"Noch ist alles offen"

Adam Tooze schaut auf das Jahr 2020 zurück. Es war ein Jahr des Umbruchs. Ungleichheiten und gesellschaftliche Abgründe sind sichtbar geworden. Welchen Weg aus der Krise wird unsere Gesellschaft wählen?

Adam Tooze

Das Jahr 2020 hat die Welt verändert. Globale Machtverhältnisse und ökonomische Glaubenssätze sind ins Wanken geraten, soziale Ungleichheiten und ökologische Ungerechtigkeiten noch deutlicher zutage getreten. War 2020 ein echtes Umbruchsjahr – und wie sind die Ereignisse zu bewerten? Werden wir umsteuern, in der Finanz- und Klimapolitik? Und wohin geht Europa? Jörg Haas hat den Wirtschaftshistoriker Adam Tooze am 16. Dezember 2020 zum Gespräch getroffen.

Jörg Haas: Fast alle Ihre Bücher handeln von Krisen und nicht selten sind Krisen auch Umbruchzeiten. Zeiten, in denen sich das Rad der Geschichte schneller zu drehen scheint als sonst. 2020 war ohne Zweifel ein Krisenjahr. Ist es auch ein Umbruchsjahr, wie es 1989 war?

Adam Tooze: Ich glaube, das Jahr 2020 ist mit 89, dem Jahr der Wende, nicht zu vergleichen. Unter anderem, weil die Kon­turen des damaligen Umbruchs sehr klar waren. Es ging um eine Mauer, es ging um den Eisernen Vorhang. Aber im vergangenen Jahr haben wir Dinge erlebt, die wirklich unvorstellbar waren. Noch 2019 haben wir – auch auf der Linken – Bewegungen wie Extinction Rebellion sehr kritisch hinterfragt, weil sie einen apokalyptischen Todeskult gepflegt haben und unter anderem den Stopp des Flugverkehrs forderten. Das war vielen Menschen sehr suspekt. In der Coronakrise passierte dann genau das: Für sieben, acht Monate wurden Flughäfen lahmgelegt, wie London Heathrow. Es war gespenstisch. … Ja, das alles hätten wir uns niemals vorstellen können. Aber es ist noch offen, ob 2020 tatsächlich ein Umbruchsjahr sein wird. So klar wie 89 entwickelt sich die Geschichte im Moment nicht.
Auf jeden Fall war 2020 ein Krisenjahr, und zwar das einer globalen Krise, wie wir sie noch nie hatten. Ihre These: Diese Krise ist nicht nur eine der wiederkehrenden Krisen des modernen ­Kapitalismus, sie ist auch Ausdruck eines gestörten Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Bereits seit den 70er und 80er Jahren kennen wir Theorien, die davon ausgehen, dass zoonotische Viren für die Menschheit zu einer sehr akuten Bedrohung werden können. Und zwar in einem Zeitrhythmus, der viel schneller läuft als die Klimakrise. Hier rechnen wir in Jahren und Jahrzehnten, bei einer Pandemie geht es, wie wir mittlerweile wissen, um Stunden und Tage und Wochen. Im Grunde ist sie auch ein Symptom des aus dem Gleichgewicht geratenen Verhältnisses zwischen der Menschheit, der modernen urbanen Gesellschaft und ihrer natürlichen Umwelt. 

Nun haben wir nach einem Dreivierteljahr bereits einen hocheffektiven Impfstoff. Ist nicht zu befürchten, dass die Menschen sich mit dieser Erfahrung sicher fühlen und sich sagen: Dank der modernen Wissenschaft werden wir diese neuen Gefahren binnen kürzester Zeit immer wieder beherrschen? Sieht sich der Mensch als Krone der Schöpfung bestätigt?

Wir müssen uns doch fragen: Warum war es notwendig, so auf die Wissenschaft zurückzugreifen? Und die Antwort darauf ist weniger erhaben. Alle Versuche, diese Krise über soziale Distanzierung in den Griff zu bekommen, sind im Westen kläglich gescheitert – und zwar flächendeckend. Und da sollte man sich nicht verhaken in einen Narzissmus der kleinen Unterschiede zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, den Vereinigten Staaten, den verschiedenen Bundesstaaten Amerikas. Im Grunde sind wir alle an diesem Problem gescheitert, und wir haben Glück, dass in diesem Fall tatsächlich eine Wunderwaffe zur Verfügung steht. Ich befürchte allerdings, die vorherrschende Reaktion wird ein «Weiter so» sein. Ich erwarte jedenfalls nicht, dass sich unser Ernährungssystem und unsere Landnutzung fundamental verändern werden. Das aber wäre notwendig. 

Nun erleben wir gerade eine schwere zweite Welle in Europa und den USA, während in China die Wirtschaft wieder brummt. Wirken sich diese Unterschiede im Erfolg der Pandemiebekämpfung auf das globale Machtgefüge aus? Gibt es einen Umbruch in der Systemkonkurrenz zwischen China und den Staaten des Westens?

Ich denke, ja. Das Virus hat krachend bestätigt, was meines Erachtens sowieso schon klar war: Dass die globale Vorrangstellung des Westens beendet ist. Doch es hätte auch anders kommen können, und das wissen die Chinesen auch. Die politische Krise in China in der ersten Woche im Februar 2020 war sehr real. In der Zensur musste die Schraube enorm angezogen werden, Oppositionelle wurden massiv unter Druck gesetzt. Aber China ist es gelungen, einer Katastrophe zu entgehen. Und wir im Westen haben dabei kräftig nachgeholfen. Unsere Blamage in der Bekämpfung der Pandemie hat nicht nur uns diskreditiert, wir haben dadurch die Position Pekings auch noch enorm gestärkt. Der Westen hat einen sehr schweren Schlag einstecken müssen, dessen Folgen noch viele Jahre zu spüren sein werden. 

Konnte China mit seiner «Maskendiplomatie» tatsächlich punkten?

Die ersten plumpen Versuche Pekings, seinen Vorteil im Frühjahr auszunutzen, sind gerade in Europa, aber auch unter den asiatischen Nachbarn auf sehr wenig Resonanz gestoßen. Wenn wir uns die Umfragen ansehen, dann ist klar, dass es in der weltweiten öffentlichen Meinung in diesem Jahr einen Umschwung gegen China gibt. 

Das aber kann man für große Teile Afrikas und Lateinamerikas schon wieder nicht sagen. 

Nein, denn dort gibt es Bedürfnisse, die das chinesische Regime bedienen kann. Vermutlich wird die Mehrheit der Menschheit nicht mit westlichen, sondern mit chinesischen Impfstoffen bedient werden, die relativ zeitgleich auf sehr viel klassischerem Weg entwickelt wurden. Die sind bereits in der dritten Phase der Tests, zum Teil auch schon erprobt und sie werden auch angenommen. In Indonesien, in der Türkei, in Afrika und Lateinamerika wird man auf jeden Fall zu chinesischen Impfstoffen greifen, weil die westlichen einfach zu teuer sind. Und nicht zuletzt, weil wir die Impfstoffe selber brauchen – während das bei den Chinesen nicht der Fall ist. 

Hat die USA nicht ein Machtinstrument in der Hand – in Form des Dollars als Weltwährung? Die amerikanische Zentralbank, die «Fed», ist nach wie vor die Schaltzentrale der globalen Geldpolitik.

Wenn es einen Teil der amerikanischen Machtpolitik gibt, der über die letzten Jahrzehnte relativ funktional operiert hat – ­gewinnbringend für den amerikanischen Kapitalismus, aber auch seine Partner weltweit –, dann ist es die Geld­politik. Der Dollar ist nach wie vor Weltwährung. Er wird von privaten ­Akteuren, von Bankiers und Unternehmen weltweit verwendet, unter anderem auch von chinesischen Banken und Unternehmen. Und die Fed hat sich als ein sehr großzügiger Hegemon erwiesen. Wenn es nottut, schaffen die Amerikaner ohne ­großes Hinterfragen Liquidität, um die Stabilität dieses Systems aufrechtzuerhalten. Und da sind sie konkurrenzlos. Die Euro­päische Zentralbank und der Euro haben nicht die gleiche Reichweite, und das Netzwerk der Liquiditäts-Linien der chinesischen Zentralbank ist nicht zu vergleichen mit den Mitteln der Fed. 

Warum nützt den Vereinigten Staaten dieser Vorteil so wenig im Wettstreit um die Gunst des globalen Südens? 

Die Vereinigten Staaten haben 2018 tatsächlich eine neue Entwicklungsbank gegründet, um mit China zu konkurrieren. Die Kanadier und Australier übrigens auch. Aber ihre Bilanzen sind beschränkt und es geht vor allem darum, nach dem Muster der sogenannten «blended finance», private Mittel zu mobilisieren. Das Gleiche gilt übrigens auch für Vorschläge wie den deutschen Marshallplan mit Afrika. Das private Geld aber fließt selbst mit staatlicher Unterstützung vor allem in Schwellen­länder und nicht in die ärmsten Entwicklungsländer.

Nun sind ja zahlreiche Staaten des globalen Südens durch die Coronakrise in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Sie brauchen einen Erlass, oder wenigstens eine Stundung ihrer Schulden.

Wir befinden uns im Moment in der Schuldenerlass-Politik in einem komplizierten Dreiecksverhältnis der Gläubiger. Auf der einen Seite stehen die Ansprüche der privaten Gläubiger in Europa, Asien und Amerika – auf der anderen Seite, neu und groß, die Ansprüche der chinesischen Kreditgeber, alle unter dem Dach einer chinesischen Politik. Und als dritten Partner haben wir die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen in Europa und den Vereinigten Staaten, von denen gefordert wird – aus sehr gutem Grund –, dass sie als Erste den Schritt zu einem großzügigen Schuldenerlass tun. Und das ist natürlich ein verzwicktes Spiel. Wer macht zuerst die großen Konzessionen? Wie transparent verfährt man? Das ist eines der Probleme, das im Jahr 2021 ausgehandelt werden muss, mit einer Administration in Washington, die zum ersten Mal bei diesem Problem wirklich konstruktiv eingreifen wird.

Mein Eindruck ist, dass sich auch im Bereich der Geldpolitik ein Umbruch andeutet. Die Fed hat jetzt angekündigt, Mitglied im Netzwerk für die Begrünung des Finanzsystems werden zu wollen. Dieses Netzwerk von Zentralbanken und anderen Finanz­institutionen wurde 2015 im Jahr des Pariser Abkommens gegründet.

Lange Zeit wäre das aus politischen Gründen unmöglich gewesen und es ist ziemlich bezeichnend, dass die Fed jetzt – in den Tagen nach der endgültigen Entscheidung der Mehrheit der Republikaner, den Wahlerfolg Bidens anzuerkennen – ankündigt, mit von der Partie sein zu wollen. Und die Frage ist auch, wie weit das tatsächlich geht. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail, nicht nur auf amerikanischer Seite, sondern auch in Europa. Es kündigt sich jetzt schon Widerstand an seitens der Bundesbank. Sie will die Versuche der Europäischen Zentralbank bremsen, hier eine führende Rolle zu spielen. Es geht um technische Fragen, aber es geht auch um eine ganz grundsätzliche Frage: Wofür sind Zentralbanken da? Haben sie nur eine defensive Funktion in dem Sinne, dass sie für die Preisstabilität zuständig sind? 

Welche Rolle müssen denn Ihrer Ansicht nach die Zentralbanken bei der Bewältigung der Klimakrise spielen?

Die Aufrechterhaltung des bestehenden Finanzsystems – unter anderem durch die Stabilisierung des Preisniveaus – trägt zur dynamischen Entfaltung des fossilen Wirtschaftssystems bei. Im Moment betreiben die Zentralbanken durch ihre ­Absicherung der Kreditmärkte, die auch für die Öl-, Gas- und Kohleindustrie offen sind, de facto nach wie vor eine Status-quo- und deshalb umweltzerstörende Politik. Es reicht nicht, dass die Zentralbanken passiv zusehen und sich gegen Risiken absichern. Sie müssen bewusst umsteuern, denn wir müssen dieses ­gesamte Wirtschaftssystem im Eiltempo umpolen. 
Und das ist jetzt der Punkt: Geht es bei den aktuellen Diskussionen der Europäischen Zentralbank um Greenwashing, im ­Grunde um repressive Toleranz, um es mit den 68ern zu sagen? Nach dem Motto: Klima ist ein ganz wichtiges Thema, aber bleiben wir seriös? Oder geht es wirklich darum, zu sagen: Ja, wir befinden uns in einem Notstand und wir müssen handeln?

Gehen wir zur Klimapolitik. Europa ist hier vorangegangen, doch Chinas Präsident Xi Jinping sorgte 2020 für einen Paukenschlag. Vor der UN-Generalversammlung im September kündigte er an, bis zum Jahr 2060 Netto-Null-Emissionen für sein Land erreichen zu wollen. Daraufhin formulierten Japan und Korea dasselbe Ziel für das Jahr 2050. Schließlich wurde Biden zum neuen Präsidenten der USA gewählt. Stehen wir vor einem Umbruch, einem Kipppunkt in der globalen Klimapolitik?

Es sieht so aus. Ich war sehr überrascht von den Ankündigungen, die aus China kamen. Es hat viele überrascht, auch wenn es im Vorfeld ein paar Andeutungen gab. 

Chinas Ankündigung hat dann ja auch Europa in Zugzwang gebracht, als im Dezember im Europäischen Rat die Entscheidung anstand, das europäische Klimaziel auf 55 Prozent anzuheben.

Die Europäer sind in der Klimapolitik ja traditionell Vorreiter. Die Europäische Kommission hatte dieses Klimaziel im Vorfeld vorgeschlagen, was aber auf harten Widerstand insbesondere Polens stieß. In den Verhandlungen im Europäischen Rat wurde den Polen dann klargemacht, dass es bis zum frühen Morgen einen Deal geben muss, und zwar einen, der auf die 55 Prozent hinausläuft, weil es sonst für Europa peinlich wäre. 

Wie schätzen Sie die Haltung der USA ein? 

Von der Politik in Amerika sollte man sich nicht allzu viel versprechen. Die Biden-Administration macht zwar ernst mit der Klimapolitik, sie muss aber im Kongress mit Widerstand rechnen. Mit ihren äußerst knappen Mehrheiten wird sie mit großen Initiativen vorsichtig vorgehen. Bei Regulierungs­fragen entscheiden letztendlich die Gerichte, und die sind mehr denn je unternehmerfreundlich orientiert. Das Einzige, auf was in Amerika wirklich zu vertrauen ist, sind die ökonomischen und technologischen Veränderungen. Und die sind mittlerweile rasant und dramatisch. Es ist einfach nicht mehr rentabel, mit Kohle Strom zu erzeugen und innerhalb von wenigen Jahren vermutlich auch nicht mehr mit Gas, außer als Reserve. Tesla ist der Marktschlager. Elon Musk der reichste Mann der Welt. Das macht Eindruck. 

Inwiefern aber verändern die Ankündigungen Chinas, Südkoreas und Japans in enger Folge – auch mit Blick auf die gesteigerten Ambitionen Europas – doch die gesamte Balance?

Ich denke, wir treten damit tatsächlich in eine neue Phase der globalen Klimapolitik. Zum ersten Mal verpflichtet sich der größte Emittent – heute ist das China – tatsächlich zur Dekarbonisierung. Das war unter keinem der vorgehenden Regime der Fall, bis zurück zu Kyoto, als am Ende die Amerikaner als größte Emittenten nicht mit von der Partie waren. 2020 ist das Jahr, in dem wir diesen fundamentalen Wandel haben. Und das ist ungeheuer wichtig.

Adam Tooze Portrait

Die Frage ist nur: Ist es zu spät? Können wir noch schnell genug umsteuern?

Der entscheidende Punkt wird sein, ob die Vorreiterstaaten den Rest der Menschheit, insbesondere die anderen größeren Staaten, mitnehmen können. Und da denken wir vor allem an die großen Schwellenländer, Länder wie die Türkei, die Philippinen, Indonesien, Brasilien. Wenn man sich die CO-Zahlen ansieht, dann ist in diesen Ländern das Wachstum der Emissionen mittlerweile am schnellsten. Und dort stehen nun sehr schwerwiegende energiepolitische Entscheidungen an – auf einem Einkommensniveau, das einem Viertel oder einem Fünftel des europäischen Niveaus entspricht. 

Welche Szenarien sind denkbar, wenn wir diese Länder nicht mitnehmen können? 

Zum Beispiel könnte sich eine Gruppe von Schwellenländern mit mittleren Einkommen mit fossilen Energielieferanten zusammenschließen zu einem Block, der nicht ohne Weiteres zu knacken ist.

Könnte sich ein solcher Block wirklich dem Sog der technologischen Dynamik entziehen, die von den großen Ökonomien Chinas, der USA, Europas und Japans ausgehen wird? Man kann mit den alten Technologien noch eine Menge Schaden anrichten, aber vorn mitspielen tut man damit nicht. Und es gibt das Szenario von klimabezogenen Handelsrestriktionen – die Debatte über den Ausgleich von CO-Preisen an den Grenzen der EU steht ja schon auf der Tagesordnung. Und zuletzt noch der Herden­trieb der Finanzmärkte, die auch immer weniger von fossilen ­Energien wissen wollen. Könnte uns das hoffen lassen?

Man mag hoffen, dass es so kommt, aber wir wissen, dass die Entwicklung weltweit ungeheuer unterschiedlich ist. Es ist nicht klar, dass diese Vorstellung ohne Weiteres funktioniert. Das heißt natürlich nicht, dass mit dieser technologischen ­Dynamik nicht ein sehr großer Teil, vielleicht sogar der größte Teil der Emissionen tatsächlich runtergefahren werden kann. Das Problem ist: Wie groß ist der Rest, und können wir uns den angesichts des schwindenden CO-Budgets noch leisten? Und vor allem: Was sind die Konsequenzen eines ambitionierten Klimaschutzes für große Teile der Menschheit, deren Entwicklungsstandard natürlich nach wie vor ungeheuer niedrig ist? Es gibt ein Win-win-Szenario, in dem Wind und Solar so billig sind, dass sie zum allerersten Mal die Elektrifizierung von großen Teilen der Welt durchgehend ermöglichen. Aber gerade im Verkehrssektor und in der Schwerindustrie sind wir noch nicht so weit, sind die klimafreundlichen Optionen noch teuer. 

Müssen wir angesichts dieser Herausforderung vielleicht eher auf Zeiten wie den Zweiten Weltkrieg schauen, als die USA ihre Privatwirtschaft zu einer ungeheuren produktiven Anstrengung mobilisiert, gesteuert und über die Zentralbank auch finanziert hat?

Um die Coronakrise zu bewältigen, haben wir zu finanzpolitischen Mitteln gegriffen, die kriegswirtschaftliche Ausmaße haben. Amerika fährt in diesem Jahr ein Haushaltsdefizit von achtzehn Prozent des Bruttosozialproduktes ein. Das sind für Amerika tatsächlich Anstrengungen im Ausmaße des Zweiten Weltkriegs. Aber wofür wurden diese Mittel verwendet? Im Grunde, um die bestehende Wirtschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Unter anderem für Arbeitslosengeld, für die Unter­stütz­ung von Kleinbetrieben und für großzügige Steuererlasse. Es war eine vertane Gelegenheit für die Energiewende. 

Billionen für die Finanzmärkte – und wie viel für zukunftsorientierte Investitionen und den Klimaschutz?

Parallel läuft in den USA die eher industriepolitisch orientierte Debatte über Energiepolitik und Infrastruktur. Aber da geht es auf einmal nicht mehr um Billionen. Da geht es, wenn es hochkommt, um Hunderte Milliarden. Meist weniger als das, auch bei der Impfstoffentwicklung, wo wir von etwa zehn Milliarden Dollar sprechen. Es herrscht immer noch eine große Kluft zwischen diesen beiden Dimensionen der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Und ein Anliegen müsste eigentlich sein, sie zusammenzuführen. 

Das war ja das Anliegen des Green New Deal von Alexandria Ocasio-Cortez, Bernie Sanders, Ed Markey in den Vereinigten Staaten – im Grunde ein sozialdemokratisches Programm der umfassenden gesellschaftspolitischen Erneuerung Amerikas, unter dem Vorzeichen einer ökologischen Politik …

… aber das wird sich nicht realisieren lassen und es ist meiner Meinung nach auch nicht unbedingt zwingend, wenn wir uns auf das Klimaproblem konzentrieren. Die meisten Berechnungen für einen durchaus ambitionierten Energiewendepfad laufen darauf hinaus, dass ein jährlicher Investitionsschub im Rahmen von drei bis fünf Prozent des globalen Bruttosozialprodukts gut und gerne ausreichen würde, um uns viel besser zu stellen, als wir im Moment dastehen. Wir schaffen so nicht unbedingt die 1,5 Grad, aber trotzdem würden wir uns deutlich in die richtige Richtung bewegen. Und das entspricht nicht den Anstrengungen eines Weltkrieges, das sind die eines Kalten Krieges. Das sind die Verteidigungsausgaben eines mehr oder weniger ambitionierten NATO-Mitglieds wie der Bundesrepublik unter Helmut Kohl in den 80er Jahren. Wenn man drei bis vier Prozent des Bruttosozialprodukts für den Klimaschutz von staatlicher Seite ausgeben würde, wäre man in diesem Rahmen. Das kann man gut und gerne über Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten. 

Sie sind beim Thema Europa gelandet. Auch Europa ist schwer ins Schleudern geraten in diesem Jahr. Europa hat aber in der Krise auch ganz große Schritte nach vorne gemacht. Umbruch in Europa – was passiert da gerade? 

Ich würde drei Dimensionen nennen: Die erste ist eine sozial­politische in dem Sinne, dass es in Europa durch Kurzarbeit mehr oder weniger flächendeckend gelungen ist, eine beispiel­lose Arbeitslosigkeit abzuwenden. Der europäische Sozialstaat hat sich bewährt in diesem Moment, und das ist gerade auch im Hinblick auf die Energiewende nicht ganz unwesentlich, wenn wir den Menschen die Angst vor dem Fall ins Bodenlose nehmen wollen. Wir müssen einfach nur über den Atlantik schauen, um zu sehen, wie es auch in Europa hätte aussehen können, wenn wir dieses Modell nicht hätten. Die Leute stehen in Zehntausenden für Lebensmittel an. Es ist wirklich eine brutale soziale Krise, die sich hier über den Winter entfaltet hat. 

Die zweite Dimension?

Das ist die Fiskalpolitik, da sah es natürlich erst nicht gut aus. Es sah so aus, als wären wir wieder im Eurozonen-Grabenkrieg, der sich im Grunde seit 2010 hinzieht. Die gleichen Probleme: Lastenteilung zwischen den Ländern, finanzpolitische Disziplin, die Möglichkeit, gemeinsame Coronabonds aufzulegen. Die ­Rollen ähnlich verteilt wie immer: die Deutschen, die Niederlande und das Baltikum gegen die Südländer.

Das hat sich dann ja aufgelöst …

… unter anderem natürlich durch die Entscheidung des Merkel-Kanzleramts, grünes Licht zu geben und sehr konkret an einer gemeinsamen Finanzierung über den EU-Haushalt zu arbeiten. Das ist schon einiges, und das setzt wirklich ein Zeichen. Das wurde auch von den Märkten entsprechend belohnt. Man muss der europäischen Politik zugutehalten, dass sie angesichts dieser Krise Handlungsfähigkeit bewiesen hat. 

Und sie hat trotz der Coronakrise immer noch den Kurs ­Richtung Green Deal gehalten.

Das wäre die dritte Dimension, die man nicht ohne Weiteres ­voraussetzen kann. Amerika hat ein finanzpolitisches Programm aufgelegt, das ungefähr zweimal so groß ist wie das Europas, aber es ist ein reines Krisenpaket zur Abfederung der Auswirkungen der Coronakrise. Es hat tendenziell die Wirkung gehabt, die fossilen Sektoren nochmal zu stützen, als sie aufgrund des Verfalls des Ölpreises notleidend wurden. Aber in Europa hat man es geschafft, das Steuerruder zu halten mit Kurs auf den Green Deal. Es ist kein radikales Paket. Aber es ist trotzdem eine neuartige Politik. Man hat nicht aufgegeben, als in den ­Dezember-Verhandlungen im Europäischen Rat die Rechtsstaatsfragen mit Polen und Ungarn und die Budgetfragen auf Messers Schneide ausgehandelt wurden. Man hat weiter durchgearbeitet, bis auch das grüne Thema abgearbeitet war. Dass ein solches Paket geschnürt worden ist, das ist ein absolutes Novum in der Geschichte der EU. Und das ist wegweisend.


Adam Tooze hat den Lehrstuhl für Geschichte an der ­Columbia University (New York) inne und ist Direktor des European Institute. Seine wichtigsten Bücher befassen sich mit der Finanzkrise von 2008 und ihren Folgen, der Ökonomie des Naziregimes und der globalen Wirtschafts­geschichte 1916–31.

Jörg Haas ist Referent für Internationale Politik der Heinrich-Böll-Stiftung.

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