Indien: Säkularismus in Gefahr

Analyse

Der besorgniserregende Anstieg von Fanatismus und Mehrheitspolitik hat zu religiösen Unruhen und Polarisierung im Land geführt. Eine Analyse der aktuellen Entwicklungen.

Indien: Tempel in Mumbai

Indien wird auf globaler Ebene als aufstrebende Wirtschaft gesehen und strebt selber nach der Rolle des Vishwaguru (einer führenden Position in der Gemeinschaft der Nationen). Mit seiner riesigen Marktwirtschaft und seinem dynamischen Arbeitsmarkt möchte das Land ein beliebtes Ziel für Handel und Investitionen sein. Was auf internationaler Ebene jedoch noch nicht ausreichend Beachtung erfährt, ist, dass sich die Religionsfreiheit in Indien zunehmend verschlechtert, auch wenn in ein paar wenigen internationalen Medien auf diesen Abstieg hingewiesen wird. Die Religionsfreiheit ist ein international anerkanntes Recht und von entscheidender Bedeutung für eine liberale Demokratie, die eine Weltmacht sein will. Dennoch untergraben Fanatismus und Mehrheitspolitik die Religionsfreiheit und die demokratischen Institutionen in Indien.

Die Grundidee des Hindu Rashtra (eines Hindu-Staates)

Indien ist laut Gesetz eine säkulare Demokratie, deren Verfassung ihren Bürger*innen die Grundrechte, einschließlich der Religionsfreiheit, garantiert. Der Säkularismus ist der Grundstein der indischen Verfassung und sieht die Gleichstellung aller Bürger*innen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit vor. Vom Staat wird erwartet, dass er grundsätzlich Distanz zu allen Religionen wahrt. De facto manifestiert sich jedoch im öffentlichen Raum und in der Politik ein unmissverständlicher Zuspruch zur hinduistischen Identität. Es besteht ein krasser Unterschied zwischen dem ideologischen Rahmen der Entscheidungsträger*innen und den in der Verfassung verankerten Grundsätzen.

Die Hindutva-Ideologie, von der sich die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) leiten lässt, befürwortet die Vorherrschaft der Hindus und sieht die Errichtung eines „Hindu-Staates" (einer „Hindu Rashtra“) vor. Vinayak Damodar Savarkar, ein Verfechter der Hindutva-Bewegung, beschreibt in seinem Werk „Hindutva: Who is a Hindu?" einen Hindu als jemanden, der Indien als das Land seiner Vorfahren (pitrbhumi) und als sein heiliges Land (punya bhumi) betrachtet. Demnach sind Anhänger von Religionen, die ihren Ursprung in Indien haben, Hindus, während die Anhänger des Christentums und des Islam als „Fremde” betrachtet werden. Ferner erläutert er, dass Nicht-Hindus in der Idee eines Hindu Rashtra nicht alle Rechte haben werden, die Hindus zugeschrieben sind, sondern dass sie den Hindus untergeordnet sein werden.

Das Hindu Rashtra ist also ein exklusives Gebilde, in dem die Staatsbürgerschaft auf der Grundlage der Religion bestimmt wird. Das von der BJP-Regierung durchgesetzte Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA) ist in seinem Grundsatz diskriminierend, was angesichts der zugrundeliegenden Ideologie der derzeitigen Regierung nicht überrascht. So wurde auch die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS – eine radikal hindunationalistische Kaderorganisation mit Massenbewegungscharakter; Anmerkung der Redaktion) die ideologische Mutter der BJP, gegründet, um den Traum vom Hindu Rashtra (eines Hindu-Staates) zu verwirklichen.

Ein Ökosystem der Gewalt

Minderheiten waren in Indien schon vor der Machtübernahme durch die BJP im Jahr 2014 Gewalt ausgesetzt. Größere religiöse Unruhen gab es 1969 in Gujarat, 1979 in Jamshedpur, 1983 in Nellie, 1989 in Bhagalpur, 1993 in Bombay, 2002 in Gujarat, 2008 in Kandhamal und 2013 in Muzzafarnagar in Uttar Pradesh. Das Centre for Study of Society and Secularism (Zentrum für Gesellschafts- und Säkularismusstudien, CSSS) beobachtet religiöse und ethnische Konflikte und organisiert mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung Diversity-Trainings, öffentliche Vorträge und Seminare, um ein Bewusstsein für die besondere kulturelle Vielschichtigkeit Indiens zu schaffen.

Das CSSS hat eine Reihe von detaillierten Gutachten über die größten Konflikte in Indien veröffentlicht. Die religiösen Unruhen der vergangenen Jahrzehnte richteten sich nicht nur gegen Muslime, sondern auch gegen Christen und Sikhs, wie 2008 in Kandhamal und 1984 in Delhi. Damals verschleierten jedoch Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus die Situation. Dieser Schleier ist nun völlig verschwunden. Die gegenwärtige Regierung aktiviert ein wachsendes Ökosystem der Gewalt und Straflosigkeit, gegen das die Machthaber weder etwas unternehmen noch es verurteilen. Sorgfältig wurde ein Rechtsrahmen ausgearbeitet, der Diskriminierung und Ungleichheit institutionalisiert und die existierenden Unterschiede in der Gesellschaft unterstreicht. Die Struktur dieses Ökosystems beruht auf Hassreden, einer Rechtsarchitektur und religiös motivierter Gewalt, die sich in Form von Unruhen und Lynchmorden manifestiert.

Hassreden und Volksverhetzung

Seitdem die BJP im Jahr 2014 an die Macht kam und Narendra Modi zum Premierminister gewählt wurde, hat die Anzahl von Hassreden, die entlang religiöser Grenzen polarisieren sollen, augenscheinlich zugenommen. Minderheiten werden mit „Ungeziefer” verglichen, was an Nazi-Darstellungen von Juden vor dem Völkermord in Deutschland erinnert Beispielsweise bezeichnete der Innenminister, Amit Shah, Muslime als „Termiten” als er sagte: „Eindringlinge sind wie Termiten im Boden Bengalens. Die Regierung der Bharatiya Janata Party wird die Eindringlinge einen nach dem anderen aufsammeln und sie in den Golf von Bengalen werfen." Mit dieser Aussage bezog er sich auf Bengalisch sprechende Muslime in Assam, die als illegale Einwanderer aus dem benachbarten, mehrheitlich muslimischen Bangladesch stigmatisiert werden.

Gewählte Abgeordnete, darunter auch Minister*innen, die geschworen haben, die Grundsätze der Verfassung zu wahren, nehmen Muslime und Christen ins Visier, indem sie Stereotype über sie verbreiten und Gewalt gegen sie legitimieren. So stellt der Bericht „Hate Grips the Nation" der Nichtregierungsorganisation ANHAD fest, dass es zwischen 2014 und 2022 in Indien 878 Fälle von Hassreden und Volksverhetzung gegeben hat. Davon machten Hassreden 54 Prozent aus, und Volksverhetzung 46 Prozent. Aus dem Bericht geht hervor, dass Hassreden und Volksverhetzung in Indien in erster Linie gegen Muslime (73,3 Prozent) und Christen (26,7 Prozent) gerichtet waren.

Eine weitere Datenuntersuchung des Nachrichtensenders NDTV ergab, dass Hassreden unter der Modi-Regierung zwischen 2014 und 2018 um 500 Prozent zugenommen haben, verglichen mit der vorangegangenen Legislaturperiode der Kongresspartei zwischen 2009 und 2014. Diese Recherche bestätigt auch die besorgniserregende Tendenz, dass Hassreden nur in wenigen Fällen angezeigt werden und wenn überhaupt, sie juristisch nur selten Fortschritte erzielen. Im Gegenteil: Gewählte Abgeordnete, die Hassreden halten, werden eher befördert und auch nicht selten zu Minister*innen ernannt.

Aufruf zum Völkermord

Die Hassreden spitzen sich immer weiter zu. Sie sind so tief in das Bewusstsein der Mehrheit eingedrungen, dass sich extremistische Gruppen und religiöse Führer ermutigt fühlen, offen zum Völkermord an Muslimen in Indien aufzurufen. Ein religiöser Führer, Yati Narsinghanad, rief Hindus in einer Versammlung dazu auf, sich gegen Muslime zu bewaffnen und gegen sie in den Krieg zu ziehen, um zu verhindern, dass 2029 ein Muslim zum Premierminister gewählt werden könnte. In ähnlicher Weise rief Sadhavi Annapurna, eine weitere religiöse Hindu-Führerin, öffentlich zum Mord an Muslimen auf: „Wenn du ihre Bevölkerung eliminieren willst, dann töte sie. Seid bereit zu töten und dafür ins Gefängnis zu gehen. Selbst wenn sich 100 von uns bereit erklären, 20 lakh [2 Millionen] [Muslime] zu töten, werden wir siegen und ins Gefängnis gehen“.

Es sei daran erinnert, dass die UN-Völkermordkonvention in Artikel III die „unmittelbare und öffentliche Anstiftung zur Begehung von Völkermord" als strafbare Handlung aufführt. Die indische Regierung ließ diese hetzerischen religiösen Führer jedoch nur zögerlich verhaften, nachdem sich Bürger*innen in Protest gegen die Hassprediger an den Obersten Gerichtshof gewandt hatten. Als sie aber auf Kaution wieder freigelassen wurden, gaben dieselben Leute nur noch mehr Hasspredigten von sich.

Volksverhetzung

Die Hassreden haben sich auf lokaler Ebene in Volksverhetzung gegen Muslime und Christen übertragen. Beispielsweise wurden Muslimische Verkäufer*innen in der Nähe von Hindu-Tempeln im südindischen Bundesstaat Karnataka angegriffen und ihre Karren verwüstet; die Forderung lautete, dass es muslimischen Verkäufer*innen untersagt werden solle, Geschäfte in der Nähe des Tempels zu machen. Laut einem Bericht der People's Union for Civil Liberties (PUCL), gibt es auch im Bundesstaat Karnataka vermehrt Angriffe auf christliche Pastoren und Störungen während der Gottesdienste. In dem Bericht werden 38 Fälle solcher Angriffe auf christliche Gottesdienste in Karnataka zwischen Januar und November 2021 aufgeführt. Die unaufhörlichen Lynchmorde, insbesondere an Muslimen, die vom Mob dafür angeprangert werden, dass sie Vieh transportieren oder schlachten, haben ein ungeheuerliches Ausmaß angenommen.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen institutionalisieren Diskriminierung

In der Politik lässt sich ein deutlicher Rechtsruck beobachten, der lokalen Fanatismus und religiöse Intoleranz stärkt. Der Staat erlässt Gesetze, die die Religionsfreiheit regulieren und einschränken sollen. Diese Gesetze legen mitunter fest, was gegessen, wer wen heiraten und was angezogen werden darf. Ironischerweise verabschieden die Bundesstaaten diese Gesetze im Namen der „Religionsfreiheit“. Wer zu einer anderen Religion übertreten oder eine Person einer anderen Religionszugehörigkeit heiraten möchte, muss jetzt vorher eine Genehmigung der Bezirksbehörden einholen.

Es soll einerseits Menschen die Konversion vom Hinduismus zum Islam oder zum Christentum erschweren, und andererseits konvertierte Muslime und Christen verunglimpfen. Dies ergänzt die bestehenden Gesetze gegen das Schlachten von Kühen, die zur Kriminalisierung von Muslimen und zur Rechtfertigung von Angriffen auf sie eingesetzt werden. Der Staat benutzt die existierenden Gesetze auch, um Dissens zu unterdrücken und kritische Stimmen mundtot zu machen. So werden immer öfter Akademiker*innen, Studierende, Autor*innen und Journalist*innen wegen Volksverhetzung angeklagt und drakonische Gesetze gegen sie angewandt.

Religiöse Unruhen und der Wandel staatlicher Institutionen

Die religiösen Unruhen machen deutlich, wie sehr sich der Staat und seine Institutionen verändert haben. Religiös motivierte Ausschreitungen werden mittlerweile von Hindu-Nationalist*innen ohne große Mühen angestachelt, indem sie Hindu-Kundgebungen in muslimischen Wohnvierteln organisieren und abfällige Slogans gegen muslimische Frauen verlautbaren. Wenn sich Muslime daraufhin gegen diese Demütigung wehren, indem sie mit Steinen werfen, lässt der Staat ihre Häuser willkürlich und ohne rechtmäßiges Verfahren abreißen. Hindu-Feste werden als Gelegenheit genutzt, um ihre Vorherrschaft zu manifestieren, indem sie aggressive Kundgebungen veranstalten und die muslimische Gemeinschaft demütigen. Mittlerweile gibt es eine hohe Toleranz für kleinere Konflikte, die sich gegen religiöse Minderheiten richten und die Bevölkerung entlang religiöser Linien polarisieren.

Die kulturelle Vielschichtigkeit Indiens

Ist dies das Ende der Demokratie? Die Antwort ist ganz klar: Nein. Indien verfügt über ein reiches kulturelles Erbe an Mischkulturen und synkretistischen Traditionen, die sich auf wunderbare Weise zu einer lebendigen Gesellschaft entwickelt haben und als solche tief verwurzelt ist.

Diese Zunahme von Gewalt und die Aushöhlung der demokratischen Institutionen und des verfassungsmäßigen Werterahmens mögen eine vorübergehende Abweichung sein, aber kein dauerhaftes Phänomen. Die indische Demokratie hat die Kraft, sich selbst wiederherzustellen. Es bedarf jedoch Hilfe und Solidarität, um die gelebte Realität in Indien in den öffentlichen Diskurs einzubringen, Bewusstsein und Aufklärung zu schaffen und sich international für die Sache der Religions- und Glaubensfreiheit einzusetzen.

Deutschland ist ein wertvoller Partner für Indien und verfügt über einen reichen Schatz an Weisheit und Erfahrung, wie Extremismus und Hass in der Gesellschaft überwunden werden kann. Das deutsche Beispiel ist eine Inspiration für die Ablehnung tief verwurzelter Gewalt und die Stärkung des demokratischen Ethos und der Institutionen. Ein Austausch würde für Indien in dieser bedeutsamen Zeit eine Bereicherung sein. Es wäre von entscheidender Bedeutung, dass Deutschland seine bilateralen Beziehungen zu Indien, in denen Handel und Wirtschaft eine große Rolle spielen, fortsetzt und dabei auch die Verstöße gegen die Religionsfreiheit in Indien zur Kenntnis nimmt, die die demokratischen Institutionen in Indien schwächen.