Allesfresser und Habenichtse

Wie verteilen wir Verantwortung für unseren Planeten auf alle Schultern? Zwischen Nord und Süd? Innerhalb der Nationen? Eine kurze Geschichte der Umweltgerechtigkeit. 

Ein Foto macht Geschichte. Jenes Foto, aus dem Weltraum geschossen, zeigt die beleuchtete Erde, von Wolkenfeldern gesprenkelt und doch die Meere und die Kontinente klar sichtbar. Da ist sie, die eine Erde, unser aller Heimat. Das Bild vom blauen Planeten, mitgebracht von den Mondexpeditionen, löste die amerikanische und später dann weltweite Umweltbewegung aus. Der erste Earth Day im Jahr 1970 brachte 20 Millionen Amerikaner auf die Straßen, und im Jahr 1972 zierte das Bild symbolhaft sowohl den Weltbestseller «Limits to Growth» wie auch das Emblem der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm.

Aber das Foto verzerrt die Wahrnehmung. Das Planetenfoto kommt ohne Menschen, ohne Kulturen, ohne Gesellschaften aus. Es begann das Narrativ vieler Umweltberichte, wonach die Menschheit, also wir, der Erde gegenüberstehen. Aber wer ist «wir»? Kein Wunder, dass die Frage der Gerechtigkeit in den 70er Jahren keine Rolle spielt, weder die Kluft, die Süd- und Nordländer trennt, noch die Existenzrechte der Menschen, die direkt von der Natur leben. Höchstens noch die Ansätze einer Generationengerechtigkeit nach dem Motto «Wir haben die Erde von unseren Kindern geborgt» – im Rückblick von heute: eine monströse Pleite. Dagegen hallte die Rede von Indira Gandhi in Stockholm nach, wonach die Armut die größte Umweltverschmutzung sei. Spätestens dann platzte auch die Wunde in der Umweltpolitik und mit ihr die Frage nach der internationalen Gerechtigkeit. Norden gegen den Süden. Und es sollte so bleiben, bis zur Verkündung der Sustainable Development Goals im Jahre 2015, die für alle Nationen gelten; das Leitbild der nachholenden Entwicklung wurde sang- und klanglos beerdigt. Damals, beim «Erdgipfel» in Rio de Janeiro 1992, standen Umwelt und Entwicklung noch konträr zueinander, der Norden wollte Umweltschutz, der Süden aber wollte Entwicklung.

Böll.Thema Umweltpolitik: Allesfresser

Entschärft wurde der Gegensatz durch ein neues Prinzip im Umweltvölkerrecht, nämlich die common but differentiated responsibilities. Das sprichwörtliche Ei des Kolumbus! Es sagt, dass alle Staaten verantwortlich sind für die globale Umweltzerstörung, doch keineswegs auf gleicher Stufe. Demzufolge verpflichteten sich die Industrieländer, die ersten Schritte zu tun, etwa die Emissionen zu reduzieren und gleichzeitig die Finanzen aufzubringen, um die Verluste in den ärmeren Ländern auszugleichen. Das Tauziehen darüber zieht sich bis heute hin, besonders in den Konferenzen in der Folge der Klimarahmenkonvention. Einen ähnlichen, bis heute andauernden Streit gibt es auch bei den Verhandlungen zur Biodiversitätskonvention, der zufolge die Gewinne, die sich aus der Nutzung biogenetischer Ressourcen ergeben, gerecht zu verteilen sind, und zwar zwischen den Nationen wie auch innerhalb jeder Nation. Um weitläufige Schutzgebiete ausweisen zu können, ist der Süden, reich an Biodiversität, überdies auf die finanzielle Umverteilung des Nordens angewiesen, der seinerseits die Mannigfaltigkeit des Lebens schon weitgehend vernichtet hat.

Die Definition von sustainable development, von nachhaltiger Entwicklung, wie sie die Brundlandtkommission 1987 vorlegte, half damals auch nicht viel weiter. Sie betonte die Gerechtigkeit zwischen den Generationen, die Gerechtigkeit innerhalb einer Generation hingegen fiel unter den Tisch. Wessen und welche Bedürfnisse sollen befriedigt werden? Soll nachhaltige Entwicklung das Bedürfnis nach Wasser, Boden und wirtschaftlicher Sicherheit oder das Bedürfnis nach Flugreisen und Bankguthaben erfüllen? Geht es um Überlebensbedürfnisse oder Luxusbedürfnisse? Denn die wirtschaftliche Spaltung in der Welt setzt sich in der ökologischen fort. Mit dem Reichtum wächst der ökologische Fußabdruck und umgekehrt. 

Die wohlhabende Hälfte der Weltbevölkerung verursacht 88 Prozent der Treibhausgasemissionen

So verursachte die wohlhabende Hälfte der Weltbevölkerung, also die Ober- und Mittelklassen aus Nordamerika, Europa, Asien und dem Mittleren Osten, im Jahr 2019 sage und schreibe 88 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen, während die andere Hälfte, also die Habenichtse, nur 12 Prozent der Emissionen verantwortete. Welch ein gigantischer Unterschied! Allein die Konsum- und Investitionstätigkeit der reichen 10 Prozent macht knapp die Hälfte der globalen Emissionen aus, während für die übrigen 90 Prozent der Weltbevölkerung noch die andere Hälfte übrigbleibt. Ohnehin hat die Nord-Süd-Trennung zwischen Staaten überlebt, spätestens mit dem Aufstieg der Schwellenländer wurde diese Spaltung auch innerhalb jeder Nation offenkundig.

Unter der diplomatischen Ebene erschallte in der Zivilgesellschaft der Ruf nach Umweltgerechtigkeit schon seit Ende der 70er Jahre. So protestierten nicht-weiße Gemeinden in den USA gegen Diskriminierung durch höhere Umweltbelastung, in Nordindien umarmten Frauen zuhauf Bäume im Zuge der Chipko-Bewegung, um diese vor kommerzieller Abholzung zu schützen. Tiefpunkte waren später die Morde an Chico Mendes 1988 im Amazonasgebiet durch Großgrundbesitzer und an Ken Saro-Wiwa in Nigeria im Widerstand gegen den Ölkonzern Shell im Jahr 1995. Umweltschützer, vor allem im globalen Süden, leben bis heute gefährlich: 228 Morde im Jahre 2020, besonders in Südamerika.

Darüber hinaus haben zahlreiche Bewegungen Umweltgerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben. Man nehme nur La Via Campesina (Gründung 1992), verbreitet in 80 Ländern unter Kleinbauern, Landarbeitern und Fischern, die Ernährungssouveränität und Agrarökologie fordern. Oder die Tierrechtsbewegung seit den 80er Jahren, wonach Tiere Rechte haben und die Massentierhaltung deshalb abzulehnen sei. Schließlich die Bewegung zur Klimagerechtigkeit: Ihr Slogan «System Change not Climate Change» (2007, Klimakonferenz auf Bali) hat ein Licht auf die systemischen Ursachen der weltweiten Ungleichheit geworfen, die mit dem Klimawandel einhergeht – und damit auf die Industriemoderne, egal, ob kapitalistische oder sozialistische Systeme. Fridays for Future, Ende Gelände und Extinction Rebellion sind die Erben dieser Bewegung. Zuvor hatte sich der Weltkirchenrat in den 90ern für Umweltgerechtigkeit eingesetzt, mit der Enzyklika Laudato sí zog die katholische Kirche 2015 nach. Neuerdings kommt noch die Initiative Just Transition dazu, angestoßen von den Gewerkschaften, die sich für Arbeitsplätze im Zuge der Umstrukturierung zu einer nachhaltigen Wirtschaft starkmacht.

Ein Drittel der Weltbevölkerung lebt vom direkten Zugang zur Natur

Umweltgerechtigkeit hat nicht zuletzt eine rechtliche Bedeutung. Mit seiner Geburt erwirbt jeder Mensch ein fundamentales Gastrecht auf der Erde. Das ist der Kern der Menschenrechte. Ein Drittel der Weltbevölkerung lebt vom direkten Zugang zur Natur. Es bezieht Nahrung, Kleidung, Behausung, Medizin und auch Kultur unmittelbar aus den lokalen Naturräumen. Weil Savannen, Wald, Wasser, Ackerboden und auch Fische, Vögel oder Rinder für diese Gruppen unerlässliche Mittel zum Lebensunterhalt darstellen, hängen ihre Existenzrechte am Gedeihen dieser Ökosysteme. Deshalb haben Dürren und Hurrikane aufgrund der Erdüberhitzung eine menschenrechtliche Dimension, ebenso die Ausbeutung von Ressourcen zugunsten der Wohlhabenden in den Städten – wie Entwaldung und Überfischung sowie die 17 000 Bergwerke und 50 000 Staudämme (über 15 m) weltweit. Immer wieder geraten die Natur-Lebensräume der Armen ins Visier der internationalen Ressourcenwirtschaft.

Dank der transnationalen Vernetzung der indigenen Völker ist es gelungen, jene Erklärung der Vereinten Nationen 2007 zu ertrotzen, die ihnen Gerechtigkeit hinsichtlich ihrer Territorien zusagt. Zudem schufen die Vereinten Nationen 2012 die Rolle eines Sonderberichterstatters für Menschenrechte und Umwelt, was auch zum Erfolg führte: Ende 2021 wurde das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt offiziell anerkannt. Gewiss, Papier ist geduldig, aber dennoch können Verfehlungen gegen Klima und Biodiversität nun juristisch verfolgt werden. So hat ein holländisches Gericht den Ölgiganten Shell im vergangenen Jahr dazu verurteilt, nigerianischen Bauern Wiedergutmachung zu zahlen, die Haus und Hof durch Rohrleitungslecks verloren hatten. Und die aufsehenerregende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, wonach die Bundesregierung die Freiheitsrechte der nachfolgenden Generationen nicht genügend berücksichtigt hätte, gehört ebenso in diese Linie der Rechtsklagen, die gerade weltweit auflaufen.

Um auf das Bild vom blauen Planeten zurückzukommen: Seine Symbolkraft wird sich nur dann erfüllen, wenn die Menschen auf dem Erdball von völkerrechtlichen Regeln zusammengehalten werden. Mit dem russischen Invasionskrieg gegen die Ukraine steht zu befürchten, dass die Weltordnung künftig nicht mehr durch ein multilaterales Regelwerk beherrscht wird, sei es noch so asymmetrisch, sondern durch einige Machtzentren, die vor Gewalt nicht zurückschrecken. Es würde das Recht der Stärkeren gelten und nicht die Stärkung des Rechts. Das lässt Böses für die Einheit der Menschheit ahnen, deren Symbol doch eigentlich das Foto vom blauen Planeten war.

Böll.Thema Umweltpolitik: Habenichtse


Dr.  Wolfgang Sachs ist freier Autor und war Hochschullehrer und Forschungsleiter am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie.

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