„Frauen wie Du sind Inspiration für uns“

Rede

Der Anne-Klein-Frauenpreis geht 2022 mit Yosra Frawes an eine Kämpferin, die auf das Engste mit der jüngsten Geschichte Tunesiens verwoben ist.  Ihr Ziel sei es, ihr Land demokratischer, gerechter, vor allem auch frauen- und queergerechter zu machen - so Barbara Unmüßig, Juryvorsitzende und Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, in ihrer Rede.  

Preisträgerin des Anne-Klein-Frauenpreises 2022 - Yosra Frawes

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde Anne Kleins,

liebe Mitglieder der Jury,

liebe Barbara,

liebe Franziska,

liebe Yosra Frawes,

liebe tunesische Gäste aus nah und fern,

Ihnen und Euch allen ein herzliches Willkommen zur Preisverleihung des Anne Klein-Frauenpreises 2022 an Yosra Frawes.

Wir sind sehr glücklich, dass wir uns endlich wieder persönlicher treffen können.

Es ist wunderbar, dass Yosra Frawes mit ihrem Ehemann, dem tunesischen Journalisten Neji Khachnaoui, ihrer Tochter Yara, ihrem Kollegen Ramy Khouli, Programmdirektor bei der Vereinigung der Tunesischen Demokratischen Frauen, ihrer engen Mitarbeiterin und Vertrauten bei der Internationalen Menschenrechtsföderation, Khitem Bargaoui, und unserer Programmkoordinatorin im Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis, Mahassen Segni, heute hier ist. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mahassen!

Mit dabei sind auch Yosras Freundin, die bekannte Aktivistin und Vorkämpferin für die Frauenrechte in Tunesien Bochra Belhaj Hmida, und dein langjähriger Unterstützer und Freund der Stiftung Hatem Boukesri. Ich begrüße auch weitere Freunde und Familienmitglieder, die nicht nur aus Tunesien, sondern auch aus Kanada, Frankreich und Deutschland nach Berlin gekommen sind, um hier heute Abend dabei zu sein, um dich zu feiern. Wir wissen auch, dass viele deiner Freund/innen und Mitstreiter/innen diesen Abend im Livestream verfolgen, auch nach Tunesien ein herzliches Willkommen. Es ist wunderbar, welche breite Zustimmung und Freude die Preisvergabe an dich, liebe Yosra, bei euch in Tunesien ausgelöst hat. Dein Wunsch ist erfüllt, wir feiern gemeinsam hier in Berlin und in Tunis mit deiner Familie und deinen Mitstreiterinnen.

 

Liebe Yosra, du bist auf das Engste mit der jüngsten Geschichte Tunesiens verwoben und selbst sehr aktiv, Tunesien demokratischer, gerechter, vor allem auch frauen- und queergerechter zu machen.

Du bist unter der autoritären Herrschaft Ben Alis aufgewachsen, hast die repressiven und patriarchalen Strukturen der tunesischen Politik und Gesellschaft hautnah erlebt. Du bist schon als sehr junge Frau zu den Frauen der Vereinigung demokratischer tunesischer Frauen, der ATFD, dazu gestoßen. Sie waren dir Vorbild und gaben Wegorientierung. Es war kein Zufall, dass du Jura studiertest, denn du wolltest dein Wissen als Anwältin für die Rechte von benachteiligten Frauen einsetzen, von Frauen aus ärmeren Verhältnissen und jenseits der großen Städte, für Frauen, die ähnlich aufwuchsen wie du. Dein persönlicher Werdegang, die harte Arbeit, die durchgestandenen Kämpfe, das alles sind Garanten dafür, dass du alles daransetzen wirst, die Errungenschaften, die ihr erkämpft habt, in den aktuellen Umbrüchen in Tunesien zu erhalten oder sogar auszubauen.

Es ist ein großer Schritt gewesen, als die Menschen- und Frauenrechte durch die Verfassung von 2014 gestärkt wurden. Ja, es bestehen nach wie vor erhebliche Lücken zwischen Verfassungsanspruch und dessen Umsetzung. Das Zivil- und Strafrecht muss weiter reformiert werden. Die Auseinandersetzungen darüber finden im Kontext einer eher traditionalistischen Gesellschaftskultur und einer vornehmlich konservativen Justiz statt.

Liebe Yosra, du bist keine Frau für Kompromisse oder für halbe Sachen: Du redest immer vonvollumfänglich praktizierter Gleichheit zwischen Männern und Frauen“ und meinst damit, gleiche Rechte und Freiheiten als Alltagsrealität und nicht nur auf dem Papier. Eine solche Alltagsrealität ist für dich, das betonst du immer wieder, nicht nur eine wünschenswerte Option, sondern ein Ziel, das jede Gesellschaft anstreben muss.

Die Machtübernahme durch den Präsidenten Kais Saied seit dem 25. Juli 2021 hat zu einem vorläufigen Ende der Gewaltenteilung geführt. Das erschwert nochmals Schritte zur Umsetzung der in der Verfassung verankerten Rechte. So sind unter deiner Federführung als Exekutivdirektorin des Büros der internationalen Organisation Fédération Internationale pour les Droit Humains (FIDH) im Jahr 2020 Grundlagen für einen Gesetzesvorschlag für individuelle Freiheiten, für die Gleichstellung von Männern und Frauen im tunesischen Recht entstanden, die im Einklang mit der Verfassung von 2014 stehen. Dieser Vorschlag hatte im tunesischen Parlament bisher noch keine Chance, breit diskutiert zu werden. Nun ist er eingefroren.

Die Zivilgesellschaft und die verschiedenen politischen Parteien bewerten die Machtergreifung des Präsidenten Kais Saied sehr unterschiedlich. Das macht es sehr schwer, in breiter Front solidarisch gegen ein Abrutschen in autoritäre Verhältnisse zu kämpfen. Wir können nachvollziehen, dass ein Großteil der tunesischen Bevölkerung die Ereignisse des 25. Juli begrüßte, weil sie die Regierung für das katastrophale Management der Wirtschafts- und Gesundheitskrisen in der Verantwortung sah. Wir wissen, dass viele Menschen das Parlament und dessen Arbeit als demokratische Farce betrachten. Zu Recht fordern sie eine Kurskorrektur des korrumpierten demokratischen Systems und Wirtschaftsreformen, die längst überfällig sind. Die unterschiedliche Bewertung der Ereignisse des 25. Juli spaltet auch die Zivilgesellschaft, und wir können uns gut vorstellen, dass es schwer ist, im derzeitigen politischen Nebel Kurs zu halten.

Du, liebe Yosra, setzt dich in dieser Situation zentral dafür ein, strategische Allianzen zu schmieden, als Feministin und internationale Menschenrechtsverteidigerin. Du bemühst dich um einen Ausgleich und strategischen Dialog zwischen verschiedenen Lagern, ohne unerträgliche Kompromisse und ohne ein Aufweichen der Errungenschaften der demokratischen Verfassung von 2014 zuzulassen, und dafür, das freie NGO-Gesetz von 2011 zu verteidigen.

Das Gebot der Stunde für dich, liebe Yosra, und für deine Mitstreiterinnen ist es, bisher Errungenes zu verteidigen. Eine besonders hohe Priorität und Nulltoleranz bei Verstößen hat für dich der Schutz von Frauen vor jedweder Form von Gewalt, ob zu Hause, am Arbeitsplatz oder im Rahmen der Ausübung eines politischen Amtes.

Für mich, für uns hier in Deutschland, für die Heinrich-Böll-Stiftung und ihren Kampf weltweit um mehr Geschlechtergerechtigkeit ist es immer wieder gut zu wissen, dass es - ob nun in Indien, der Türkei oder Tunesien - kämpferische Streiterinnen wie dich gibt, die Allianzen für gesellschaftliche Mehrheiten, für Frauenrechte und Schutz vor Gewalt schmieden, aber auch keine Kompromisse mehr machen und sich von Bedrohungen, Beleidigungen und Einschüchterungen nicht abschrecken lassen. Frauen wie du sind Inspiration für uns und für all diejenigen, die in vielen Ländern unter widrigen Bedingungen standhaft bleiben und den Kampf für Frauenrechte und ein besseres Leben fortführen.

Die Mitglieder der Jury des Anne-Klein-Frauenpreises, die Heinrich-Böll-Stiftung und ich sind sehr stolz darauf, bei diesem Kampf an Deiner Seite stehen zu dürfen! Mit dem Anne-Klein-Frauenpreis würdigen wir, ganz im Sinne von Anne: deinen Mut, deine Entschlossenheit und Stärke, deine unermüdliche Kraft andere zu motivieren und mitzureißen. Die Mitglieder der Jury des Anne Klein-Frauenpreises freuen sich heute Abend mit dir, liebe Yosra. Wir fühlen uns mit dir und den tunesischen Frauen solidarisch verbunden. Wir erweisen dir heute Abend unsere Bewunderung und Ehre zugleich!

Danke!