Auch Wohlfahrt muss nachhaltiger werden

Wenn wir den Klimawandel stoppen wollen, müssen wir auch über neue sozial-ökologische Infrastrukturen nachdenken. Universelle Grund­dienstleistungen können nachweislich hilfreich sein.

Wir wissen, dass sich alles ändern muss. Noch immer aber sind zentrale gesellschaftliche Institutionen und Sozialstrukturen davon abhängig, dass die Wirtschaft wächst. Und sie sind sogar selbst darauf ausgerichtet, Wachstum zu fördern. Unsere bisherige fossile Art, Wachstum zu generieren, ist aber klimaschädlich und kann so nicht weitergehen. Mit der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Zuge eines rasanten Umbaus hin zur Dekarbonisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche stellt sich darüber hinaus die Frage des Zusammenhalts in Deutschland, Europa und weltweit mit zunehmender Dringlichkeit: Welche Systeme und welche Institutionen garantieren Teilhabe am Wohlstand und soziale Sicherung auch unter den veränderten Rahmenbedingungen der Zukunft? Wer darauf Antworten geben will, muss auch über sozial-ökologische Infrastrukturen neu nachdenken.

Der Ansatz der «nachhaltigen Wohlfahrt» («sustainable welfare») kann hier hilfreich sein. Er zielt darauf, politische Maßnahmen und wirtschaftliches Handeln neu auszurichten und die Grundbedürfnisse aller Menschen zu erfüllen, ohne dabei die Grenzen des Planeten zu überschreiten. Dieser neue Ansatz der Verhältnisbestimmung von Wertschöpfung, Wohlstand und Wohlfahrt priorisiert ökologische und soziale Ziele gegenüber dem Wirtschaftswachstum: Menschliche Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden, die Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten muss gewährleistet und eine demokratische Entscheidungsfindung in Politik und Wirtschaft ermöglicht werden.

Sozialleistungen stärker von der Erwerbstätigkeit entkoppeln

Kann Wertschöpfung überhaupt ohne die enge Kopplung ans Wachstum funktionieren? Und: Wie organisieren wir den Sozialstaat, wenn wir ihn unabhängig von klimaschädlichen Strukturprinzipien machen wollen? Der Ansatz der nachhaltigen Wohlfahrt macht mehrere Vorschläge. So könnten zum Beispiel zur Finanzierung sozialer Maßnahmen jene Finanzquellen stärker in Anspruch genommen werden, die weniger vom Wachstum abhängen. Beispiele sind Steuern auf Vermögen, Boden und Erbschaften. Die Besteuerung von Kohlendioxid und fossilen Energieträgern könnte vorübergehend – solange fossile Brennstoffe noch verwendet werden – eine größere Rolle bei der Finanzierung von sozialen und ökologischen Maßnahmen spielen. Staatliche Subventionen für Hochemissionsindustrien müssten abgebaut werden und könnten stattdessen für soziale und ökologische Zwecke verwendet werden.

In einem nachhaltigen Wohlfahrtskontext könnten Sozialleistungen stärker von der Erwerbstätigkeit entkoppelt werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen gehört zu den gängigen Vorschlägen, unterstützt durch Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung von Arbeit. Diese Maßnahmen könnten unnötigen Konsum und damit verbundene Emissionen verringern – und Zeitressourcen für sozial und ökologisch notwendige Tätigkeiten bereitstellen. Die Sozialausgaben könnten zudem grundlegender verringert werden, indem man eine ebenmäßigere Verteilung von Einkommen und Kapital herstellt und die Wirtschaft an sozialen und ökologischen Zielen orientiert.

Grundbedürfnisse der Menschen effektiver und umweltfreundlicher befriedigen

Reisende am Hauptbahnhof in Hannover

Seit Kurzem wird auch vermehrt der vom Institute for Global Prosperity am University College London vorgelegte Vorschlag für universale Grundleistungen diskutiert. Universale Grundleistungen bestehen bereits in vielen Ländern für Gesundheit und Bildung. Die Idee besteht darin, solche Leistungen auf die Versorgung mit Energie, Wasser, Transport und Internet auszuweiten – mit dem Ziel, die Grundbedürfnisse der Menschen effektiver und umweltfreundlicher befriedigen zu können. In einer unserer kürzlich durchgeführten Studien zeigen wir, dass die kostenlose Bereitstellung eines Grundbedarfs an öffentlichen Verkehrsmitteln und erneuerbarer Elektrizität in Europa erhebliche Emissionseinsparungen mit sich bringen (13,4 Prozent bei Elektrizität und 23,8 Prozent bei Autoemissionen) und gleichzeitig durch hohe Energiekosten verursachte Armut verringern könnte (4,1 Prozenpunkte in Bezug auf Kraftstotffkosten und 2,2 Prozentpunkte in Bezug auf Kosten für Mobilität). Einige Städte und Länder in Europa experimentieren bereits damit, öffentliche Verkehrsmittel umsonst oder stark subventioniert anzubieten, das 9-Euro-Ticket in Deutschland und kostenlose öffentliche Verkehrsmittel in Luxemburg und Tallin sind Beispiele.

Im Zuge der derzeitigen Energiekrise haben einige Regierungen, auch universelle – und meist temporäre – Maßnahmen für die Versorgung mit Elektrizität und Gas eingeführt, oft mittels Gutscheinen oder der Rückzahlung eines Grundbetrags der Energierechnung für jeden Haushalt. Die Bereitstellung von Grundleistungen ähnelt in mancher Hinsicht einem Grundeinkommen, würde Grundbedürfnisse aber direkter befriedigen, und diese Prozesse stärker demokratisch gestalten, anstatt sie dem Markt zu überlassen (jedenfalls dort, wo diese Sektoren nicht in der öffentlichen Hand liegen).

Auf eine gerechtere Gestaltung der Klimapolitik achten

In der Politik finden verwandte Ansätze wie «wellbeing economics» und «doughnut economics» vermehrt Gehör. Einige nationale und lokale Regierungen experimentieren bereits damit, indem sie verstärkt soziale und ökologische Indikatoren in die Formulierung und Evaluierung ihrer Politik einfließen lassen, wie zum Beispiel die «wellbeing economy governments» in Neuseeland, Finnland, Island, Schottland und Wales. Hinzu kommt eine Anzahl von Stadtregierungen, die Doughnut-Economics-Instrumente zur Evaluierung und Planung nutzen. Zum Beispiel hat Amsterdam im Jahr 2020 die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Stadt mithilfe des Doughnut-Economics-Ansatzes gemessen und darauf aufbauend eine Strategie für eine Kreislaufwirtschaft entwickelt, die darauf abzielt, Amsterdam bis 2050 zu einer 100 Prozent zirkulären und klimaneutralen Stadt zu machen.

Schon jetzt sollte aber dringend auf eine gerechtere Gestaltung der Klimapolitik geachtet werden – nicht zuletzt, um ihr zu einer größeren öffentlichen Zustimmung zu verhelfen. Steuern auf Kohlendioxid oder Energie sind in vielen europäischen Ländern bei der Bevölkerung unbeliebt. Und tatsächlich belasten diese Steuern in Relation zum Einkommen meistens Geringverdienende stärker als Reichere. Eine Ausnahme bilden Steuern auf «Luxusgüter» wie Flüge, da Reiche wesentlich mehr fliegen als ärmere Leute: Während zum Beispiel in Großbritannien nur 17,5 Prozent der Haushalte im untersten Einkommensdezil mindestens einmal im Jahr im Flugzeug sitzen, sind es bei Haushalten im obersten Einkommensdezil 71,6 Prozent.

Grüne Technologien für Geringverdienende stärker subventionieren

Ungerechten Verteilungswirkungen von Umweltsteuern kann durch begleitende Maßnahmen entgegengewirkt werden, etwa durch eine Pro-Kopf-Rückverteilung von Steuereinnahmen an die Bevölkerung. Oder auch durch die bereits oben erörterte direkte Bereitstellung von universellen Grundleistungen. Zudem müssen grüne Technologien wie etwa Solarzellen, elektrische Autos und Wärmepumpen, von denen momentan vorwiegend reichere Leute profitieren, stärker für Geringverdienende subventioniert werden. Ähnliches gibt es schon in manchen Ländern, zum Beispiel kostenlose oder stark subventionierte Wärmedämmung und andere energiesparende Maßnahmen für Hausbesitzende in Großbritannien, die bestimmte Sozialleistungen beziehen.

Das Hauptargument der nachhaltigen Wohlfahrt ist also, dass soziale und klimapolitische Ziele vereinbar sind. Und unbedingt verbunden werden müssen, wenn der Kampf gegen die globale Erhitzung erfolgreich sein soll.


Milena Büchs ist Professorin für Sustainable Welfare an der Universität Leeds.

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