Zwischen Krise und Corona: Aktuelle Herausforderungen an das türkische Kino

Analyse

Durch die Corona-Pandemie ist das Kino in der Türkei mit einer weiteren Krise konfrontiert, nachdem zuvor bereits Zensur und Finanzierungsschwierigkeiten Teilen der Branche schwer zugesetzt hatten. Wie begegnen Filmschaffende diesen Herausforderungen? Amin Farzanefar hat für uns nachgefragt und analysiert die bisherigen Entwicklungen.

Atlas Sinemalari Eingang mit Neonschild in Istanbul

Die ersten Filme wurden in der Türkei bereits in den 1910er Jahren gedreht, in den Folgejahrzehnten bildete sich ein nationales Kino heraus, mit unterschiedlichen Richtungen und Schulen, aber im Rahmen der von Atatürk verordneten Einheit von Nation und Kultur. Die beliebten Genres Melodrama und Komödie brachten dabei zahllose Stars und Sternchen, Klassiker und Kultfilme hervor. In den 1970er Jahren zählte die Türkei mit 300 Filmen pro Jahr zu den produktivsten Kinonationen weltweit. Der Absturz erfolgte aus wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und auch technologischen Gründen und Anfang der 2000er erschienen in der Türkei nur noch gut ein Dutzend Filme pro Jahr. Der neuerliche Aufstieg kann parallel zur politischen und gesellschaftlichen Situation gesehen werden: Auf eine Phase der Öffnung, Reform und Annäherung an Europa folgte zuletzt eine Zeit zunehmender Repression, mit Fällen von Verhaftung und Zensur.

All jene Gruppierungen, die im säkular-nationalistischen Kino entweder gar nicht oder nur stark stereotypisiert hatten auftauchen dürfen, fanden in den ersten Jahren der AKP-Regierung seit 2002 zu einem Kino-Bild: Ethnische, religiöse, soziale und kulturell marginalisierte Gruppen; insbesondere Kurd*innen, aber auch Roma, ebenso die LGBTQ+-Bewegung - und auch Arbeiter*innen. Hinzu kamen Fragen von Städtebau, Gentrifzierung und Ökologie, vor allem rund um das GAP-Staudammprojekt im Südosten der Türkei. Auch wenn im kommerziellen „Mainstream“-Kino die nationalistischen Narrative weiterliefen, wurden selbst dort historisch ausgesparte Kapitel – wie die türkisch-griechischen Vertreibungen oder der „Kurdenkrieg“ der 1990er – zunehmend differenziert und auch aus dem Blickwinkel der Betroffenen aufgearbeitet. Sogar das größte historische Tabu, das Thema „Völkermord an den Armeniern“, wurde thematisiert und diskutiert. Im Vergleich zu dieser quantitativen und qualitativen Explosion fehlen immer noch ausreichend Abspielmöglichkeiten – sprich: Kinos – für diese neue filmische Vielfalt.

Unabhängig und angreifbar: Die Filmfinanzierung

Ein Großteil des türkischen Kulturlebens wird über private Stiftungen und NGOs finanziert: so stützt etwa die von der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı unterhaltene Stiftung İKSV (İstanbul Kültür Sanat Vakfı) das „Istanbul International Film Festival“. NGO-Charakter hat das größte Dokumentarfilmfestival der Türkei: „Documentarist“ präsentiert dem Istanbuler Publikum internationale Trends wie auch den Stand des türkischen Kinos. Mit bescheidenen Fördermitteln, hohem persönlichem Einsatz und zahlreichen Ehrenamtlichen entsteht alljährlich ein hochprofessionelles Event.

Eine weitere wichtige Institution, „Anadolu Kültür“, fördert zahlreiche progressive Kunst- und Filmaktivitäten, dabei liegt ein Fokus auf der Integration der polarisierten türkischen Gesellschaft durch Dialogprojekte zwischen der Westtürkei und Anatolien. „Anadolu Kültür“ setzt sich auch für die Aussöhnung zwischen Armenier*innen und Türk*innen ein (etwa im Rahmen der „Armenian Turkey Cinema Platform“ im İKSV-Filmfestival). Der Leiter, Osman Kavala, ein bedeutender Mäzen und Unternehmer, wurde 2017 unter dem Vorwurf verhaftet, er sei Initiator der zivilgesellschaftlichen „Geziproteste“ von 2013, die sich am geplanten Abriss des zentralen Geziparks entzündeten. 2020 wurde dann der Vorwurf erhoben, Kavala habe den Putschversuch vom Sommer 2016 vorbereitet. Dass ein einflussreicher Philanthrop ohne fundierte Anklageschrift seit drei Jahren inhaftiert ist, wird von der Kulturszene als bewusste Machtdemonstration gesehen.

Seit ca. fünf Jahren beobachten zahlreiche Filmemacher*innen einen deutlichen Rückgang einstiger Freiheiten. Auch an den beiden großen Festivals lässt sich diese Entwicklung ablesen: zunächst eine Zunahme von hochwertigen Filmen, jungen Talenten, stilistischer Diversität, mit immer mehr weiblichen Perspektiven und Filmemacherinnen; dann folgten Zensurfälle. 2015 legte das Verbot von „Bakur“, der das Leben in PKK-Ausbildungslagern dokumentierte, das Istanbuler Festival lahm, weil zahlreiche Filmschaffende aus Protest auch ihre Filme zurückzogen. In Antalya gab es ähnliche Vorfälle – was 2018 ein Grund für die sensationelle Aussetzung des Nationalen Wettbewerbs gewesen sein mag.  Dabei wirkt die Zensur – die bei Filmemacher*innen (bislang) nicht so brachial durchgreift wie bei Journalist*innen oder Schriftsteller*innen – eher indirekt und verhindert schon im Vorfeld die Entstehung minoritärer und kritischer Werke. Und auch finanzkräftige Festivalsponsor*innen entscheiden sich in einer zunehmend angespannten Atmosphäre im Zweifelsfall für ihre wirtschaftliche Absicherung und nicht für die Freiheit der Kunst. Mangels ausreichender staatlicher Förderung bleiben die Filmproduzent*innen auf Koproduktionen mit dem Ausland angewiesen.

Kultur und Kommerz

Gegenüber anderen Kinonationen gibt es in der Türkei eine Besonderheit: rangierten etwa in Deutschland 2018 unter den zehn umsatzstärksten Filmen des Jahres ausschließlich Hollywood-Blockbuster, mit der Marvel-Verfilmung „Avengers: Infinity War“ an der Spitze, so standen in den türkischen Top-Ten 2018 neun heimische Produktionen vor den „Avengers“. Zugleich und andererseits fehlt in der von großen Verleiher-Kartellen dominierten Kinolandschaft trotz staatlicher Bemühungen ein ausreichend geförderter Arthaus-Sektor, also Raum für anspruchsvollere, weniger am Massengeschmack und mehr an Inhalt, Charakterzeichnung und Ästhetik orientierte Werke. Türkische Filme laufen immer mehr in Multiplexen, die kleineren Säle schließen ebenso wie die früheren Filmpaläste, infolge von Gentrifizierungsprozessen und auch mangels staatlicher Abspielförderung. Nicht ganz ohne Widerstand:  Um den rechtlich umstrittenen Abriss des traditionsreichen Emek-Kinos („Arbeiter“-Kino)  – mitten in der Istanbuler Einkaufsmeile gelegen, sollte es einer Shopping-Mall weichen – entspann sich über mehrere Jahre hinweg eine Protestbewegung (nun steht dort ein Shopping Center der Demirören-Gruppe).

So sind die engagierten unabhängigen Filme der Türkei auf die zahlreichen Festivals angewiesen. Flaggschiffe sind hier das Antalya Filmfestival – mit dem bedeutendsten nationalen Filmpreis, der „Goldenen Orange“ – und das Istanbul International Filmfestival, das sich traditionell stark für die Unabhängigkeit der Filmkunst einsetzt. Beide Festivals pflegen – mit anspruchsvollen Nebenreihen und einer Rückschau internationaler Festivalpremieren – gleichermaßen ein internationales Image wie auch die Stärkung des nationalen Kinos. Mit einer Vielzahl von Programmen fördern sie junge Filmschaffende, ermöglichen das „Matchmaking“ zwischen ausländischen Produzent*innen und türkischen Talenten. Insbesondere „Meeting on the Bridges“, das seit 2011 mit Beteiligung der deutschen Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein und dem Medienboard Berlin Brandenburg stattfindet, hat sich als wichtige Plattform und Startpunkt für anspruchsvolle Koproduktionen etabliert. Neben diesen „Großen“ bemühen sich zahlreiche weitere Festivals, den Mangel an Arthausstrukturen auszugleichen, etwa in Adana, Ankara und Izmir; das Festival von Malatya entspringt der Initiative „Festival on Wheels“:  dieses 1995 gegründete Projekt, von Ahmet Boyacıoğlu und Başak Emre federführend gestaltet, bringt Kino in entlegenere Provinzstädte und will dabei einen Dialog zwischen Stars, Publikum und lokalen Filmstudenten herstellen.

Kino und Corona: Wie geht es weiter?

In der aktuellen Situation setzt das Coronavirus der angeschlagenen Branche stark zu: Filmdrehs wurden eingestellt und wie überall auf dem Globus wurden auch zahlreiche türkische Festivals verschoben. Wie Kerem Ayan, Leiter des Istanbul International Film Festival, berichtet, hat auf der asiatischen Seite der Stadt bereits ein Festival-Kino schließen müssen (immerhin wird das traditionsreiche „Atlas“ in Beyoğlu gerade renoviert). Eine staatliche Unterstützung der solo-selbständigen Kreativen wie in Deutschland erfolgt nicht, doch konnte durch eine Initiative des Streamingdienstes Netflix ein Mindestlohn an die Filmtechniker*innen ausgezahlt werden. Inzwischen wird wieder gedreht, und für den Herbst steht auch in der Türkei eine Ballung an nachgeholten Kulturevents an. Auch die beiden großen Festivals von Antalya und Istanbul werden fast zur selben Zeit stattfinden.

Werden internationale Gäste kommen und für den erwünschten kulturellen und wirtschaftlichen Austausch sorgen? Sind vor dem Lockdown überhaupt genug Filme für zwei Festivals entstanden? Und kann es unter den gegebenen Umständen genügend mutige, aussagekräftige und interessante Werke geben?

Ahmet Boyacıoğlu, Leiter des Antalya Filmfestivals, verweist angesichts der Frage nach drohender Zensur auf den wiederbelebten Wettbewerb um die „Goldene Orange“: „Ich sage nur eins: Ümit Ünals Love, Spells and All That hat mehrere Preise gewonnen. Eine lesbische Liebesgeschichte – was will man mehr?“ Dennoch beobachten die auch in der Presse zunehmend marginalisierten „kritischen“ Filmemacher*innen, dass die lange solidarische Filmszene sich zunehmend in zwei Lager teilt:  diejenigen, die mit eher unpolitischen Stoffen auf die nationale Förderung spekulieren, und die anderen, engagierten, deren finanzielle Existenzgrundlage nun bedroht ist.

In der Türkei ist unter den gegebenen gesellschaftlichen und politischen Umständen die international diskutierte Frage besonders bedeutsam, ob sich „unter Corona“ eine eigene ästhetische Form von reduzierten „Confinement movies“ herausbildet. Schon in den letzten Jahren war eine Reihe beklemmender minimalistischer Werke entstanden – Dystopien, die sich als Parabeln auf die gegenwärtige Türkei verstehen ließen. Paramilitärische Truppen eliminierten alle Hunde der Stadt, plötzlicher Nebel oder ein geheimnisvolles Schiff im Hafen verbreitete Tod und Verderbnis, eine sonderbare Krankheit ließ alle erlahmen, oder eine Dikatoren-Doppelspitze manipulierte Fernsehbilder und Erinnerungen. Hüseyin Karabey, einer der profiliertesten kurdischen Filmschaffenden, hatte seinen jüngsten Film sogar komplett in einem Raum gedreht: „Inside“ („Içerdekiler“, 2018) war ein existenzielles Kammerspiel, ein Verhörduell zwischen einem Offizier und seinem dissidentischen Gefangenen. Ein Beispiel, wie man mit eingeschränkten Mitteln und geringerem Budget Filme machen kann.

Wie die Rückkehr zum Kino- und Festivalbetrieb in Zeiten von COVID-19 aussehen wird, wird unterschiedlich bewertet:  Ahmet Boyacıoğlu blickt hoffnungsvoll auf das wiederbelebte Antalya Golden Orange Filmfestival im Oktober: „Als alter Hase möchte ich dem Analogen treu bleiben. Vielleicht können wir ja mit Open-Air-Veranstaltungen den Begegnungs-Charakter des Festivals ohne größeres Risiko beibehalten“. Das normalerweise im April stattfindende İKSV-Filmfestival hatte damals ersatzweise einige Filme online gezeigt, vom 17. bis 28. Juli wurden dann zwei Wettbewerbe als Open-Air nachgeholt (Ünals „Love, Spells and All That“ erhielt hier den Hauptpreis, die „Goldene Tulpe“). Dass zahlreiche Kinoaktivitäten ins Internet ausweichen müssen, birgt auch eine Chance: Necati Sönmez, Mitbegründer und Leiter von „Documentarist“, musste die Juni-Ausgabe absagen: „Stattdessen haben wir ein Ersatzprogramm mit einigen älteren, im Internet zeitlich limitiert abrufbaren Dokumentarfilmen gezeigt. Die überraschend hohen Zugriffszahlen hätten wir im Kinosaal gar nicht erreichen können. Es gibt dabei einen gewissen technischen Aufwand, der steht aber in keinem Verhältnis zu der kostenintensiven analogen Aufführung“.
Und Hüseyin Karabey, der Filmemacher, musste seine Workshops für den filmischen Nachwuchs online durchführen: „Dabei hatte ich Teilnehmende aus kurdischen Provinzen, selbst aus Deutschland. Das waren junge Filmenthusiasten, die ich analog niemals erreicht hätte!“