Die Katastrophe von Fukushima und die Olympischen Spiele in Tokio

Kommentar

Neun Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind grundlegende Fragen noch immer ungeklärt. So ist der „atomare Notfallzustand“, der am 11. März 2011 in Kraft getreten ist, noch nicht wieder aufgehoben worden. Viele einheimische Kritiker/innen betrachteten die Olympischen Spiele als Schachzug, um von der Reaktorkatastrophe abzulenken. So wurde die vorübergehende Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio mit der Ausbreitung von Covid-19 begründet. Doch die übergeordnete Frage bleibt unbeantwortet: Sollte ein Land mit einer andauernden Atomkatastrophe diese Spiele veranstalten? 

Plakat mit Olympischen Ringen, ein Ring ist mit Zeichen für radioaktive Strahlung gefüllt. Untertitel: Tokio 2020 The Radioactive Olympics

Der Ausbau der Atomkraft als nationale Strategie

In Japan wurde der Ausbau der Atomkraft von der staatlichen Politik vorangetrieben. Mithilfe von Gesetzen wie dem „Gesetz über das Stromgeschäft“ und dem „Gesetz über die Entschädigung aufgrund von Atomschäden“ hat die Regierung die Nutzung von Atomenergie gefördert und die Stromversorger in das Geschäft gelockt. Es folgten große Unternehmen, die sich an den Gewinnen beteiligen wollten sowie die Baubranche und deren mittlere und kleinere Subunternehmen. Sogar die Gewerkschaften, die die Arbeitnehmenden dieser Unternehmen vertraten, wurden zu willigen Komplizen des Atomgeschäfts. Riesige Summen wurden für Werbung ausgegeben. Sowohl die Medien als auch die Werbebranche priesen die Sicherheit der Atomenergie. Ein zentralisiertes Bildungssystem, in dem der Staat eine bestimmende Rolle bei der Erstellung der Lehrpläne und der Auswahl der Lehrbücher spielt, hat sichergestellt, dass den Kindern der verklärte Traum von der Atomenergie eingeimpft wird.

Koide Hiroaki's (Japanese nuclear engineer) message for young people in Europe and Asia - Heinrich-Böll-Stiftung Asia Global Dialogue

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Diese Akteure verbreiten den „Mythos von der sicheren Atomenergie“ – nach dem Atomkraftwerke vor großflächigen Unfällen geschützt seien. Japan erstreckt sich über weniger als 0,3 Prozent der globalen Landfläche, liegt aber in einer Region, in der vier große tektonische Platten gegeneinander drängen, in der 20 Prozent der Erdbeben weltweit geschehen und sieben Prozent der größten Vulkane der Welt stehen. Auf einem solch unsicheren Gebiet Atomkraftwerke zu bauen, beschwört zwangsläufig Gefahren herauf. Die Regierung war sich dessen bewusst und baute sie nicht in Städten, sondern in dünn besiedelten Gebieten. Dem Widerstand der Gemeinden wurde mit staatlicher Polizeigewalt begegnet.[i] Ohne weiteren Regressanspruch klagten sie vor Gericht. Allerdings erklärte die Justiz, dass die Nutzung von Atomkraft in der Verantwortung der Exekutive liege. Sie lehnte es ab, sich mit den Beschwerden der Kläger zu befassen.

Dieselben staatlichen Institutionen, die schon in Kriegszeiten die totale Mobilisierung des Landes herbeigeführt hatten, bestimmten auch über den Ausbau der Atomkraft.. Letztendlich wurden 57 Reaktoren in die japanischen Landesgrenzen gezwängt. Zusammen werden sie als „nukleares Dorf“ bezeichnet.  

Die Katastrophe von Fukushima

Am 11. März 2011 lösten ein gewaltiges Erdbeben und ein darauffolgender Tsunami eine Katastrophe im Atomkraftwerk Tokoy Electric Fukushima Daiichi aus.

Am Ende des 2. Weltkrieges erlebte Japan die Atomangriffe auf Hiroshima und Nagasaki durch die Vereinigten Staaten. Die beiden Städte wurden zerstört und mehr als 200.000 Menschen verloren ihr Leben. 100.000 Menschen überlebten, litten aber danach zeitlebens unter Krankheiten und Diskriminierungen als hibakusha (Überlebende der Atombombe). Der Atompilz, der in der Atmosphäre über Hiroshima gezündet wurde, enthielt 8,9 x 1013 Becquerel Cäsium 137, ein radioaktives Material, das verheerende Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat. Beim Unfall von Fukushima Daiichi traten nach Information der japanischen Regierung an die Internationale Atombehörde 1,5 x 1016 Becquerel Cäsium 137 aus. Mit anderen Worten: Die japanische Regierung räumte ein, dass in Fukushima eine 168 Mal größere Menge dieser gefährlichen Substanz ausgetreten ist als in Hiroshima. Wenn Japan ein gesetzestreues Land wäre, das seine eigenen gesetzlichen Verordnungen einhielte, hätte die Kontamination durch den Unfall dazu führen müssen, dass nicht nur Fukushima sondern auch die umliegenden Gebiete von Ost-Japan – eine Fläche von 14.000 km2 – zu einer Strahlenüberwachungszone erklärt worden und damit nicht mehr für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich gewesen wäre. Der Schaden, der durch Fukushima Daiichi verursacht wurde, war nicht auf die Präfektur Fukushima begrenzt. Es war ein Unfall, der einem großen Gebiet für einen langen Zeitraum Unheil bescherte. Ich habe mich entschieden, von der „Fukushima-Katastrophe“ zu sprechen.“[ii]

Am Tag des Unfalls veröffentlichte die Regierung eine „Erklärung über einen atomaren Notfallzustand“ und befahl später, über 100.000 Menschen aus einem stark kontaminierten Gebiet von rund 1.150 km2 zu evakuieren. Die Evakuierung war natürlich eine notwendige Maßnahme. Sie bedeutete für die Betroffenen aber die Entwurzelung ihres Lebens und den Verlust ihres Heims. Die Evakuierung der Menschen von entsetzlichen Evakuierungszentren in vorübergehende Unterkünfte und schließlich in „Notunterkünfte“ geschah unter fürchterlichen Bedingungen, die einige nicht überlebten, vor allem Ältere. Ihrer Existenz, Familien und Verwurzelungen beraubt, nahmen sich andere Evakuierte das Leben. Es gab mehr als 2.000 Tote, die mittelbar mit der Atomkatastrophe zusammenhingen.

Die Regierung setzte außerdem Gesetze und Verordnungen über Strahlenbelastungen außer Kraft und ließ mehrere Millionen Menschen im Stich, die in Gebieten wohnten, die eigentlich zu „Strahlenüberwachungszonen“ erklärt hätten werden müssen. Seit dem Unfall sind mehr als neun Jahre vergangen, aber der Gehalt von Cäsium 137 hat sich bei einer Halbwertszeit von 30 Jahren nur auf 80 Prozent verringert und der „atomare Notfallzustand“ ist noch immer in Kraft. Viele einfache Menschen, die sich nach geltendem Recht nicht in dem kontaminierten Gebiet aufhalten dürften, mussten ihren Alltag wie gehabt bewältigen.

Nachdem der Mythos der nuklearen Sicherheit zerbröckelt war, verbreitete das nukleare Dorf den „Mythos von der Sicherheit vor Strahlenbelastung“. Natürlich besteht eine Gefahr durch Strahlenbelastung. Deswegen gibt es Gesetze und Verordnungen über Strahlengrenzwerte. Nach der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP, International Commission on Radiological Protection) sollte die Strahlenbelastung für normale Menschen 1 Millisievert pro Jahr nicht übersteigen. Die japanische Regierung hat diesen Wert jedoch auf 20 Millisievert pro Jahr hochgesetzt und die Personen, die zuvor aus kontaminierten Gebieten evakuiert worden waren, aufgefordert zurückzukehren. Ihre geringe Wohnbeihilfe wurde ausgesetzt. Nach den Empfehlungen der Strahlenkommission sind 20 Millisievert Strahlenbelastung pro Jahr nur bei Menschen zulässig, die beruflich mit Radioaktivität und Strahlung zu tun haben. Die derzeitige Politik, 20 Millisievert pro Jahr zum Standard zu erklären, um die Wiederöffnung der bisher gesperrten Gebiete zu genehmigen, setzt die Menschen, auch die besonders strahlenempfindlichen Kinder, unzulässigen Dosen an Strahlenbelastung aus.

Verursacher, die keine Verantwortung übernehmen

Die Katastrophe von Fukushima wirkt sich bis heute aus. Wer aber sind die Verursacher? Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wird von der Tokyo Electric Power Company (TEPCO) betrieben und ist auch in deren Besitz. Wenn man davon ausgeht, dass TEPCO für den Unfall verantwortlich war, ist das Unternehmen auch der unmittelbare Verursacher. Und dennoch wurden der ehemalige Direktor und andere Verantwortliche von TEPCO am 19. September 2019 in einem strafrechtlichen Prozess freigesprochen.[iii] Das Urteil wurde damit begründet, dass es so etwas wie eine unfallsichere Ausrüstung nicht gebe und dass die Forderung nach vollkommener Sicherheit, den Bau von Atomkraftwerken verhindern würde. Die Justiz hat von Anfang an eine Rolle im nuklearen Dorf gespielt. Dieses Urteil war ein klarer Beweis dafür.

Wie weiter oben beschrieben, war die Atomkraft in Japan Teil einer nationalen Strategie und wurde vom Staat gefördert. Selbst wenn TEPCO unmittelbar verantwortlich ist, war es doch die Regierung, die das Unternehmen in die Atomenergieversorgung gedrängt hat und die Sicherheit der Technologie garantierte. Es waren die Regierungen der Liberaldemokratischen Partei (LDP) und ihre verschiedenen Premierminister, die alle 57 Atomkraftwerke in Japan bewilligten. Aber nicht ein Mitglied der LDP hat für das, was in Fukushima passiert ist, Verantwortung übernommen. Niemand aus dem Handels- und Industrieministerium, dem heutigen Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie, das die Atomagenda im Gleichschritt mit der Verwaltung vorantrieb, hat Verantwortung übernommen. Das gleiche gilt für die Atomexpert/innen, die Sicherheitsüberprüfungen durchführten und garantierten, dass keine Unfälle passieren würden. Niemand aus den Medien oder dem Bildungssektor, die dabei halfen, den Mythos der atomaren Sicherheit zu verbreiten, ist aufgestanden und hat Verantwortung übernommen. Sie alle wurden von der Justiz unterstützt.

Die Lektion, die ich aus der Fukushima-Katastrophe gelernt habe, ist folgende: Auch wenn die Wahrscheinlichkeit winzig klein ist – sobald in einem Atomkraftwerk ein Unfall passiert, wird der Schaden katastrophal sein. Insofern müssen alle Atomkraftwerke sofort demontiert werden. Die Lektion, die das nukleare Dorf gelernt hat, ist allerdings eine ganz andere: Egal wie katastrophal der Unfall war, egal wie viele Opfer es gab, niemand wird gezwungen, Verantwortung zu übernehmen. Das nukleare Dorf, das die Fukushima-Katastrophe unbeschädigt überstanden hat, muss nichts mehr fürchten. Sollte also wieder ein Unfall passieren, muss nicht eine einzige Person Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus werden die Stromversorger sich mithilfe staatlicher Unterstützung von den Verlusten erholen und kurz darauf wieder Gewinne erzielen. Derzeit arbeiten sie alle an einem atomarenNeustart. Ich bin der Meinung, dass sie eine kriminelle Einheit bilden und nenne sie deshalb nicht mehr das „nukleare Dorf“ sondern die „Nuklearmafia“.

Die Olympischen Spiele von Tokio als Ablenkung von der Fukushima-Katastrophe

Die Nuklearmafia hat daran gearbeitet, die Fukushima-Katastrophe aus dem Gedächtnis der Bevölkerung zu löschen. Die meisten Medien berichten nicht mehr über das Ereignis. Die Schulen nutzen ein „ergänzendes Lehrbuch“, um den Kindern zu erklären, dass Strahlung nicht gefährlich ist. Und die ultimative Waffe waren die Olympischen Spiele. 

In jeder Zeitrechnung haben Regierungen auf Brot und Spiele zurückgegriffen, um die Augen der Bürger von dem wirklichen Elend, mit dem sie sich täglich auseinandersetzen müssen, abzulenken. Im September 2013, zweieinhalb Jahre nach der Fukushima-Katastrophe, konnte Premierminister Abe Shinzo die Olympischen Spiele mit der Lüge nach Tokio holen, dass die Situation „unter Kontrolle“ sei. Die Abe-Regierung nutzte die Olympischen Spiele, um die Erinnerung an die Fukushima-Katastrophe aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen. Heute stehen viele Japaner an der Schwelle des Vergessens.

Anfang 2020 kam dann allerdings Covid-19 und begann sich in Japan und anderswo auszubreiten. Premierminister Abe war entschlossen, sich seinen olympischen Traum nicht durchkreuzen zu lassen. Er unterschätzte die Ausbreitung des Virus und versuchte, sie zu ignorieren. Die Infektionen in Japan stiegen unerbittlich an und am 7. April musste er den Ausnahmezustand erklären. Die Abe-Regierung entschied, die Olympischen Spiele für ungefähr ein Jahr zu verschieben. Es ist allerdings unklar, ob die Ausbreitung von Covid-19 bis dahin im Griff sein wird.

Der nach der Fukushima-Katastrophe erklärte „atomare Notfallzustand“ blieb trotz der Ausnahmesituation aufgrund von Covid-19 bestehen. Von den bei dem Unfall freigesetzten Radionukliden geht von Cäsium 137 noch immer die größte Gefahr aus. Erst in 100 Jahren wird die Strahlung durch Cäsium 137 auf ein Zehntel des ursprünglichen Wertes zurückgegangen sein. Doch wird dann immer noch ein riesiges Gebiet übrig bleiben, das als Strahlenüberwachungszone betrachtet werden sollte. Der aufgrund von Covid-19 erklärte Ausnahmezustand wurde am 25. Mai in allen Gebieten aufgehoben. Ich werde in 100 Jahren nicht mehr hier sein; selbst die heute geborenen Babys werden gestorben sein, und Japan wird noch immer in einer atomaren Notfallsituation leben.

Die Sorge über die Verbreitung von Covid-19 hat zur Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio auf das nächste Jahr geführt. Da der Virus sich weiter verbreitet, nicht nur in Japan sondern überall auf der Welt, verbreitet sich zunehmend die Ansicht, dass man die Olympischen Spiele besser früher als später absagen sollte, anstatt an ihnen und den verschwenderischen Ausgaben festzuhalten. Wenn man davon ausgeht, dass die Olympischen Spiele dazu dienen sollten, von der Fukushima-Katastrophe abzulenken, hätte Japan sich gar nicht erst darum bewerben sollen. Tatsächlich sollten die Spiele gerade aufgrund der andauernden Tragödie der Fukushima-Katastrophe abgesagt werden. 


Der Text ist bereits auf Englisch in Perspectives Asia Nr. 9 sowie auf der Webseite des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Hongkong erschienen.

Übersetzt aus dem Englischen von Dr. Valeska Henze.


[i]Vorfälle von Polizeigewalt gegen die Anti-Atomkraftbewegung gibt es reichlich. Typische Anlässe waren öffentliche Anhörungen über die Standorte für Atomkraftanlagen und Sitzungen, auf denen über eine Abtretung der Fischereirechte entschieden werden sollte. Die Bereitschaft der Polizei, Anti-Atomkraftanhänger für die geringsten Übertretungen festzunehmen und zu inhaftieren, hat selbst Gerichte zu der Feststellung veranlasst, dass eine „deutliche Bereitschaft [bestehe], die Anti-Atomkraftbewegung vorsätzlich zu unterdrücken“.


[ii] [Notiz der Übersetzerin] „Fukushima“ ist hier in einer phonetischen Schrift geschrieben und nicht in sino-japanischen Schriftzeichen, die verwendet werden, um die Präfektur zu bezeichnen. Der Grund dafür ist, dass das Phänomen nicht auf eine geografische Verwaltungseinheit begrenzt werden kann, so wie auch das in gleicher Weise geschriebene „Hiroshima“ auf ein wesentlich größeres Phänomen verweist als auf etwas, das einer einzelnen Stadt passiert ist.  

[iii]Johnson, David T., Hiroshi Fukurai und Mari Hirayama. 2020. “Reflections on the TEPCO Trial: Prosecution and Acquittal after Japan’s Nuclear Meltdown.” The Asia-Pacific Journal, 18 (2), No.1 (15. Januar 2020).