"Wir müssen uns auf unsere Gemeinsamkeiten konzentrieren und sie nutzen"

Interview

Hilda Flavia Nakabuye ist eine Aktivistin für Klima-, Geschlechter- und Umweltrechte, Rednerin, Autorin und Gründerin von Fridays For Future - Uganda. In diesem Interview erklärt sie, dass Klimagerechtigkeit zwangsläufig soziale Gerechtigkeit bedeutet.

Aquarell-Portrait von Hilda Flavia Nakabuye

Dieses Interview ist Teil unserer Serie zum Earth Overshoot Day 2022.

Der Overshoot Day ist der Tag, an dem wir als Weltgemeinschaft mehr Ressourcen verbraucht haben, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann. Dass dieser Tag jedes Jahr auf ein früheres Datum im Kalenderjahr fällt, verdeutlicht die Beschleunigung und Konvergenz mehrerer Krisen, insbesondere der Klima- und Biodiversitätskrise. Dieses Jahr fällt der Tag auf den xx (Juli 2022, das genaue Datum wird im Juni bekannt gegeben). Bitte nennen Sie uns 1-2 Themen/Prozesse/Initiativen, die Sie derzeit in Ihrem beruflichen Kontext unterstützen und für absolut entscheidend halten, um uns auf nachhaltigere Wachstumspfade zu lenken.

Eines der Themen ist Klima- und Geschlechtergerechtigkeit mit dem Teilbereich fossile Brennstoffe. Während die Welt versucht, von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umzusteigen, finanzieren multinationale Konzerne die Erschließung neuer Öl- und Gasquellen, selbst nach der Veröffentlichung des IPCC-Berichts, in dem klar dargelegt wird, dass wir uns in den Untergang treiben, wenn wir die globalen Emissionen nicht reduzieren und unter einer Erwärmung von 1,5°C bleiben.

Ich konzentriere mich auf die ostafrikanische Rohölpipeline (EACOP), die mit einer Länge von 1.445 km die längste beheizte Rohölpipeline der Welt sein wird. Betrieben wird sie vom französischen Unternehmen Total Energies. Sie fördert über 34 Millionen Tonnen Kohlenstoff und verläuft direkt durch mein Dorf. Schlimmer noch führt ein Drittel dieser Pipeline durch das Becken des Viktoriasees, Afrikas größtem Süßgewässer und der Lebensgrundlage für über 40 Millionen Menschen.

Außerdem leite ich eine Säuberungsaktion auf dem Viktoriasee, fördere Klimabewusstsein und -erziehung an Schulen und Universitäten, veranstalte zu Anlässen wie Geburtstagen Baumpflanzungen und arbeite an Projekten wie Young Ugandan Voices for COP26, die junge Frauen zur Teilnahme an Klimaverhandlungen befähigen. Dieses Projekt ist eines von vielen, die unsere Bemühungen um eine Begrenzung der globalen Emissionen fördern ‒ und somit unsere Überlebenschancen.

Wenn Länder wie meines im globalen Süden bei 1,2°C unter unsäglichen Umweltproblemen leiden, wie wäre es dann mit einem Anstieg um 0,3°C? Ich glaube, es gibt nachhaltigere Wege, unseren Energiesektor auszubauen, zum Beispiel Investitionen in erneuerbare Energien wie Solarenergie, denn auf einen Kontinent wie Afrika scheint das ganze Jahr über kostenlos die Sonne. Wir müssen die globalen Emissionen reduzieren und das beginnt damit, dass wir alle Quellen von Treibhausgasen ausschalten, d. h. wir müssen fossile Brennstoffe im Boden belassen.

Welche Rolle spielen Gerechtigkeit, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter bei diesen Prozessen/Initiativen? Welche Rolle sollten sie spielen?

Wir wollen Klimagerechtigkeit erreichen, doch das geht nur, wenn wir die sozialen Herausforderungen angehen, weil diese beiden Aspekte miteinander zusammenhängen. Das beginnt mit dem Abbau von Systemen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung, denn das System, das die Klimakrise verursacht hat, kann uns nicht auch wieder aus ihr herausführen.  Klimagerechtigkeit ist soziale Gerechtigkeit. Und soziale Gerechtigkeit bedeutet unter anderem Gleichheit, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter.

Außerdem können wir keine Klimagerechtigkeit erreichen, solange die Hälfte der Bevölkerung im Abseits steht. Diese Herausforderung betrifft jeden von uns. Wir müssen sie gemeinsam bewältigen.

Heutzutage kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, was nachhaltiges Handeln ist oder was der Erhaltung des Lebens auf der Erde schadet. Wir scheinen kein Wissensproblem, sondern eher ein Handlungsproblem zu haben. Wenn Sie 1-3 wichtige Reformen durchführen könnten, um in Ihrem Einflussbereich mehr für die Nachhaltigkeit zu tun: Worauf würden Sie sich konzentrieren und welche Allianzen wären wichtig, um sie zu erreichen?

Das Thema Klimawandel tangiert uns alle, so sehr, dass es manche*n Entscheidungsträger*in inzwischen sogar langweilt. Es ist bekannt, was zu tun ist, um uns vor der Klimakatastrophe zu bewahren. Was fehlt, ist der politische Wille, es umzusetzen. Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen werden immer wieder gefragt, was getan werden muss, um den Klimawandel zu bekämpfen, als ob wir es nicht wüssten. Und selbst wenn es ihnen gesagt wird, drehen Entscheidungsträger*innen weiterhin die Däumchen und bleiben auf ihren Stühlen sitzen, anstatt aufzustehen und die dringend erforderlichen konkreten Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb glaube ich an und konzentriere mich auf die Menschen, die breite Masse. Ich glaube, dass die Macht des Volkes stärker und größer ist als die der Machthabenden.

Ohne individuelle Resilienz ist es schwierig, sich wirksam und nachhaltig für größere globale Resilienz einzusetzen. Viele Befürworter*innen von Nachhaltigkeit stellen ihren Einsatz für das Gemeinwohl über ihr eigenes Wohlergehen. Darunter ist eine unverhältnismäßig große Zahl von Frauen, die sowohl in ihrem Privat- als auch in ihrem Berufsleben immer noch die Hauptlast der Care-Arbeit tragen. Was hilft Ihnen, sich geistig und körperlich fit zu halten und wie tanken Sie Kraft?

Diese Frage bereitet mir manchmal Kopfzerbrechen, denn ich habe darauf selbst noch keine konkrete Antwort gefunden. Aber ich gönne mir gerne Zeit, um mich zu erholen, sei es durch Gespräche mit Freund*innen aus der Klimabewegung, Zeit mit der Familie oder Lesen.

Wenn Sie heute Erstklässler*innen erklären müssten, warum es wichtig ist, sich angesichts all der enormen Herausforderungen weiterhin für eine ökologische, soziale und geschlechtergerechte Transformation einzusetzen ‒ was würden Sie sagen und welche Fähigkeiten müssten diese Kinder Ihrer Ansicht nach dafür entwickeln?

Ich würde sie zuerst fragen: „Willst du glücklich mit Mama und Papa leben?“ Natürlich würden sie das bejahen und ich würde sie fragen, ob sie bereit wären, das Leben ihrer Eltern zu retten, wenn diese angegriffen würden? Ich würde ihnen sagen, dass wir vor der größten Herausforderung der Menschheit stehen, die unsere gesamte Spezies auszulöschen droht, doch dass wir diese Herausforderung lösen können, wenn wir jetzt sofort handeln, aufstehen, unsere Stimme erheben und zusammenarbeiten.

Erzählen Sie uns von einem Buch oder einer Idee, die Sie in letzter Zeit inspiriert hat.

Mich inspiriert der Gedanke, nicht nur eine Seite der Geschichte zu erzählen, denn so entgehen uns die vielen anderen schönen Geschichten, die ungehört bleiben.

Zweitens, die Idee, unsere Gemeinsamkeiten zu betonen, anstatt dessen, was uns trennt. Im Kolonialismus stand im Vordergrund, was uns voneinander unterscheidet, und das hat eindeutig nicht funktioniert. Wir müssen uns auf unsere Gemeinsamkeiten konzentrieren und sie nutzen. Wir brauchen Liebe, um die Welt zu heilen.


Dieses Interview wurde leicht gekürzt und erschien zuerst hier: us.boell.org