«Werden wir der Natur dieses Mal gerecht.»

Im Juni 2022 trifft sich die Welt zum Jahrestag der ersten UN-Konferenz in Stockholm. Jetzt muss sie die Probleme nicht nur benennen, sondern auch den Weg in die Zukunft weisen. Ein Aufruf. 

Anil Agarwal, Gründungsdirektor des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt (CSE) in Indien, war bei der ersten UN-Konferenz 1972 in Stockholm dabei und erzählte oft, dass die Seen der Gastgeberstadt so stark mit Industrieabwässern verschmutzt waren, dass man einen Kamerafilm darin entwickeln konnte. Diese Seen sind heute wieder kristallklar. Man könnte also durchaus argumentieren, dass sich in den letzten 50 Jahren viel getan hat. Aber nicht wirklich. Zwar haben die Länder erreicht, dass ihre Umwelt auf der lokalen Ebene sauberer geworden ist. Indessen haben sie jedoch immer mehr Emissionen in die Erdatmosphäre entlassen. 50 Jahre später geraten die Auswirkungen des Klimawandels außer Kontrolle.

Im Vorfeld von Stockholm+50 haben wir es mit einer zunehmend ungleichen Welt zu tun, in der sich Armut und Ausgrenzung verschärfen und die Risiken des Klimawandels nicht mehr nur die Armen, sondern auch die Lebenswelt der Reichen betreffen. Wenn die Welt den Jahrestag von Stockholm+50 begeht, muss sie das Problem nicht nur benennen, sondern auch den Weg in die Zukunft weisen.

Sie muss zum Beispiel über Konsum und Produktion sprechen. Diesem Aspekt, diesem unangenehmsten aller Gespräche, können wir nicht mehr länger ausweichen. Der globale ökologische Rahmen ist ein Flickenteppich aus zahlreichen Abkommen – über Ozon, Klima und biologische Vielfalt bis hin zu Wüstenbildung und gefährlichen Abfällen. Beim Zusammenflicken dieses Rahmens wurde klar, dass sich das Handeln eines Landes über Grenzen hinweg auch auf andere auswirkt. Die Welt muss also auf globaler Ebene handeln, kooperativ vorgehen, weil wir voneinander abhängig sind.

Aber zu dieser Zeit haben wir auch die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet. Dass die ökologischen Regelwerke und die WTO einander entgegenwirken, haben wir nie richtig verstanden. Das von uns entwickelte Wirtschaftsmodell basiert auf einem Ausverkauf von Arbeit und Umwelt. Wir haben die Produktion dorthin verlegt, wo die Kosten dafür niedriger sind – und damit Überproduktion befeuert, da die Fertigung billiger ist und die Güter zu Wegwerfware geworden sind. Wir haben ferner dafür gesorgt, dass nun alle Länder an dieses Wachstumsmodell gebunden sind. Alle Länder wollen an dieser möglichst billigen globalen Fertigung teilhaben. Dabei leiden Umweltschutz und Arbeitsbedingungen. Die Armen der Welt streben danach, wohlhabender zu werden. Das bedeutet wiederum noch mehr Güter, Konsum und Abfall.

Heute hat COVID-19 diese unkontrollierte Praxis der Billig- und Massenproduktion und des ungezügelten Konsums zwar unterbrochen, aber das war nur ein vorübergehender Effekt. Wenn sich die Welt wieder erholt, haben wir die Wahl, es besser zu machen, zumal uns COVID-19 Lehren erteilt hat, die wir nicht vergessen dürfen.

Erstens haben wir den Wert von Wanderarbeitskräften erkannt, die bislang unsichtbar waren und heute für die Industrie wesentlich geworden sind. Diese Arbeitskraft ist nach Hause zurückgekehrt – nicht nur in Indien, sondern überall auf der Welt. Wir haben gesehen, wie sich das auf die Produktion auswirkte. Die Industrie ist bereits sehr bemüht, ihre Arbeitskräfte zurückzuholen, und bietet bessere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Das wird die Produktionskosten erhöhen.

Zweitens verstehen wir heute den Wert von reiner Luft und gesunden Lungen – wir alle haben gespürt, wie der Lockdown die Umweltverschmutzung vermindert hat, und wissen es nun zu schätzen. Auch diese Investitionen in die Umwelt werden die Produktionskosten erhöhen.

Drittens verstehen wir den Wert von Investitionen in Land-Agrar-Wasser-Systeme. Die Menschen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt und bauen sich ihre Existenzgrundlage wieder auf. Es ist an der Zeit, dort zukunftsfähige, nachhaltige, naturfreundliche und gesundheitsfördernde Lebensmittelproduktionssysteme aufzubauen.

Viertens: Wir befinden uns jetzt in der Welt des Homeoffice. Wenn sich wieder eine neue Normalität einpendelt, werden wir hybride Systeme haben wollen, um mobil arbeiten zu können, mit weniger Wegezeiten, aber dennoch mit Interaktionen und Kollaborationen, die unsere Welt bereichern. Dies wird auch das Konsumverhalten verändern.

Und fünftens können sich Regierungen aufgrund ihrer angespannten Finanzlage und steigenden Ausgaben keine Verschwendung mehr leisten. Also werden sie in die Kreislaufwirtschaft investieren wollen – sie werden Wege finden müssen, um Abfälle zu verwerten und mit weniger mehr zu erreichen.

All dies hat das Potenzial, unser Konsumverhalten und unsere Fertigungspraktiken grundlegend zu verändern. Wenn sich die Welt trifft, um den 50. Jahrestag unseres Dialogs über den Menschen und die Folgen seine Handelns für die Umwelt zu begehen, bietet sich die Gelegenheit, unserer Natur dieses Mal gerecht zu werden. Dieses Mal haben wir es mit der existenziellen Krise des Klimawandels zu tun, die uns allen deutlich vor Augen steht. Wir dürfen keine Zeit mehr mit Reden verschwenden. Das ist keine Option mehr.


Dr.  Sunita Narain ist Publizistin und Umweltschützerin. Sie ist Leiterin des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt (CSE) in Indien und Herausgeberin der Zeitschrift Down To Earth.

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