Thailand: Die Hoffnung und das Risiko einer neuen Verfassung

Kommentar

Thailand will eine neue Verfassung erarbeiten. Ist das eine Chance für mehr Demokratie?

Zivilgesellschaftliche Organisationen reichen die Forderung nach Änderung der gesamten Verfassung durch eine gewählte verfassungsgebende Versammlung mit 211.904 Unterschriften ein.
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Zivilgesellschaftliche Organisationen reichen die Forderung nach Änderung der gesamten Verfassung durch eine gewählte verfassungsgebende Versammlung mit 211.904 Unterschriften ein.

Mehr als drei Monate nach den Wahlen hat Thailand eine neue Regierung. Nachdem eine Regierungsbildung unter Führung der Move Forward Party (MFP), die bei den Wahlen die meisten Stimmen für sich verbuchen konnte, am Widerstand der vom Militär ernannten Senatsmitglieder scheiterte, sicherte sich die Pheu-Thai-Partei (PTP), die als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervorging, durch einen Deal mit ihren früheren Gegnern, den thailändischen Eliten, das Amt des Premierministers.

In der Hoffnung, die Wähler*innen zu besänftigen, die sich betrogen fühlten, versprach die PTP ein Referendum zur Überarbeitung der Verfassung abzuhalten. Allerdings entbrannte über die Fragestellung für das Referendum schnell ein Streit. Im Wesentlichen geht es zum einen darum, ob die PTP von vornherein jegliche Veränderung in Bezug auf die Monarchie ausdrücklich ausschließen wird, und zum anderen um die Wahl der verfassungsgebenden Versammlung. Sollten diese beiden entscheidenden Punkte aus dem Referendum ausgeschlossen werden, hieße das für alle, die sich größere Veränderungen erhofft hatten, sich entscheiden zu müssen, einer begrenzten Reform zuzustimmen oder weiterhin in einem zutiefst undemokratischen System zu verharren.

Die Spielregeln des Militärs

Ein Großteil der politischen Hürden der letzten Jahre in Thailand ist auf die Verfassung von 2017 zurückzuführen. Diese Verfassung wurde von einem Ausschuss erarbeitet, der sorgfältig vom Militär zusammengestellt worden war. Als in einem sehr eingeschränkten Referendum über sie abgestimmt wurde, waren jegliche Kampagnen gegen die Annahme der Verfassung verboten. Sie wurde bewusst so gestaltet, dass die Kontrolle des Militärs fest verankert ist – unabhängig von der Entscheidung der Menschen beim Referendum. Institutionen mit direkt oder indirekt vom Militär ernannten Mitgliedern erhielten die Macht, sich in den politischen Kurs Thailands einzumischen und ihn zu bestimmen. Eine der wichtigsten dieser Instanzen ist der Senat, der jeden für das Amt des Premierministers Kandidierenden ablehnen kann, wenn die Senatsmitglieder diese Person nicht als Regierungschef haben wollen.

Diese nicht durch Wahlen legitimierte Macht kam voll zum Tragen, als Pita Limjaroenrat, dem Vorsitzenden der MFP, das Amt des Premierministers verweigert wurde. Obwohl die Abgeordneten im Unterhaus mehrheitlich für ihn gestimmt hatten, lehnte der Senat Limjaroenrats Nominierung ab, und zwar mit einem Verweis auf sein Wahlprogramm, in dem eine Änderung des sehr strengen Gesetzes gegen Majestätsbeleidigung vorgesehen war. Gleichzeitig trat die thailändische Wahlkommission auf den Plan und beschuldigte Limjaroenrat, gegen das Wahlrecht verstoßen zu haben, weil er Anteile an einem inzwischen nicht mehr bestehenden Fernsehsender hielt. Als wäre das Drama inszeniert worden, griff das Verfassungsgericht die Anschuldigung der Wahlkommission auf und suspendierte den MFP-Vorsitzenden mitten in der Debatte über seine Nominierung. Um noch mehr Salz in die Wunde zu streuen, stimmte der Senat – mit Unterstützung der konservativen Minderheit im Parlament – dafür, dass Limjaroenrat nicht noch einmal nominiert werden kann.

Die Verfassung von 2017 ist nur schwer zu verändern. In Absatz 259 ist festgelegt, dass jeder Antrag auf Verfassungsänderung nicht nur die Mehrheit des gesamten Unterhauses benötigt, sondern auch mindestens ein Drittel der Stimmen des Senats. In der Tat wird es ohne grünes Licht von den Senatsmitgliedern, die häufig en bloc abstimmen, keine Verfassungsänderungen geben. Von den 26 Veränderungsanträgen, die in den letzten vier Jahren dem Parlament vorgelegt wurden, wurde lediglich einer, der das Wahlsystem betraf, angenommen und in Kraft gesetzt. Insgesamt 14 der Anträge hatten im Unterhaus die erforderliche Mehrheit erhalten, aber nicht die benötigten Stimmen aus dem Senat.

Als der Wahlkampf für die Parlamentswahlen von 2023 begann, war sich die Mehrheit der thailändischen Parteien einig, dass die Verfassung von 2017 schwere Mängel aufweist und eine neue Verfassung erarbeitet werden muss.

Die Frage aller Fragen

Die PTP hatte vor den Wahlen eine Überarbeitung der Verfassung entschieden befürwortet. Nachdem der Senat der MFP jedoch den Weg in die Regierung versperrt hatte, entschied sich die PTP dafür, das Bündnis mit der MFP aufzukündigen und stattdessen eine unheilige Allianz mit den Parteien zu bilden, die das Regime des zuvor amtierenden Premierministers Prayut Chan-o-cha unterstützt hatten - also genau mit der Fraktion, von der die Wähler gehofft hatten, dass die PTP sie besiegen würde. In der Erklärung, in der sie den Ausstieg aus dem Bündnis mit der MFP bekanntgab, bekräftigte die PTP ihr Vorhaben, eine neue Verfassung zu erarbeiten, was sie als „nationale Agenda“ bezeichnete.

Die Krux an der Sache ist jedoch das Versprechen der PTP, ein Referendum abzuhalten, um den Überarbeitungsprozess überhaupt erst in Gang zu bringen. Dieses Referendum ist alles andere als unkompliziert. Entscheidend ist, wie die Frage im Referendum gestellt bzw. formuliert wird, denn das könnte den Verlauf des gesamten Prozesses beeinflussen. Sollte das Referendum ohne weitere Bedingungen gestellt und angenommen werden, hätte der Senat während des Überarbeitungsprozesses ein Mitspracherecht im Parlament. Daher ist die richtige Fragestellung so wichtig: durch sie könnte die nicht durch Wahlen legitimierte Kammer davon abgehalten werden, sich in den Überarbeitungsprozess einzumischen.

Vor diesem Hintergrund gibt es zwei seit langem umstrittene Fragen.

Zum einen geht es darum, ob die Referendumsfrage ausdrücklich die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung garantiert. Während des Wahlkampfes stand die PTP noch voll und ganz dahinter, dass eine solche Versammlung gewählt werden sollte, aber seit der Bildung der neuen Regierung scheint die Partei von ihrem ursprünglichen Denken auffällig abzurücken. In seiner ersten Regierungserklärung sprach der neue Premierminister Srettha Thavisin vor dem Parlament lediglich von „einer Beteiligung von Menschen aus verschiedenen Gruppen“. Wie viele seiner angepriesenen Wahlversprechen muss nun auch dieses mit dem Koalitionspartner diskutiert werden, der noch vor kurzer Zeit ein politischer Gegner war.

Zum anderen geht es darum, ob eine Veränderung bestimmter Abschnitte der Verfassung von vornherein ausgeschlossen wird. Die PTP bewegt sich hier auf dünnem Eis. Kapitel 1 und 2, in denen es um allgemeine Vorschriften bzw. die Monarchie geht, gelten im thailändischen Establishment als unantastbar. Aber gerade die Abänderung dieser Kapitel gehörte zu den Zielen der von Studierenden angeführten Bewegung von 2020, die das Land mit ihrer Forderung nach einer Reform der Monarchie aufrüttelte.

Um die Befürchtung des thailändischen Establishments zu zerstreuen, hat die PTP klargestellt, dass eine Änderung von Kapitel 1 und 2 nicht zur Debatte steht. Eine solche Einschränkung könnte jedoch zu einer Politisierung der Frage führen und die ohnehin schon verärgerten Wähler*innen noch weiter verstimmen, was das Referendum gefährden könnte.

In der Zwischenzeit konnte ein Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivist*innen 200.000 Unterschriften sammeln, um dem Kabinett eine Petition mit einer eigenen Forderung vorzulegen. Diese Forderung beinhaltet eine Änderung der gesamten Verfassung durch eine vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung. Die Petition liegt nun auf dem Tisch des Kabinetts und wartet auf eine Entscheidung.

Angesichts des Drucks von verschiedenen Seiten hat die neue Regierung einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, der die Entscheidung über die Referendumsfrage bis zum Jahresende verschieben könnte. Vermutlich wird dieser Ausschuss auch als Fassade dienen, um der Fragestellung der PTP einen Hauch von Legitimität zu verleihen.

Die richtige Fragestellung

Entscheidend ist, dass die PTP die Zustimmung des Volkes nicht als selbstverständlich voraussetzt. Wenn die Veränderung bestimmter Abschnitte der Verfassung von vornherein ausgeschlossen wird und nicht garantiert ist, dass die verfassungsgebende Versammlung vom Volk gewählt wird, stünden die Wähler*innen vor dem Dilemma, entweder eine eingeschränkte Reform zu akzeptieren oder die Gelegenheit auszulassen, die problematische Verfassung von 2017 zu ersetzen. Die PTP wird sich sicherlich bemühen, die Wähler*innen davon zu überzeugen, dass ihre eingeschränkte Reform die einzig mögliche Wahl ist.

Doch auch das kleinere Übel bleibt ein Übel. Die thailändischen Wähler*innen haben diese wertvolle Lektion gelernt, als sie 2017 mehrheitlich einer Verfassung zustimmten, von der sie fälschlicherweise annahmen, sie würde das Land verändern. Das war aber nicht der Fall und Thailand bezahlt immer noch den Preis dafür. Unzufriedene Wähler*innen könnten dem Referendum an den Wahlurnen eine Abfuhr erteilen, wenn die ihnen zur Abstimmung vorgelegte Frage zu viele Einschränkungen enthält. Das würde dem Prozess, die Verfassung neu zu schreiben, ein vorzeitiges Ende bereiten.

Eine Änderung der gesamten Verfassung durch eine vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung zuzusichern, erfordert nichts weiter als einen Beschluss vom Kabinett, in dem die PTP das Sagen hat. Das würde den Wähler*innen die Entscheidung erleichtern. Dagegen wäre ein „Nein“ des Volkes im Referendum nicht nur eine Niederlage für die Demokratie in Thailand, sondern auch für die Glaubwürdigkeit der PTP.

Thailand braucht unbedingt eine neue Verfassung, die seine Demokratie wiederbeleben kann. Aber die von der PTP geführte Regierung darf keine Frage stellen, bei der sie die Antwort „Nein“ nicht verkraften könnte.