Dimitri im Süden von Damaskus

Essay

Zäsur inmitten des Syrienkrieges: Qosay Amameh erinnert an die Deportation der verbliebenen Oppositionellen aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk im Mai 2018.

Antike Statue mit fliegenden Tomaten auf schwarzem Hintergrund

Es ist fünf Uhr morgens. Der Muezzinruf hallt aus Damaskus bis in den südlich gelegenen Vorort Yarmouk herein, wo er kristallklar zu hören ist. Aber noch schlafen die Bewohner*innen des Palästinenserlagers Yarmouk, das heute ein Wohnviertel ist, auch wenn man es hier einfach das Lager nennt, auch heute noch. Wenn der Hunger sie in die Knie gezwungen hat, können die Menschen endlich schlafen. Es ist der 195. Tag seit Beginn der kompletten Belagerung des Viertels. Kein Essen, kein Trinkwasser kommen hier mehr an. Ein Kriegshubschrauber lässt eine Fassbombe fallen. Mitten ins Lager. Jetzt. Die Stille zerreißt.

Schrilles, durchdringendes Pfeifen. Tickende Uhr. Staubwolken und Schmerz in beiden Füßen, Mohammed ist am Leben. Er will sich Platz verschaffen, den Körper bewegen. Sicherzustellen, dass er nicht getroffen wurde, kommt ihm nicht in den Sinn. Was ihn interessiert ist viel grundsätzlicher: nämlich, ob er noch am Leben ist. Ein monströser Gesteinsbrocken liegt drückend und schwer auf seiner Hüfte, verhindert die kleinste Bewegung. Er versucht es, aber es geht kein Millimeter, und irgendwann dämmert er weg.

Jetzt greifen Hände nach ihm. Sie ziehen ihn heraus, zerren seinen dürren Körper ans Licht. Die gesamte Nachbarschaft hat sich um das Gebäude versammelt, in dem die Fassbombe eingeschlagen hat. Mohammed war in der Küche gewesen, als er plötzlich zu Boden geschleudert worden ist. Wael hatte derweil im Wohnzimmer gesessen und Shisha geraucht. Als nächstes schleppen die Nachbarn Mohammed weg und legen ihn an den Straßenrand. Nun bleibt nichts weiter zu tun, als auf die Sanitäter zu warten, die sicher jeden Moment eintreffen.

Die komplette Belagerung über wohnen Mohammed und Wael zusammen. Keine dreißig Jahre alt, stecken ihrer Köpfe voller revolutionärer Ideen. Sie hassen Waffengewalt, lieben Gott und seine Gesandten, schwärmen für Frauen, verabscheuen alles Niederträchtige und genießen den miserablen Shishatabak, den sie in der geborgten Wasserpfeife glimmen lassen, für den sie ihr ganzes Geld ausgeben. Sie beziehen ihn über die Schmuggelkanäle, über die man im Lager für astronomische Summen noch an alle möglichen Kostbarkeiten gelangt. Bloß nicht an Brot, welches sich hier partout nicht mehr auftreiben lässt.

Eine Stunde nachdem die Fassbombe eingeschlagen ist bringt das Staatsfernsehen eine Eilmeldung: „Fassabwurf aus Versehen. Aufgrund eines technischen Defekts am Propeller sah sich der grundehrliche Hubschrauberpilot gezwungen, sofort Last abzuwerfen, um den zu befürchtenden Absturz des Fluggeräts zu verhindern.“ Ende der Meldung. Die Opfer werden mit keiner Silbe erwähnt. 

Im Lager verbreitet sich über die Kanäle der sozialen Medien derweil folgende Schlagzeile:

„Kriminell und heimtückisch: Fassbombe über dem Lager abgeworfen.“

Wenn die Hungernden hier in Yarmouk oder den anderen südlichen Vororten von Damaskus Nachrichtenmeldungen verfassen, sind diese niemals frei von Polemik. Solche Nachrichten sind von einer Rhetorik gefärbt, die die politische Sicht des Schreibenden freigiebig preisgibt. Wie die meisten Menschen in Syrien gehen sie fest davon aus, dass die Todesnachrichten, die sie veröffentlichen und übermitteln, die Welt umso mehr aufrütteln werden, je eindrucksvoller sie geschrieben sind. Es wird Jahre dauern, bis die Verfasser der Nachrichten begreifen, dass niemand auf der Welt dem Sterben hier irgendeinen Wert beimisst.

Noch immer wird auf die Rettungsärzte gewartet, als Mohammed aufsteht und sich den Staub vom Körper klopft. Es muss ein Wunder sein. Er kann auf den Beinen stehen, nachdem das Haus mit ihm darin ein Fass voller TNT abbekam. Sämtliche Nachbarn, Rettungskräfte, humanitäre Hilfsarbeiter, Medienaktivisten, alle staunen. Sagen Koranverse und Gebete auf, ein paar Demo-Sprechchöre auch - schon ist das Wunder vergessen.

Gebrochen und halbnackt steht Mohammed, der gefeierte Sieger, dort und blickt sich suchend um: Er vermisst Wael. Aber Wael ist unter den Trümmern. Die darauffolgende Suchaktion zieht sich in die Länge. Mohammed hatte sich in der Nähe des Lichtschachts aufgehalten als es passierte, was bei ihm die Sache erleichtert hat. Aber Wael hatte im Wohnzimmer gesessen, auf ihn sind die Trümmer von drei Etagen gefallen.

Wenige Monate vor der Fassbombe war Wael der Protestsänger des südlichen Umlands von Damaskus gewesen. Getragen von vielen Schultern, feuerte er die Demonstrant*innen mit Sprechchören an. Sprechchöre gegen die Diktatur und den Diktator, gegen das Regime und die arabischen Staaten, gegen die Vereinten Nationen, den Sicherheitsrat, die Staaten des südlichen Pazifiks und des nördlichen Baltikums, gegen die USA, gegen Israel, gegen die Golfstaaten, und gegen die restliche Welt. Sie skandierten und skandierten, bis sie in alle Richtungen davonrannten, auf der Flucht vor Polizei und Staatssicherheit. Nachts haben sie Parolen von Würde und Freiheit auf Hauswände gesprüht, nicht selten waren es aber auch Beleidigungen gegen den Diktator, seine Mutter, seine gesamte weibliche Verwandtschaft, gegen seinen Vater sowieso, und seinen Großvater, kurzum: gegen den gesamten Familienstammbaum.

Fünfzehn Stunden sind vergangen seit die Fassbombe einschlug. Diejenigen, die Wael noch immer suchen, geben die Hoffnung jetzt auf. Dass er überhaupt noch am Leben ist, liegt nicht mehr im Bereich des Wahrscheinlichen. Sie erklären ihn für tot und ziehen ab. Mohammed wirft sich bäuchlings auf den Boden, dorthin, wo die Rettungskräfte einen Tunnel zu graben begonnen hatten, um zu Wael, der Person oder dem Leichnam, zu gelangen. Mohammed nimmt seinerseits die Trümmerarbeit auf. Er ist jetzt ein Maulwurf. So einer, der Zementbrocken, Erdreich und Möbelreste aus dem Weg hievt. Sonst blieb ihm nichts weiter, als zum Maulwurf zu werden, damit er tief unter der Erde nach Waels Leichnam wühlen kann. Ihn lebend zu finden, damit rechnet auch er nicht mehr. Zehn Stunden noch verbringt er damit, einen immer länger werdenden Verbindungsgang zu graben, um mit aller Kraft zu Wael zu gelangen. Bis er ihn schließlich findet. Später wird er sagen: „Ganz zusammengekrümmt lag er da, wie ein Embryo.“ 

„Was für ein einsamer, trauriger Tod“, werden die anderen sagen. Und er wird darauf sagen: „Er hatte solche Angst, als er starb.“

In Yarmouk werden alle Leichen auf demselben Friedhof begraben. Etwas abseits ist er gelegen, außerhalb des Sichtfelds der Scharfschützen und des Zugriffs von Mörsergranaten und Boden-Boden-Raketen. Für neue Gräber aber reicht der Platz nicht mehr. Längst ist es üblich, ein Grab erneut zu öffnen, um einen frischen Leichnam auf einen alten zu legen. Wael wird begraben, Mohammed weint. Wael wird begraben, Mohammed geht. Wael wird begraben, Mohammed betet.

Enthusiastisch verkündet der Radionachrichtensprecher:

„Sämtliche Konfliktparteien im Yarmouk-Lager haben miteinander ein Abkommen getroffen, welches die Evakuierung der Bewaffneten und ihrer Familien nach Idlib im Norden Syriens vorsieht. Diejenigen, die es vorziehen, zu bleiben, sollen ihre Situation regularisieren können. Im Gegenzug übernimmt die Syrische Arabische Armee die Kontrolle über das gesamte palästinensische Flüchtlingslager Yarmouk, wo terroristische Gruppierungen seit Jahren ihr Unwesen getrieben haben.“

Beteiligt an der angeblichen Übereinkunft waren die IS-Miliz, das syrische Regime, die Reste der Nusra-Front und einzelne revolutionäre Fraktionen, die sich allerdings längst nicht mehr um die Revolution scheren, noch um die humanitäre Lage. Das Abkommen wurde unter der Aufsicht russischer Offiziere vermittelt. Alle setzten ihre Unterschrift darunter, bloß die Palästinenser*innen nicht. Sie wissen bereits, dass diejenigen, die „ihre Situation nicht regularisieren lassen wollen“, mit Bussen vom südlichen Damaszener Umland nach Nordsyrien gebracht werden, unentgeltlich, unter dem Schutz russischer Militäreinheiten.

Die Hälfte der Frauen bricht in Jubel aus, die andere in Tränen. Bei den Männern das gleiche: sie fluchen oder strahlen. Und die Kinder spielen zum letzten Mal auf den Straßen von Yarmouk oder dem, was die Kampfbomber davon übriggelassen haben. In ein paar Stunden werden sich die Konvois in Bewegung setzen. Wer den Mördern nicht vertrauen will, muss wohl oder übel mitfahren.

Was Mohammed betrifft, so steht sein Entschluss fest. Er versucht es sich zumindest einzureden, dass die Entscheidung, Yarmouk und Damaskus gegen Idlib einzutauschen, ein Ausdruck seines freien Willens sei. Ein rein persönlicher Entschluss, nicht durch Nötigung forciert. Kein Zwang zur Flucht, um hier dem sicheren Tod zu entrinnen, um nicht durch Folter, Hinrichtung oder an gebrochenem Herzen zu sterben. Er blickt sich in dem Zimmer um, wo er provisorisch untergekommen ist. Es befindet sich in einem Gebäude, das bei jeder einschlagenden Granate wankt. Er fragt sich, was in aller Welt er mitnehmen soll. Es gibt nichts. Keine Erinnerungsfotos, keine Notizbücher, keine Klamotten. Nicht einmal Zimmertüren oder Fensterrahmen, die es wert wären, dass man sie abmontiert. Was soll er nur mitnehmen, wenn es in den Norden geht?

Auf dem Sammelplatz stehen sich die gegnerischen Kämpfer zum ersten Mal gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Jeder mit seiner Waffe in der Hand. Nur ein paar Schritte trennen ihn vom anderen, der noch wenige Wochen zuvor versucht hat, ihn zu töten. Nun gilt Waffenruhe, die russischen Soldaten, die die Zwangsevakuierung fachmännisch abwickeln, haben sie verordnet.

Manch einem hier sind die russischen Soldaten sympathischer als die syrischen Landsleute auf der Gegnerseite. Ein Russe lotst Mohammed freundlich lächelnd zum Bus, in den er einsteigen soll, den Frauen hilft er beim Tragen von deren Habseligkeiten. Er ist auch dafür zuständig, die Höchstmenge an Munition zu kontrollieren, die jeder Kämpfer nach Idlib mitnehmen darf. Beim Zählen ist er großzügig, lässt mitunter viel mehr Munition durchgehen als erlaubt. „Passt schon, passt schon“, kommentiert er scherzhaft auf Arabisch.

Auf dem Sammelplatz beschließt ein Grüppchen von etwa sieben palästinensischen Kämpfern, dass jeder Soldat ab sofort Dimitri heißt. Einfach, weil es der einzige russische Name ist, den sie kennen. Nach seinem richtigen Namen fragen sie ihn gar nicht erst, weil er ja sowieso Dimitri heißt. Unter Palästinenser*innen besteht das als Marotte, sie suchen einen Namen aus und damit reden sie einen dann eben an, ob dieser Name einem gefällt oder nicht. Meistens fällt die Wahl dabei auf einen albernen Spottnamen, aber bei Dimitri ist es bloß ein Name.

„Kommst du auch mit uns mit, Dimitri?“, fragen sie ihn.
„Ich begleite euch in einem Militärfahrzeug bis nach Aleppo."
„Prima! Hast du denn was zu trinken dabei? Von dem nicht gottgefälligen Zeug?“
„Wodka, Whisky und Bier.“

Zu dem Mann, der im Bus direkt neben ihm sitzt, sagt Mohammed: „Also in Idlib, da ist die Revolution zuhause. Dort herrscht wahre Freiheit, anders als in diesem Stasi-Nest hier. Dort können wir fortführen, was wir hier angefangen haben.“

Entnervt entgegnet ihm der Mann:

„Sag mal, geht’s noch? Bist du im Jahr 2011 hängengeblieben? Komm mal runter, wir sind besiegt. Merkst du nicht, was los ist?“

Mohammed bricht das Gespräch ab. Er beschließt, dass der Mann neben ihm offenbar ein Feigling ist, wendet seinen Blick zum Fenster und schaut nach draußen.

Neben dem Bus kriegen sich ein Mann und seine Frau in die Haare, über ein altes Heizgerät, das der Mann partout nicht mitschleppen will. Die Frau beschimpft ihn als verantwortungslosen Taugenichts, sie nennt er eine primitive Krämerseele. Worauf sie ihm ein „armes Würstchen“ mitgibt, was er prompt mit „dumme Kuh“ quittiert. Andere Frauen sehen sich veranlasst, beschwichtigend in den Ehestreit einzugreifen, was die zwei nicht davon abhält, einander mit Möbeln zu bewerfen. Irgendwann gibt die Frau auf und steigt in den Bus.

Der Fahrer ruft:

„Frauen nach hinten, Männer nach vorne! Hier geht es nicht kunterbunt durcheinander. Die Fahrt ist lang, wir müssen miteinander auskommen.“

Einige der Ex-Kombattanten stimmen Kampfgesänge an. Sie gehören zu den letzten Überresten der Oppositionskämpfer. Sie sind dem Tod nicht etwa deswegen entronnen, weil jäh ein Wunder geschah, sondern weil die eigentlichen Gefechte vor über anderthalb Jahren schon vorbei gewesen sind. Seitdem ist ein Teil dieser Kämpfer zu einer Art Lokalpolizei für den Süden von Damaskus mutiert, die nichts weiter zu tun hat als Passanten zu nerven. Deren Führung lässt sich bereitwillig auf Geheimdeals mit Hinz und Kunz ein, eingefädelt von Mittelsmännern, Profiteuren und sonstigen hohen Tieren. Klar kommt man da nicht mehr zum Kämpfen, das versteht sich von selbst.

Sie grölen Spottlieder gegen den Diktator, um dessen Soldaten zu provozieren. Diese stehen in unmittelbarer Nähe und können doch nichts dagegen tun. Es ist ein Wettstreit in Sachen Furchtlosigkeit, den die Oppositionskämpfer kurz vor ihrer Abschiebung gewinnen, als die Regimesoldaten den Blick abwenden und in die Ferne schauen.

Wenn man nah genug an den vorbeifahrenden Bussen steht, welche die Straßen füllen, hört man immer wieder deutlich ein Wort, das aus vielen Mündern schießt. Die Rede ist von Sieg. Alles redet vom großen Sieg, den dieser Tag bedeutet. Alle sehen sich als Sieger. Die Kämpfer der übrigen oppositionellen Bataillone, genauso wie diejenigen, die für die Armee des Diktators kämpfen, an der Seite irakische und libanesischer Söldner – alle sind sie davon überzeugt, jetzt gesiegt zu haben. Die IS-Milizen, die sich unter die Zivilisten gemischt haben, sind der Ansicht, sie haben mit Gottes Willen gesiegt, und den Palästinensern unter den Kämpfern ist es völlig klar, dass sie auf der Siegerseite stehen.

Die Türen schließen sich, die Busse fahren ab und es geht in den Norden. Begleitet von russischen Militärfahrzeugen und solchen des syrischen Regimes. An der Autobahnausfahrt nach Yalda geht es weiter nach Damaskus, mitten durchs Zentrum, vorbei an den großen Plätzen, bis zur Autobahn nach Aleppo. Andächtig blicken die Passagiere aus den Fenstern. Zum ersten Mal seit sieben Jahren sieht Mohammed Damaskus. Die Firdaus-Straße, das al-Basha-Restaurant, den Salam-Kreisel. Für die, die bis eben noch belagert waren, ist der Anblick befremdlich. Damaskus hat sich gar nicht verändert. Etwas maroder vielleicht, sonst wie gehabt. Auf den Straßen wimmelt es noch immer von Menschen, die geschäftig durch die Straßen hasten, getrieben vom Alltag, auch wie vor sieben Jahren. Menschen, die shoppen, lachen, scherzen, Speck ansetzen. Eine einzige Straße bildet die Trennlinie zwischen Hunger und Sattsein. Ein Asphaltstreifen, über den gutgenährte Herrschaften flaniert sind, in den vergangenen sieben Jahren, während auf der anderen Seite wir gewesen sind, kaum einen Steinwurf entfernt, die vor Hunger krepierten. Und bei ihnen? Riesenportraits des Diktators, so weit das Auge sieht. Auf etlichen Autos prangt sein Konterfei. Sprüche, die ihn lobpreisen, hängen an jeder Geschäftsvitrine, überziehen ganze Häuserfassaden. Unbeschreiblich sei der Diktator, über jede Kritik erhaben, sogar über das Land. Was ist eigentlich los mit dir, Damaskus?

Die Strecke bis zur Autobahn legt der Bus in gemächlichem Tempo zurück, als wolle er den Abgeschobenen noch Gelegenheit lassen, Damaskus Lebewohl zu sagen. Aber jetzt prasseln Tomaten, Eier und Steine ein auf die Busse, geworfen von Kinderscharen, von Männern und Frauen, die Transparente hochhalten, auf die das Gesicht des Diktators gedruckt ist. Aufregung macht sich breit, die Vorhänge der Busfenster werden zugezogen. Das Gemüse-Bombardement geht weiter, die Hassparolen dringen noch deutlicher in den Bus.

Schon zwei Stunden sind es, die der Bus mitten im Nirgendwo steht, irgendwo im Umland von Aleppo: dort, wo die Einflusssphäre der russischen Truppen endet und die der türkischen beginnt. Mehr als 24 Stunden sind vergangen, seit die Busse in Yarmouk losgefahren sind. Der Mann, der sich mit seiner Frau wegen des Heizgeräts zankte, steht an der Tür des Busses und verlangt lautstark die Scheidung. Sie reagiert mit Freudenträllern, bevor ein Schwall Flüche aus ihr herausbricht, den er ihr mit noch derberen Schimpftiraden heimzahlt.

Die Lage ist verzwickt: Die türkischen Militärs und die mit ihnen verbündeten syrischen Kampfeinheiten weigern sich, den Bus durch die von ihnen kontrollierten Gebiete nach Idlib weiterfahren zu lassen, während die Russen und die mit ihnen verbündeten Einheiten der regulären syrischen Armee nicht erlauben wollen, dass der Bus durch ihre Zone zurückfährt. Die Vertriebenen im Inneren des Busses sind ihrerseits gespalten zwischen denjenigen, die jetzt am liebsten zurück nach Damaskus wollen, und denen, die weiter in Richtung Nordwesten wollen. Dimitri weiß selber nicht, welche Position er einnehmen soll. Die Soldaten der syrischen Regimetruppen plagen derweil Langeweile und die Angst vor den Waffen der abgeschobenen Restaufständischen, mit denen diese jetzt, wo sie weit weg von Damaskus sind, demonstrativ herumwedeln.

Je näher sie Idlib kommen, desto euphorischer fühlt sich Mohammed. Plötzlich sei ihm, so sagt er, als wäre die Revolution ganz nahe. Sein Sitznachbar verspottet ihn erneut. Ob er sich vielleicht mal draußen umgesehen hätte, ein einziger Blick dürfte wohl reichen, die bittere Wahrheit zu sehen. Mohammed geht nicht darauf ein. Er schwört sich zum zweiten Mal heute, kein einziges Wort mehr mit seinem kaputten Nebenmann zu wechseln. Doch schon kurz darauf wirft er den Vorsatz wieder über den Haufen, weil ihm langweilig ist.

Die Aktivist*innen unter den Passagieren des Busses haben indes einen geradezu bahnbrechenden Einfall: sie könnten die zivilisierte Welt und die Weltgemeinschaft doch einfach dazu bewegen, Druck auszuüben und die Weiterfahrt der Busse zu erzwingen. Einige zücken ihre Smartphones und fordern mittels Videobotschaften und Facebook-Posts, man möge sie doch statt nach Idlib besser nach Palästina bringen. Schließlich seien sie Palästinenser*innen, da wäre es doch nur recht und billig, wenn sie in ihrer Heimat Aufnahme fänden. Sie lächeln einander verschwörerisch zu aufgrund des verwegenen Einfalls, der die internationale Gemeinschaft unter Zugzwang setzen würde. Diese würde vor Schreck über ein solches Ultimatum bestimmt zusammenzucken und spornstreichs freie Fahrt nach Idlib gewähren. Kaum haben sie den Gedanken zu Ende gedacht, schalten sie ihre Smartphones aus, schließlich müssen die Akkus geschont werden. Einigen fällt jetzt auch wieder ein, dass sie eine ähnliche Forderung bereits gestellt hatten. Damals, als es in Yarmouk nichts zu essen mehr gab. Und kein Hahn hat nach ihnen gekräht.

In der Zwischenzeit hat das Team Geschiedene zwei weitere Damen als Mitglieder gewonnen. Mitten in der Pampa, wo nichts als Hoffnungslosigkeit bleibt, können Konflikte zwischen Eheleuten schon mal eskalieren. Die Männer können ihre Frauen keine Sekunde länger ertragen und die Frauen halten die Ohnmacht ihrer Männer nicht aus. Einige schlagen vor, in der Wüste ein Zeltlager aufzubauen, der Rest ist dagegen. Andere schlagen einen Kurswechsel Richtung Nordosten vor, wo die kurdischen Kräfte das Sagen haben, auch das stößt beim Rest der Gruppe auf Ablehnung. Diejenigen, die weiterhin am liebsten nach Damaskus wollen, werden vom Rest für verrückt erklärt.

Am Abend des dritten Tages verkündet Dimitri, dass es eine Einigung gegeben habe: „Ihr fahrt nach Idlib. Ohne Umweg über Aleppo.“

Am Abend des vierten Tages erreicht der Bus das Flüchtlingslager Deir Ballut im Umland von Idlib. Wieder ein Lager, aber dieses hat seinen Namen verdient. Hier stehen echte Zelte, keine Wohnhäuser mit vier oder fünf Etagen wie in Yarmouk, und die Straßen sind aus Lehm und Sand. Tag und Nacht wird das Lager von türkischen und syrischen Soldaten bewacht. Die Lage ist elendig.

Die Passagiere steigen aus. Zuerst rennen die Kinder los, um die tagelang angestaute Energie rauszulassen. Die Frauen eilen zu den Toiletten, und die Männer machen sich daran, das Zeltlager zu erkunden. Die abgeschobenen Kämpfer wirken nun verunsichert, wo sie die Kämpfer sehen, die schon hier sind und die unterschiedlichen Gruppierungen angehören. Vielleicht gehörten sie früher dem Feindeslager an, womöglich haben sie gegeneinander gekämpft im Süden von Damaskus, aus Gründen, die ihnen entfallen sind.

Die IS-Angehörigen, die mit im Bus saßen, machen sich rasch aus dem Staub. So wie diejenigen, die ein bisschen Geld besitzen. Die, die in den Dörfern und Städten der näheren Umgebung Verwandte haben. Und die, denen die Vorstellung, in Zelten zu leben ein solcher Graus ist, dass sie lieber woandershin aufbrechen und dort ihr Glück versuchen. Und diejenigen, die von Anfang an geplant haben, in die Türkei zu gehen.

Mohammed bleibt. Er bezieht ein Zelt im Lager und hisst darüber die Fahne der Revolution. Unter den Bewohnerinnen des Lagers, in dem Palästinenser*innen und Syrer*innen leben, beginnt er, sich nach einer potentiellen Ehepartnerin umzusehen. Er richtet sich einen Internetzugang ein, leider ist er extrem langsam. Ansonsten verbringt er viel Zeit mit dem Warten auf türkische Hilfslieferungen von humanitären Organisationen. Weil das der Weg ist, auf dem Wasser, Lebensmittel und ein paar Medikamente nach Deir Ballut gelangen. An heißen Sommertagen schwimmt er im Afrin-Fluss oder ruht sich an dessen Ufern im Schatten der Bäume aus. Bald gewöhnt er sich das Rauchen an. Lässt das Beten sein. Bei den Kämpfen, die jetzt zu führen sind, geht es um die kleinen Dinge. Um eine bessere Versorgung der Lagerbewohner*innen mit Hilfsgütern zum Beispiel. Und bei den Demonstrationen, die er zusammen mit den Kindern des Lagers organisiert, ruft er kräftig mit, immer dann, wenn mal wieder kein Trinkwasser da ist, weil die humanitären Organisationen sich als unfähig erweisen. Er nennt sie: „Söldner, die sich am Leid der Bevölkerung bereichern“.

Es heißt, Mohammed habe geheiratet und vier Kinder in die Welt gesetzt. Dadurch stehe ihm nun eine größere Hilfsgüter-Ration zu als die, die er als lediger Mann erhalten habe. Man sagt außerdem, er habe über seinem Zelt jetzt die türkische Fahne gehisst. Über WhatsApp ist er noch immer mit Dimitri in Kontakt, nach dessen Befinden er sich täglich erkundigt.


Übersetzung aus dem Arabischen: Rafael Sanchez und Sandra Hetzl. Rafael Sanchez hat 2002 einen Magister in Romanistik/Arabistik gemacht und 2016 einen Master in Fachübersetzen Arabisch/Deutsch/Englisch. Er war mehrere Jahre in arabischen Ländern unterwegs, mit beruflichen Aufenthalten in Jordanien, Jemen und Marokko. Seit 2008 arbeitet er als freier Übersetzer für diverse Online- und Printmedien (Qantara.de, Fikrun wa Fann, taz, Tagesspiegel), das Goethe-Institut sowie das Internationale Literaturfestival Berlin.

Kuration: Sandra Hetzl (*1980 in München) übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Kadhem Khanjar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina .


Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie „Blick zurück nach vorn“. Anlässlich der zehn Jahren Revolution in Nordafrika und Westasien schildern die Autor*innen dabei aus verschiedensten Kontexten, was sie hoffen, wovon sie träumen, was sie sich fragen und woran sie zweifeln. In ihren literarischen Essays wird deutlich, wie wichtig die persönlichen Auseinandersetzungen sind, um politische Alternativen zu entwickeln, und was jenseits der großen Ziele erreicht wurde.

Mit dem anhaltenden Kampf gegen autoritäre Regime, für Menschenwürde und politische Reformen beschäftigen wir uns darüber hinaus in multimedialen Projekten: In unserer digitalen scroll-Story „Aufgeben hat keine Zukunft“ stellen wir drei Aktivist*innen aus Ägypten, Tunesien und Syrien vor, die zeigen, dass die Revolutionen weitergehen.