Nach Flugzeugentführung durch Lukaschenko-Regime: „Wir müssen rote Linien ziehen und sie konsequent verteidigen“

Interview

Eva van de Rakt, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel, sprach mit der grünen Europaabgeordneten Viola von Cramon über die vom Lukaschenko-Regime erzwungene Landung einer Ryanair-Maschine in Belarus und die Lehren, die die EU daraus ziehen muss.

Flugzeug auf dem internationalen Flughafen Minsk, Belarus
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Internationaler Flughafen in Minsk, Belarus

Eva van de Rakt: Viola, letzten Sonntag hat das Lukaschenko-Regime eine Ryanair-Maschine auf dem Weg von Athen nach Vilnius mit mehr als 100 Passagier*innen zu einer Notlandung gezwungen, um den regimekritischen Journalisten Roman Protasewitsch festzunehmen. Das ist ein unerhörter und schockierender Vorfall, der als Luftpiraterie und Staatsterrorismus bezeichnet werden muss. Was zeigt er uns aus deiner Sicht?  

Viola von Cramon: Lukaschenko ist jetzt seit fast 27 Jahren an der Macht und ist daran gewöhnt, straffrei handeln zu können. Er weiß sehr gut, wie er unsere Schwachstellen zu seinem eigenen Vorteil nutzen und die Glaubwürdigkeit der EU untergraben kann. Der jüngste Terroranschlag war ein weiterer Versuch, seinen „alten Trick“ zu wiederholen. Glücklicherweise scheint Europa jetzt geeinter denn je zu sein und bereit, Lukaschenkos Regime dafür zu bestrafen, dass es ein EU-Flugzeug entführt und das Leben von größtenteils EU-Bürger*innen gefährdet hat. Lukaschenko will uns zeigen, dass es keine roten Linien gibt bzw. deren Überschreitung weiterhin ungestraft bleibt. Wir müssen ihm nun unbedingt das Gegenteil beweisen und dafür sorgen, dass Lukaschenkos schwerwiegende Verbrechen entsprechende Strafen nach sich ziehen.

Während des EU-Sondergipfels, der am 24. und 25. Mai in Brüssel stattfand, beschloss der Europäische Rat Sanktionen und Maßnahmen gegen das belarussische Regime. Viele Beobachter*innen lobten die Schnelligkeit der abgestimmten EU-Antwort. Wie bewertest du die Reaktionen aus den EU-Mitgliedstaaten und die beschlossenen Maßnahmen? Werden sie Lukaschenko zum Einlenken zwingen?

Es ist gut, dass der Europäische Rat endlich begonnen hat, das Lukaschenko-Regime aktiv und hoffentlich auch wirkungsvoll zu sanktionieren. Bedauerlicherweise hat diese Entscheidung viel zu lange gedauert und in der Zwischenzeit hat das Regime weitere Opfer gefordert. Vitold Ashurak, einer der vielen politischen Gefangenen, ist kürzlich in einem belarussischen Gefängnis gestorben. Hätten wir früher und entschiedener gehandelt, hätte man sein Leben vielleicht retten können. Leider ist Vitold weder das erste noch wird er das letzte Opfer dieses unmenschlichen Regimes sein.

Seit Monaten hören wir von der vierten Runde der Sanktionen gegen belarussische Amtsträger. Es brauchte leider einen Akt des Staatsterrorismus, um endlich eine neue Sanktionsliste in Gang zu bringen. Jetzt kommt es darauf an, die Sanktionsmaßnahmen so zuzuschneiden, dass diese Lukaschenko und seinen Machtapparat spürbar treffen.

Was bedeuten die Sanktionen und Maßnahmen für die belarussische Bevölkerung, insbesondere die demokratische Opposition?

Hier stecken wir zweifellos in einem Dilemma: Gilt es doch Wege zu finden, wie man Lukaschenkos Regime spürbar treffen kann, ohne die Menschen in Belarus zu bestrafen und die Oppositionsbewegung noch größerem Druck auszusetzen. Die Belarussen leiden schon jetzt stark genug unter seinem brutalen Regime. Deshalb sind gezielte persönliche Sanktionen gegen Lukaschenkos Entourage ungeheuer wichtig. Sie nehmen, wenn sie richtig durchgeführt werden, diesen Personen und deren Familienmitgliedern die Möglichkeit, in die EU zu reisen, ihre Wohnungen und Häuser zu nutzen sowie auch ihren Kindern den Zugang zu Privatschulen in der EU. Leider wurden solche persönlichen Sanktionen bisher uneinheitlich angewandt. Es gibt Berichte über einige belarussische Funktionäre, denen es durch aktiven Lobbyismus in bestimmten EU-Hauptstädten gelang, die Sanktionen zu umgehen. Das muss unbedingt abgestellt werden. Darüber hinaus können die sektoralen Sanktionen gegen bestimmte Industriezweige, die Lukaschenkos Regime finanziell am Leben halten, ein effektiver Weg sein, den Machtapparat mit vergleichsweise geringen Auswirkungen für die gesamte Bevölkerung zu treffen. Die EU hat nun offenbar bereits die belarussische Kali-Industrie ins Visier genommen, die ein wichtiger Devisenbringer ist. Und Vorschläge für Sanktionen gegen weitere Wirtschaftszweige sollen angeblich in Kürze folgen.

Für Dissident*innen, die vor brutaler Staatsgewalt und Repressionen totalitärer Regime in die EU geflüchtet sind, ist es verheerend, wenn sie nicht mehr sicher sein können, dass sie auf einer Reise zwischen zwei EU-Hauptstädten unversehrt an ihrem Zielort ankommen. Welche Lehren muss die EU daraus ziehen?

Wir müssen Lukaschenko unmissverständlich klarmachen, dass es mit ihm, einem Despoten, der sich illegitim an der Macht hält, niemals „business as usual“ geben und man ihn niemals als Vertreter von Belarus anerkennen wird. Das Kapern eines Flugzeugs aus der EU, die Entführung von EU-Bürger*innen und die dadurch ermöglichte Verhaftung von Dissident*innen ist inakzeptabel, höchst kriminell und hat irreparablen Schaden angerichtet. Jetzt muss die EU ihren Luftraum vor weiteren kriminellen Akten dieser Art schützen und in der Konsequenz Belarus zu einer Flugverbotszone erklären. Das kann ein gewisses Gefühl der Sicherheit vermitteln. Darüber hinaus müssen wir die Unterstützung für Journalist*innen und unabhängige Medien, für die Demokratiebewegung und die Zivilgesellschaft in Belarus und gerade auch für die vielen engagierten Menschen, die ihren Kampf für Demokratie gezwungenermaßen aus dem Ausland, gerade auch hier in der EU fortsetzen, verstärken. Hierfür sollte die EU konkrete Unterstützungsprogramme auflegen.

Als Konsequenz muss die EU nicht nur ihren eigenen Bürger*innen, sondern auch politisch Verfolgten, die sich in der EU aufhalten, Schutz bieten. Sie muss mit allen Mitteln die Rechte von Schutzsuchenden verteidigen.

Roman Protasewitsch wurde offensichtlich zu einem Video-Geständnis gezwungen. Lukaschenko bezeichnet ihn als Terroristen, der mit seinen Helfern einen blutigen Anschlag geplant habe. Seine Eltern und Weggefährten gehen davon aus, dass er gefoltert wird. Welche Möglichkeiten siehst du, Roman Protasewitsch zu helfen, ihn zu schützen? Was kann und muss die EU in diesem Zusammenhang unternehmen?

Die Zahl der politischen Gefangenen in Belarus hat die Zahl 400 längst überschritten und leider sind unsere Mittel, ihnen zu helfen, begrenzt. In einer Diktatur, in der es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, ist jeder Prozess eine Farce mit vorbestimmtem Ausgang. Trotzdem müssen wir weiter inner- und außerhalb der belarussischen Gerichte kämpfen, um den politischen Gefangenen und ihren Familien moralisch, rechtlich und finanziell zu helfen.

Die staatliche Desinformationsmaschine läuft in Belarus auf Hochtouren. Lukaschenko behauptete, dass aus der Schweiz das Signal einer Bombendrohung vorlag, was die Schweiz umgehend dementierte. Du bist Mitglied im Sonderausschuss zu Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union, einschließlich Desinformation. Wie kann die EU Desinformationskampagnen von autoritären Regimen bekämpfen, die sich ihr gegenüber dreist und respektlos verhalten und dabei die Sicherheit ihrer Bürger*innen bedrohen?   

Lukaschenko hat jahrzehntelange Erfahrung im Bereich der Desinformation. In letzter Zeit sehen wir, dass seine Methoden nicht mehr so effektiv sind, wie sie es früher waren. Außerdem sind sie vorhersehbar und lächerlich geworden. Beispiele hierfür sind der sog. "Mike und Nick"-Dialog oder jetzt auch die Versuche, die Flugzeugentführung der Hamas in die Schuhe zu schieben. Allerdings hat der Kreml seit den gestohlenen Präsidentschaftswahlen seine eigenen Propagandisten nach Minsk geschickt, um Lukaschenko in den Stand zu versetzen, die modernen Desinformationstechniken auch in Belarus zu implementieren. Um solcher Desinformation zu begegnen, müssen wir unabhängige Journalist*innen und Nachrichtenportale sowie Aktivist*innen unterstützen, die faktenbasierte Informationen anbieten und vor allem online aktiv sind. Dass Roman Protasewitsch mit Hilfe eines terroristischen Akts verhaftet wurde, zeigt, wie sehr Lukaschenko Angst vor NEXTA und anderen unabhängigen Informationsquellen hat.

Das russische Außenministerium bezeichnete die Reaktion der EU als nahe der Hysterie. Wie beurteilst du die Rolle des Kremls?

Es ist nicht überraschend, dass Russland Lukaschenko und Belarus weiterhin als Druckmittel nutzt, um Zugeständnisse vom Westen zu erwirken. Es ist ebenfalls nicht überraschend, dass der Kreml durch seine Reaktion mal wieder offenbart, dass der Schutz von Meinungsfreiheit sowie andere universelle Grund- und Freiheitsrechte für ihn nicht die Basis politischen Handelns ist.

Wie kann die EU verhindern, dass sich ein derartiger Vorfall wiederholt?

Der beste Weg, solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden, ist mehr Resilienz der EU und eine durchgängig konsequente und konsistente Haltung. Derzeit hören wir nicht nur aus Brüssel, sondern auch aus anderen Hauptstädten unterschiedliche Botschaften. Das ermuntert Lukaschenko und seine kriminellen Banden, auf diesem Wege weiter zu gehen. Wenn wir irgendwann einmal rote Linien ziehen könnten und sie konsequent verteidigen, dann wird auch er verstehen, dass ein Überschreiten dieser roten Linien schwerwiegende Folgen haben wird.

Viola, wir danken dir für das Gespräch.