicht als ein Zugeständnis an die Bewegung. Nichts deutete während der meist hinter den Kulissen geführten Gespräche auf eine veränderte politische Realität hin. Die Regierung ist in wochenlangen Verhandlungen zwischen den alten und etablierten politischen Kräften zustande gekommen. Es gab keinen Versuch, eine Regierung der nationalen Einheit zu schaffen, keine Konzentration auf die Wirtschaftskrise, überhaupt nichts, was auf einen verantwortlichen Umgang mit der Finanzkrise, bzw. den multiplen Krisen schlechthin hätte schließen können. Und schon gar keinen erkennbaren Ansatz, dem Ernst der Lage durch den Versuch der Einbeziehung von unabhängigen Foren gerecht zu werden.

Neue Regierung unter Hisbollah-Einfluss

Darüberhinaus repräsentiert diese Regierung ein noch kleineres politisches Spektrum innerhalb der Eliten-Konstellation als ihre Vorgängerin. Die Partei Hariris (Future Movement) ist ebensowenig vertreten wie die Lebanese Forces von Samir Geagea, oder die Progessive Socialist Party von Walid Jumblatt. Damit ist die neue Regierung stark beeinflusst von Parteien und Kräften, die mit Hisbollah ein politisches Bündnis eingehen. Die Besetzung der zentralen Posten für den Sicherheitssektor, die Innen- und Verteidigungsministerien werden insbesondere seitens der Demokratieaktivist/innen kritisiert. Die nominierte Verteidigungsministerin Zeina Akar wird in den sozialen Medien in die Nähe einer pro-syrischen Partei gerückt. Der nominierte Innenminister Mohamed Fahmi ist ein pensionierter General, der während der syrischen Besatzung Libanons eine zentrale Position im Militärgeheimdienst innehatte. Amnesty International hat ihn zudem bereits aufgefordert, die Sicherheitskräfte in den zu erwartenden Straßenkämpfen unter Kontrolle zu halten.

Es deutet also wenig auf eine Verbesserung der Situation im Libanon hin. Politisch wird viel davon abhängen, ob es der Demokratiebewegung gelingt, weiter in gleichem Maße zu mobilisieren. Denn aus Sicht der Bewegung hat sich nichts geändert.