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Gesundes Essen – nicht für alle in Deutschland

Es gibt auch hierzulande Ernährungsarmut – und viele Ursachen dafür: zu wenig Geld, mangelnde Bildung und Strukturen, die bei der Lebens­mittel­produktion die falschen Anreize setzen.

Hunger und Ernährungsarmut verbinden wir spontan mit Ländern in Afrika oder Südostasien, aber erstmal nicht mit Deutschland. Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass es in einer Überflussgesellschaft wie der unsrigen genug Nahrung für alle gibt. Dabei haben auch hier immer mehr Menschen täglich zu wenig oder das Falsche auf ihren Tellern. Vielen fehlen Geld oder Wissen, um sich ausreichend und ausgewogen zu ernähren. Es gibt also eine materielle und eine soziale Ernährungsarmut - im Bewusstsein der Gesellschaft ist das bisher kaum angekommen.

Essen - vor allem gutes - gibt es in Deutschland nur für die, die wissen, wie eine ausgewogene Ernährung funktioniert und die sich nicht durch die Werbeindustrie in die Irre führen lassen. Ernährungsarmut, Fehlernährung und ernährungsbedingte Krankheiten hängen unmittelbar zusammen und ihre sozialen und gesundheitlichen Folgen sind dramatisch.

Laut der Global Burden of Disease Study aus dem Jahr 2019, die im Fachblatt «The Lancet» erschienen ist, starben in Deutschland im Jahr 2017 ca. 130.000 Menschen aufgrund von unausgewogener Ernährung, weltweit sind es elf Millionen. Zu viel zuckerhaltige Limos, rotes Fleisch und gleichzeitig zu wenig Vollkornprodukte, Obst und Gemüse machen nicht nur dick, sondern auch krank. Schlechte Ernährung ist die zweithäufigste Todesursache in Deutschland.

Für gute, ausgewogene Ernährung zu sorgen ist gerade im Alltag nicht leicht. Der Griff zu Fertigprodukten und Fastfood ist oft viel einfacher und schneller als die gesündere und bewusste Essenswahl. Egal, ob im Supermarkt oder am Bahnhof - überall springen uns Fertigpizzen, überzuckerte Snacks, fettige Burger und ge­zuckerte Getränke entgegen. Fast die Hälfte der von deutschen Haushalten gekauften Lebensmittel sind verarbeitete Produkte. Sie enthalten mehr Zucker, Salz, Fett und Zusatzstoffe, als wir denken und uns vor allem guttut.

Außerdem essen wir häufig in der Kita, in der Schule, bei der Arbeit oder unterwegs und sind vom dortigen Angebot abhängig, das sehr häufig nicht den Anforderungen an eine gesunde Ernährung entspricht. Neben dem Angebot fehlt es an Transparenz. Verbraucher*innen haben meist gar keine Ahnung, wie viel Zucker oder Fett in den von ihnen konsumierten, fertig verarbeiteten Lebensmitteln enthalten sind. Die angegebenen Portionen entsprechen nicht dem wahrscheinlichen Konsum oder der Zuckergehalt wird in der Zutatenliste durch unbekannte Ersatzstoffe verschleiert.

Welche Folgen unsere veränderten Ernährungs- und ­Lebensgewohnheiten auf die Gesundheit haben, zeigt auch die globale Zunahme von Übergewicht und Adipositas. Weltweit leiden laut der Internationalen Diabetes-Föderation (IDF) 463 ­Millionen Menschen an dieser Krankheit.

Die Mehrheit der deutschen Erwachsenen ist übergewichtig, fast jeder ­vierte sogar fettleibig. Und bereits 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen wiegen zu viel oder sind adipös. Damit verbunden ist ein erhöhtes Risiko an - zum Beispiel - Diabetes oder Herz-Kreislauf-Störungen zu erkranken. An Diabetes mellitus leiden in Deutschland bereits 7,2 Prozent der Erwachsenen, das sind 9,5 Millionen Menschen.

Ernährungsbedingte Krankheiten werden stark von sozioökonomischen Faktoren beeinflusst. So leiden Kinder und Erwachsene aus einkommensschwächeren Milieus häufiger unter chronischen Krankheiten und haben in der Regel eine geringere Lebenserwartung.

Neben dem Leid der Menschen sind die Kosten, die durch falsche Ernährung entstehen, für die Gesellschaft immens. Sie werden für Deutschland auf mehr als 70 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Allein die Behandlungen für Diabetes und die Folgeerkrankungen kosten rund 35 Milliarden Euro pro Jahr.

Die Arbeit von Hilfsorganisationen kann und darf nicht die Antwort sein

Was können wir dagegen tun? Ein Hebel ist, dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land genug Geld zur Verfügung haben, um sich ausreichend und gut zu ernähren. Zwar ist es begrüßenswert, dass Institutionen wie die Tafeln Bedürftige mit kostenlosem Essen versorgen. Doch Hilfsorganisationen können und dürfen nicht unsere Antwort auf die wachsende Ernährungsarmut in unserer Gesellschaft sein. Denn das Recht auf Nahrung, beziehungsweise eine angemessene Ernährung, muss der Staat gewährleisten. Es ist abstrakt als Menschenrecht völkerrechtlich verankert in Artikel 11 des UN-Sozialpaktes. Und ich bin froh, als Ministerin erreicht zu haben, dass die Mitgliedsstaaten der FAO die konkreten Leitlinien zum «Recht auf adäquate Nahrung» verabschiedet haben - ein zentraler Baustein, denn als erstes wird dort der ­Zugang zu Land, Wasser und Saatgut, aber auch eine gute Regierungstätigkeit genannt. Letzteres steht übrigens nicht nur in den Entwicklungs- und Schwellenländern in Frage, sondern auch bei uns.

«Make the healthy way the easy way», von ­dieser strukturellen Forderung sind wir meilenweit entfernt. Zu Recht verwies das Gutachten «Politik für eine nachhaltigere Ernährung» des wissenschaft­lichen Beirates der Bundesregierung von 2020 darauf, dass die bestehenden Rahmenbedingungen wenig hilfreich sind und dass die Verantwortung zu stark auf das Individuum verlagert werde. Viele verfüg­bare Unter­stützungsinstrumente würden nicht genutzt. Wir müssen die staatlichen Strukturen und Angebote, aber auch die Wirtschaft in die Pflicht nehmen. Kinder schützen, nicht Konzerne - das muss unsere ­Devise werden.

Laut des Gutachtens kann eine faire Ernährungsumgebung erreicht werden, wenn die Politik für eine nachhaltigere Ernährung «deutlich mehr und eingriffstiefere Instrumente wie beispielsweise Lenkungs­steuern heranzieht».

Für mich gehören zu «eingriffstiefen» Instrumenten, die sich an die Wirtschaft richten, vor allem:

  • Verbindliche Reduktionsziele für Zucker, Salz und Fett in Fertiglebensmitteln.
  • Eine europaweite Einführung eines wissen­schaft­­lich aktualisierten ­Nutriscore - damit es eine einheitliche - transparente Nähr­wert­kenn­­zeichnung auf dem EU-Binnenmarkt gibt.
  • Eine gesetzliche Beschränkung der Lebensmittel­werbung, die sich an Kinder richtet - damit in ­­Zu­kunft nur Produkte für Kinder beworben ­wer­den, die entsprechend der WHO ausgewogen sind.
  • Die Auseinandersetzung mit Steuern und Abgaben auf sogenannte ­Softdrinks und Snacks - damit sich der Zuckergehalt in diesen Produkten deutlich ­verringert.

Aktuell hat die Pandemie uns gelehrt, dass Ernährungsarmut nun auch von einer anderen Seite droht. Als wir plötzlich vor leeren Gemüse- und Obst­­re­galen standen, wurde klar, wie riskant es ist, sich bei der Ernährung auf globale Lieferketten statt auf regionale Strukturen zu verlassen. Während unser Selbstversorgungsgrad bei Schweinefleisch und Milch zwar sehr hoch ist, ist das bei Obst und Gemüse anders.

Die regionale Produktion von Lebensmitteln muss stärker ausgebaut werden

Obwohl Regionalität für deutsche Verbraucher*innen immer wichtiger wird, schlägt sich das beim Obst- und Gemüseanbau nicht nieder. So entspricht der Anbau von Gemüse nur etwa einem Drittel des Verbrauchs, beim Anbau von Obst ist es sogar nur ein Fünftel. Und die Flächen, die in Deutschland für den Anbau pflanzlicher Produkte genutzt werden, sind in den vergangenen Jahren kleiner geworden, ­während die genutzten Flächen für Exportwaren oder den ­Anbau von Energiepflanzen angewachsen sind. Gleichzeitig importieren wir immer mehr zum Teil exotische Lebensmittel aus allen Ländern der Welt. Das ist weder krisensicher noch nachhaltig.

Um Ernährungsarmut zu verhindern und die Versorgungssicherheit mit gesunden und frischen Lebensmitteln zu gewährleisten, müssen wir also auch ­unser Export- und Importverhalten neu ausrichten und den regionalen Anbau von Lebens­mitteln viel stärker ausbauen. Es geht um den Erhalt von Vielfalt bei der Ernährung und in der Landwirtschaft.

Fakt ist: Es gibt auch in Deutschland viele Ursachen für Ernährungsarmut – dazu gehören u.a. zu wenig Geld, mangelnde Ernährungsbildung, ein ungenügendes Lebensmittelangebot und eine Landwirtschaft, die bei der Lebensmittelproduktion die falschen Anreize setzt. Wir können aber von niemandem – insbesondere nicht von Kindern – erwarten, dass sie im Alltag zu Ernährungshelden werden gegen die Strukturen von Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Handel.

Ein gutes Ernährungsumfeld herzustellen ist Aufgabe der politisch Verantwortlichen und ist zentraler Bestandteil von Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik. Nicht weniger!


Renate Künast ist Sprecherin für Ernährungspolitik bei Bündnis 90/Die Grünen und ehemalige Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft.

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