Die Transformation braucht mehr Profiteure

Kommentar

Die Transformation der Wirtschaft ist notwendig, um die Klimakrise zu bekämpfen, Ressourcen zu schonen, die Biodiversität zu schützen und gleichzeitig den Wohlstand zu sichern. Das wird nur gelingen, wenn die Transformation den Status eines abstrakten Ideals verlässt und endlich zu einem realen Umbau führt. Aber wir müssen uns eingestehen: Es ist ein Trial-and-Error-Prozess, der ständig sozial, mental und geopolitisch nachjustiert werden muss.

Vier Menschen schauen über eine Mauer in den Sonnenuntergang auf eine Stadt

Nach Jahrzehnten im Nirwana scheinbar ewiger Glückseligkeit ist in den letzten paar Jahren das Bewusstsein in Deutschland für die dringliche Notwendigkeit einer - auch unangenehmen - Transformationspolitik deutlich gestiegen. Das bedeutet mitnichten, dass es eine überwältigende Zustimmung dafür gäbe, aber es zeigt, dass man nicht mehr die Augen verschließen kann wie meistens in den langen Jahren der Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel.

Die potentiellen „Gamechanger“ waren die Corona-Pandemie und der imperiale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Aber eine Veränderung des politisch-kulturellen Aggregatzustandes war in einem wachsenden Teil der Gesellschaft schon vorher da. Zum einen drückte sich dies in der bürgerlichen Junge-Menschen-Zukunftsbewegung Fridays for Future aus, die ihre Elternteilgeneration sensibilisiert und im Sinne des Wortes bewegt hat; zum anderen wurde es erkennbar in der ab 2018 deutlich wachsenden Zustimmung für die davor eher marginalen Bundesgrünen. Diese Zustimmung entstand nicht nur aus der Wahrnehmung heraus, dass die Grünen bereit waren, vom rhetorischen Besserwisser-Rand ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken, um sich dort tatsächlich mit harter Arbeit an der Energiewende und anderen schweren Jobs die Hände schmutzig zu machen. Es gibt jetzt tatsächlich einfach einen wachsenden Bedarf für eine sozialökologische Partei (wobei nicht ausgemacht ist, dass die Grünen diesen Bedarf erfüllen können). Politisierte Menschen, denen es vorher reichte, mit dem Zeigefinger auf die anderen zu zeigen, die die Arbeit (aus ihrer Sicht schlecht) machten, wollen nun selbst zu den Handelnden gehören oder sich zumindest dazu zählen.

Der Grüne Slogan „Bereit, weil ihr es seid“ schien daher im Wahlkampf 2021 plausibel zu sein, weil er ausdrückte: „Wir schreiben Euch nichts vor, sondern wir machen die (Klima-)Politik, die Ihr mehrheitlich wollt und fordert.“ Das im Vergleich zur mediengesellschaftlichen Stimmung enttäuschende Ergebnis (14,8 Prozent) lag zuvorderst, aber eben nicht nur an der Wahl der Kanzlerinnenkandidatin Annalena Baerbock. Es lag auch daran, dass deutlich mehr Leute als (etwa von mir) gedacht, eben nicht „bereit“ sind, sondern im oben genannten Nirwana bleiben wollen.

Illustration von Menschen, die an einem Hebel ziehen

Konferenz: Gesellschaftsprojekt Energiewende

Am 18. September 2023 in Berlin und im Livestream

Wir suchen nach Strategien und Ideen, um die Energiewende voranzutreiben.

>> Jetzt anmelden und dabei sein!

Einen teilgesellschaftlichen Schock löste dann der Wechsel vom Sprechen zum Machen durch das neue Wirtschafts- und Klimaministerium des Grünen Vizekanzlers Robert Habeck aus. Über das Gebäudeenergiegesetz (GEG), wie es als Entwurf an die Öffentlichkeit kam und wie es kommuniziert wurde, ist viel geschrieben und gesprochen worden. Die These, die ich hier ausprobieren will: Es war schnurzegal, worum es wann und wie im Detail ging – es ging ums Prinzip. Und unser in den Merkel-Jahren eingeübtes Prinzip war: Entweder wir sprechen gar nicht über die Realität der Erderhitzung und die Möglichkeiten, die sie beinhaltet, im Guten wie im Schlechten. Oder wir sprechen darüber, aber nur, um das Handeln gegen die Erderhitzung vorzutäuschen.

Es war ein unausgesprochener Deal zwischen der Bundesregierung aus Union und SPD und der Mehrheitsgesellschaft, dass die Notwendigkeit von Klimapolitik zur Eindämmung der Erderhitzung und der damit zusammenhängenden Probleme allerhöchstens benannt wurde – aber das erforderliche Handeln nur in solcher Mikrodosierung erfolgen durfte, dass „die Wirtschaft“ nicht belastet wird und wir Leute auf keinen Fall in unserem eh schon so schweren Alltag in irgendeiner Form damit in Berührung kommen würden. Braunkohle-Ausstieg viel zu spät im Jahr 2038, dafür mit Milliardenhilfen; CO2-Preis homöopathisch, damit der Erdgaskessel weiter brummen kann. Und wenn die fossilen Preise explodieren, übernimmt der Staat die Rechnung. Das war der sozial- und christdemokratische Ansatz.

Irrwitzige Drehung der Kommunikation

Nach der Pandemie und dem russischen Angriffskrieg auf unseren europäischen Nachbarstaat Ukraine sind in kürzester Zeit viele der bundesdeutschen Problemzonen offensichtlich geworden, die zuvor verdrängt wurden: die nicht digitalisierte Verwaltung, die fragilen Lieferketten und Abhängigkeiten bei kritischen Rohstoffen und Gütern, die fehlende militärische Verteidigungsfähigkeit ohne die USA, die nachlassende Innovations- und Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf globalisierten Märkten und das Ende des Exportweltmeistertums, die aus heutiger Sicht wahnwitzige Idee, diese Wirtschaft mit billigem russischen Gas in die Zukunft zu bringen, bis irgendwann und irgendwie noch billigere Erneuerbare Energie vom Himmel fallen würde.

Dies alles und noch mehr hat dazu geführt, dass nun Robert Habeck die Gegenfigur zu Angela Merkel geworden ist, weil sich die bundesdeutsche und die globale Realität des 21. Jahrhunderts nicht mehr überspielen oder verschleiern lässt und nun eine neue Wirtschafts- und Klimapolitik und speziell die Energiewende dringend erfordert. Zwar wurde die Dekarbonisierung der Heizungskeller bereits von der Vorgängerregierung beschlossen, aber neu ist, dass daraus auch praktisches Handeln folgt, das tatsächlich auch das Leben vieler betrifft, die ein Haus besitzen oder zur Miete wohnen. Es ist aber eben nicht, wie behauptet, Politik mit der Brechstange. Das wäre, beispielsweise, ein echtes und vollständiges Verbot des Betreibens von fossilen Heizungen ab einem bestimmten Jahr gewesen.

An dieser Politik entzündet sich im Kern der Kulturkampf, der von linksaktivistischer und liberalkonserativer Seite geführt werden will: Die einen, die Klima-Aktivisten sagen: Hier, seht hin, das ist viel zu wenig, damit geht alles den Bach runter! Die anderen, die Status-quo-Verfechter, entgegnen: Das ist schlecht gemachter ideologischer Klimaschutz mit der Brechstange, der viele Hausbesitzer an den finanziellen Abgrund führt. Bedauerlich: In den letzten Monaten versuchten eigentlich alle Parteien durch solch eine Abgrenzung von den Grünen und einer transformativen Wirtschafts- und Klimapolitik zu punkten.

Da ist nicht nur die AfD. Da sind Linke, die den fossil betriebenen Sozialstaat verteidigen; Lebenstil-Liberale, die ihren freien CO2-Ausstoß bedroht sehen; ostdeutsche Lebensgefühl-Rechte und -Linke, die sich an zu viel gesellschaftlicher Liberalität in Fragen der Lebensentwürfe wie an zu viel angeblicher Verbotspolitik stören; Konservative, die auf „Normalität“ pochen, auch wenn die schädliche Fossilität deren Grundlage ist. Und alle zusammen tun längst wieder so, als hätte es hohe Gaspreise und ausgleichende staatliche Unterstützung von Privathaushalten nicht gegeben. Das war die irrwitzige Drehung der Kommunikation, die den Vizekanzler kalt erwischt hatte: Nicht die zunehmende Abhängigkeit von unkalkulierbaren Gaspreisen galt plötzlich als existentielle Bedrohung, sondern die Investition in innovative Heizungstechnik, die davon unabhängig machen soll.

Angesichts der Akkumulation von Krisen und ihrer fehlenden politischen Gegenmittel verstecken praktisch alle ihre eigene Rat- und Politiklosigkeit hinter Angriffen auf denjenigen, der Reformpolitik zumindest in Ansätzen versucht: Robert Habeck.

Während Bundeskanzler Olaf Scholz das (fossile) Merkel-Kontinuum darstellt und so tut, als bleibe alles beim Alten, als sei alles im Griff, in besten Händen und werde nichts kosten und mit kleineren Stellschraubenverschiebungen noch besser und also sozialer, ist Habeck – unfreiwilligerweise oder vielleicht auch bewusst – die Figur geworden, die die Leute dazu bringt, sich einer weitgehend un-bundesrepublikanischen Welt zu stellen. Das war spätestens im Frühjahr 2021 klar, als er – noch als Grüner Parteivorsitzender – an der Kriegsfront mit eigenen Augen hinsah und deshalb Verteidigungswaffen für die Ukraine wollte, während der Großteil von Partei und Gesellschaft noch darauf beharrte, die Wirklichkeit nicht sehen zu müssen. Die zwischenzeitlichen Popularitätsverluste des Vizekanzlers dürften auch mit darauf zurückzuführen sein, dass er politisch und rhetorisch permanent die neue Realität sichtbar macht, also etwas, was nicht nur bei Konservativen schlecht ankommt, sondern gerade auch bei jenem Teil der Grünen und Linken, der traditionell mit der richtigen „Haltung“ die Welt verbessern will und sich mit Petitessen wie demokratischen Mehrheiten und geopolitischen Machtkonstellationen nicht abgeben mag. Schon gar nicht mit der Frage, wo eigentlich der Wohlstand herkommt, auf dessen Grundlage unsere im globalen Vergleich außergewöhnlich offene und emanzipatorische Gesellschaft basiert.

Mehr Profiteure statt mehr Moral

Noch einmal: Wir sind nicht wegen Habeck, aber mit ihm in eine Phase eingetreten, in der die zentrale Bedeutung klima- und naturschützender Wirtschafts- und Energiepolitik für die Zukunft dieser Gesellschaft sichtbar geworden ist. Die Gesellschaft – wenn wir diesen Hilfsbegriff nehmen für eine Gruppe von Menschen, die in Deutschland leben – ist nicht nur heterogen im Sinne von Identitäten, sondern vor allem auch in ihren Interessen. Das ist – außer in kurzfristigen Extremlagen – nicht zu überwinden mit zentralen Anordnungen und moralischen Argumenten, sondern nur mit Win-win-Angeboten. Beispiel: Nicht mehr fliegen oder keine Autos mehr – das klingt vernünftig, aber nur, wenn man es auf das Ziel der Emissionsvermeidung reduziert. Mal abgesehen von der eigenen Mobilitätsrealität und den entstehenden Kollateralschäden wird ein ernsthafter Blick in die Welt zeigen, dass das schlicht nicht umzusetzen wäre. Jedenfalls nicht demokratisch, wenn schon eine ordnungspolitische Kleinigkeit wie ein überarbeitetes GEG den medialgesellschaftlichen Notstand zur Folge hat. Gleiches gilt für die Postwachstums-Schule oder eine Wiederkehr der „Staatswirtschaft“. In der Theorie mag das ökologisch die einzige Vernunft sein, aber in der Praxis einer globalisierten Welt wäre es Irrsinn, wenn man ein Interesse an Demokratie, Emanzipation, Freiheit, anständigen ökonomischen Lebensverhältnissen und einem funktionierenden Sozialstaat hat. Und die Hoffnung darauf, dass wir bessere Menschen werden – damit sind selbstverständlich die anderen gemeint, wir sind es ja schon! –, kann man privat gern pflegen wie andere Illusionen auch. Politisch kann das nicht werden und ist auch der falsche Gedanke, weil es nicht um bessere Menschen geht, sondern um verschiedene Interessen.

„Die Welt retten“, so bedauerlich das für Kantianer sein mag, ist ein schöner Gedanke, aber im gelebten Leben ein ganz schlechtes Argument, weil viel zu abstrakt. Auch die „nachfolgenden Generationen“ sind in dem Moment erst mal sekundär, wenn ich eine neue Wärmepumpe einbauen muss und das Geld dafür nicht habe. Individuelle Verhaltensänderung ist gut und richtig, weil ein Leben, das weniger zerstörerisch ist, eindeutig ethisch besser ist als ein hemmungslos CO2-lastiges und weil es eine Kultur begründet, die zur neuen Normalität werden sollte. Aber politisch ist dieses Private nicht und wird es ohne einen breiten Wandel der Alltagskultur auch nicht. Aber das ist nichts Neues: Auch die Transformationen vor mehr als 100 Jahren in Richtung westeuropäischer Sozialstaat waren nicht das Ergebnis von moralisch motivierter Verhaltensänderung, sondern von staatlicher Regulierung (verpflichtende Beiträge, progressive Steuern, soziale Leistungen). Diese Politik ist bis heute hilfreich für die Wiederwahl von Regierungen, weil viele Leute profitieren. Das heißt: Es braucht nicht mehr Moral, es braucht mehr Profiteure. Je mehr Leute von einer neuen Energiepolitik etwas haben, desto mehr werden sie sie gut finden und unterstützen. Energiegenossenschaften allein werden es selbstverständlich nicht reißen, aber sie haben das Potential, wie auch kommunale Wärme, die Energiewende als Gesellschaftsprojekt zu grundieren.

Die Transformation ins Postfossile ist dringend notwendig, aber man kann sie eben – das habe ich selbst inzwischen einsehen müssen – nicht absolut setzen. Wenn der Aktivisten-Ruf „Wir haben keine Zeit mehr“ bei den meisten Leuten zum einen Ohr rein und zum anderen rausgeht und es, im Gegenteil, den liberalkonservativsozialdemokratischen Leuten viel zu viel ist und zu schnell geht, dann muss man versuchen, demokratische Mehrheiten für eine ausbalancierte und langsamere Zukunftspolitik zu gewinnen, die die soziale Sicherheit und die konservativen Bedürfnisse mit der ökologisch-ökonomischen Notwendigkeit zusammenbringt. Wir haben keine Zeit mehr – aber wir müssen sie uns nehmen. Das ist der bis auf Weiteres nicht auflösbare Widerspruch.

Die wirtschaftlichen, sozialen, mentalen und geopolitischen Aspekte müssen immer mitgedacht oder gegebenenfalls nachjustiert werden. Es wird keinen vorgefertigten Masterplan geben können, den man dann einen Punkt nach dem anderen abarbeitet. Es wird ein Trial-and-Error-Prozess sein, der – wie weiter oben angesprochen – eine neue gesellschaftspolitische Kultur braucht. Die Frage ist aber nicht, wieviel Kultur es braucht, sondern wo sie herkommt. Diese Kultur muss durch den politischen Prozess befördert werden und umgekehrt. So gesehen war das Gebäudeenergiegesetz tatsächlich problematisch. Nicht weil die Opposition völlig überzogen dagegen polemisierte. Sondern weil Regierungshandeln bei echter Transformationspolitik eines im Besonderen voraussetzt: eine einheitliche und überzeugende Position der Koalitionsparteien zu einem Vorhaben, das neben dem Nutzen für manche auch Nachteile mit sich bringt. Eine Regierung muss entsprechend der Lage flexibel Tempo aufnehmen oder rausnehmen können. Es wird jedenfalls definitiv nicht mit der gewohnten politischen Fehlervermeidungskultur gehen. Und schon gar nicht, wenn die eine Partnerin (FDP) politisches Handeln im Gebäudesektor sabotiert und die andere (SPD) so tut, als ginge sie das nichts an. Eine Kultur der Übernahme von politischer Verantwortung kann nur entstehen, wenn eine entschlossene Regierung und eine aufgeschlossene Mehrheitsgesellschaft sich gegenseitig pushen.

Und was die Grünen selbst angeht, so werden all jene jungen und alten Traditionskader in Partei und Gesellschaft, die immer noch im Nirwana sind, einsehen müssen, dass ihr politischer Kern nicht die Durchsetzung ihrer emanzipatorischen und menschenrechtlichen Ideale auf dem ganzen Planeten sein kann, aber sehr wohl die reale Transformation der fossilen in eine postfossile und sozialökologische Wirtschaft in der Bundesrepublik.

Das klingt im Vergleich vielleicht popelig, aber damit haben wir echt genug zu tun.


PETER UNFRIED ist Chefreporter der taz und Chefredakteur von taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik.