Ein Zukunftsvertrag für Europas Wohlstand

Stärke kann nur aus der Erneuerung kommen: Die EU muss mehr in die Energiewende und den Klimaschutz investieren. Sie muss mit Partnern kooperieren, die unsere Werte teilen – und dafür Sorge tragen, dass am Ende alle am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben.

Mit dem Inflation Reduction Act hat die Biden-Administration eine neue Investitionsoffensive für die US-Wirtschaft mit dem Ziel beschlossen, die Dekarbonisierung voranzutreiben und die USA als Industriestandort zu stärken. Sie setzt damit den Rest der Welt unter Zugzwang. Viele Stimmen in Europa und auch in Deutschland rufen nun nach einer Schutzreaktion, um die hiesige Industrie vor Wettbewerbsnachteilen zu bewahren. Doch vieles wirkt kopflos und wenig selbstbewusst: Auch die Europäische Union investiert schließlich sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene viel in die Förderung ihrer eigenen Wirtschaft. Zudem musste Präsident Biden sich das Investitionspaket innenpolitisch teuer erkaufen: Die Buy-American-Klauseln sind so strikt, dass auf längere Sicht eine handelspolitische Isolation der USA und weitere Lieferengpässe bei dringend nötigen Industrievorprodukten zu befürchten wären – für die EU gälte dies bei ähnlichen, von den USA abgekupferten Maßnahmen umso mehr.

Für Europa wäre daher eine selbstbewusste und konsequente Weiterentwicklung der bereits ergriffenen Maßnahmen auf Basis des von der Kommission vorgelegten Green Deal Industrial Plan der richtige Weg. Erstens: Die Investitionsmittel für die Energiewende und Klimaschutz müssten deutlich ausgeweitet und auf konkrete Technologien der Treibhausgasreduktion ausgerichtet werden, um die Dekarbonisierung zum Markenkern der europäischen Wirtschaft und Industrie zu machen. Zweitens: Statt einer reflexhaften Lokalisierungsinitiative à la «buy European» sollte die EU auf ihre eigenen Stärken in der Verarbeitung und auf Produktionspartnerschaften mit Ländern setzen, die unsere Grundwerte von Demokratie, Nachhaltigkeit und Rechtsstaatlichkeit teilen. Drittens: Ausgehend von temporären Modellen wie dem als «Übergewinnsteuer» bekannt gewordenen Solidaritätsbeitrag wäre eine neue, auf Dauer angelegte Zusammenhalts-Offensive in der Europäischen Union ein zentraler Baustein, um den erneuerten Wohlstand für alle zugänglich zu machen.

Mit diesem Dreiklang würde das Fortschrittsversprechen der Europäischen Union mit neuem Leben gefüllt. Über 70 Jahre nach Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaften hat der Glaube daran gelitten, dass die europäische Einigung neuen Wohlstand schafft und dieser allen Menschen gleichermaßen offensteht. Der Grund dafür, dass sich zuletzt immer mehr europäische Regierungen von der EU abwenden, liegt nicht zuletzt darin, dass Deutschland mehr als andere vom europäischen Binnenmarkt und der Einführung des Euro profitiert hat. In nun über 20 Jahren hat Deutschland mit etwa zwei Billionen Euro den EU-weit größten Wohlstandsgewinn durch die gemeinsame Währung eingefahren. Auch von künftigen Integrationsschritten wird die deutsche Volkswirtschaft im Zentrum des Binnenmarkts besonders profitieren.

Umso wichtiger wäre es nun, dass Deutschland gemeinsam mit Partner*innen aus dem Osten, Westen, Süden und Norden Europas für eine gemeinsame Perspektive auf dem Weg durch die anstehenden Transformationsjahre eintritt. Dabei müssen Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung tatsächlich für alle Teile Europas geschaffen und die Teilhabe an einem neuen Wohlstand auf Basis von erneuerbaren Energien und technologischer Entwicklung für alle umgesetzt werden. Das bedeutet, dass die anstehenden Investitionen in neue Infrastrukturen und Wertschöpfungsmöglichkeiten bereits jetzt verbunden werden müssen mit der Absicherung künftigen Allgemeinwohls und sozialer Sicherungssysteme. Hier hat die Europäische Union schon länger einen großen Nachholbedarf, um den grenzübergreifend geschaffenen Wohlstand auch grenzübergreifend zugänglich zu machen.

Um neuen Wohlstand zu schaffen, gilt es allerdings zunächst anzuerkennen, dass die bisherige alte Grundlage für Wohlstand eben nicht mehr zukunftsfähig ist und es kein «Weiter so» in leicht veränderter Form geben kann. Wer glaubt, es genüge, das bisherige Fortschrittsnarrativ der Moderne schlicht ein wenig mit den aktuellen technologischen Trends zu verknüpfen und zu behaupten, die Krisen der Gegenwart seien bloß «dornige Chancen» für ein paar junge Startups, der verkennt die radikale Realität des fortschreitenden Klimawandels, des Artensterbens und der damit bereits heute einzupreisenden, massiven Folgen für den Menschen und seine Lebens- und Wirtschaftsgrundlage.

Ein erneuertes Fortschrittsnarrativ wird bereits jetzt anerkennen müssen, dass Fortschritt allein durch Wachstum und Wettbewerb nicht mehr nachhaltig zu erreichen sein wird und stattdessen die Kooperation über Sektoren, Disziplinen und Weltregionen hinweg zum entscheidenden Erfolgsfaktor wird. Ein ergebnisoffenes Ausprobieren verschiedener Technologien ist bereits jetzt nicht mehr ohne Weiteres möglich, wenn die Transformationsszenarien zur Erreichung der Klimaziele gelingen sollen. Wirtschaftlicher Wohlstand wird maßgeblich daran gemessen werden, ob es gelingt, die komplexen Umstellungsprozesse aller Sektoren – gerade auch der Transport- und Nahrungsmittelsysteme – auf eine konsequente Dekarbonisierung auszurichten.

Dies ist nur durch massive Investitionen in die konkrete Umstellung aller Wertschöpfungsprozesse zu erreichen. Dafür gilt es aber zunächst, jene Aufgaben zu erledigen, die nicht Ziel, sondern Voraussetzung eines erneuerten Wohlstandsmodells Europas sind: Der konsequente, weitere Ausbau der Erneuerbaren, die Elektrifizierung des Verkehrs, der Aufbau von europaweiten Netz- und Speicherkapazitäten, die Entwicklung von Wasserstoffinfrastruktur, die Weiterverarbeitungskette der erneuerbaren Energien – wer dies nicht zügig umsetzt, braucht nicht in Einzelprojekte zu investieren, deren Wettbewerbsfähigkeit ohne die oben genannte Infrastruktur nicht gesichert werden kann.

Entscheidender Faktor dabei wird die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften sein, deren Mangel einer erfolgreichen Transforma­tion das Genick brechen kann. Im kommenden EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation braucht es eine massive Kampagne, um etwa Frauen viel stärker für dringend benötigte und gut bezahlte Jobs der ökologischen Transformation von Industrie und Infrastruktur zu qualifizieren. Gleichzeitig gilt es für Europa, die künftige Grundlage für einen erneuerten Wohlstand in Kooperation mit anderen Teilen der Welt zu schaffen und damit Resilienz gegenüber Konkurrenten wie China aufzubauen, die unter anderem auch deshalb in diese Infrastrukturen weltweit investieren, um eine wettbewerbsfähige Konkurrenz zum Wirtschafts- und Wertemodell Europas zu verankern und die Demokratien gezielt zu schwächen.

Dieser historische Neuaufbruch Europas in Richtung eines neuen Wohlstandsmodells bedarf vor allem eines neuen Teilhabenarrativs, gerade weil sich viele Teile des bisherigen Wohlstandsmodells und damit auch viele individuelle Lebensgrundlagen stark verändern. Als die Europäische Kommission mit der Bolkestein-Richtlinie eine weitgehende Liberalisierung des Dienstleistungssektors im gemeinsamen Binnenmarkt vollzog, blieb die Sozialpolitik als Achillesferse der EU. Auch mit dem Vertrag von Lissabon wurden zwar Rechtsstaat und Demokratie im bisherigen Wirtschaftsbündnis verankert. Doch die Dimension des Zusammenhalts und der Teilhabe am Fortschritt blieb – und bleibt bis heute – neben einigen anderen Politikbereichen eine Bastion nationalstaatlicher Eigenständigkeit.

Das hatte und hat einen hohen Preis. Denn in Zeiten global verflochtener Wertschöpfungsketten sind die Nationalstaaten alleine unfähig, eine stabile soziale Perspektive und eine faire Verteilung des Wohlstands zu garantieren. Auf diese Handlungsunfähigkeit der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft lauern die erstarkenden, autokratischen und illiberalen Kräfte. Sie stellt damit eine große Gefahr für den Erfolg der Transformation hin zu einem erneuerten Wohlstandsmodell Europas dar.

Es gibt sie, die Ideen und Konzepte, die die zentralen Herausforderungen an der Schnittstelle von Transformation und Zusammenhalt grundlegend angehen.

Doch es gibt sie, die Ideen und Konzepte, die die zentralen Herausforderungen an der Schnittstelle von Transformation und Zusammenhalt grundlegend angehen. Ein Beispiel für eine solche Idee wäre die Einführung eines europäischen Staatsfonds, der aus künftigen Gewinnen im Energiesektor gespeist würde. Aktuell stehen zwar Instrumente wie eben die Abschöpfung von Übergewinnen und die zunehmende Bepreisung fossiler Energieträger im Vordergrund. Absehbar wird allerdings der massive Ausbau erneuerbarer Energien zu geringeren Energiepreisen führen. Die sich daraus – ebenso wie aus der zunehmenden Automatisierung – ergebenden Wohlstandszugewinne könnten zur Grundlage einer europäischen sozial-ökologischen Marktwirtschaft der Zukunft gemacht werden.

Der entscheidende Integrationsschritt hierfür wäre allerdings die Ermöglichung gemeinsamer Steuern durch die EU, also nicht nur die vage Harmonisierung des Steuerrechts. Mit der Einführung eines direkt gespeisten europäischen Fonds wäre nicht nur eine ganz neue Dimension gesellschaftlichen Wohlstands erschaffen. Zusätzlich wäre die Europäische Union im Leben aller ihrer Bürger*innen wahrnehmbar nah. Vor allem aber würden umfassende Investitionen in die ökologische Transformation und den technologischen Wandel von heute verbunden mit einer Aussicht für diese und auch für die kommenden Generationen: Dass nämlich die mit den Investitionen und Strukturveränderungen verbundenen Lasten auch mit Zugewinnen für alle einhergehen. Das wäre ein Zukunftsvertrag, der seinen Namen verdient. 


Jan Philipp Albrecht ist seit Juni 2022 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

This article is licensed under Creative Commons License