„Öl ins Feuer“: Wie Migrant*innen die Schuld an den verheerenden Waldbränden in Griechenland zugewiesen wird

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Im August kamen in Evros mehrere Kinder und Erwachsene, die auf einer viel genutzten Migrationsroute unterwegs waren, durch Waldbrände ums Leben. Ortsansässige und Politiker*innen machten die Opfer zu Sündenböcken für die Katastrophe. Ein Feature unserer Climate Disinformation Media Fellows 2023 Giorgos Christides und Katy Fallon. Fotos von Alexandros Avramidis.

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Die verkohlte Fläche in den Hügeln um das Dorf Avas im Bezirk Evros in Griechenland, auf der nach einem verheerenden Waldbrand die Leichen von 18 Migrant*innen gefunden wurden.

In seinem Büro in der Pathologie der Universitätsklinik Alexandroupoli lehnt sich Dr. Pavlos Pavlidis in seinem Stuhl zurück und zieht an seiner Zigarette. Pavlidis hat in seinen zwanzig Jahren als Rechtsmediziner von Evros schon viele furchtbare Dinge gesehen. Durch die Region im Nordosten Griechenlands verläuft eine viel genutzte Migrationsroute.

Aber selbst ihm fiel es schwer, die verkohlten Überreste der Menschen zu untersuchen, die im Sommer durch den Waldbrand ihr Leben verloren haben.

Auf seinem Bildschirm sind Fotos der getöteten Migrant*innen, die man am 22. August in der Nähe des Dorfes Avas fand. Auf einem sieht man eine eng zusammengedrängte Gruppe.
„Sie sahen die Flammen auf sich zukommen, wussten, dass sie sterben würden und umklammerten sich instinktiv“, sagt Pavlidis und zeigt einen Ring und eine Uhr, die an der Stelle entdeckt wurden. Zu den identifizierten Toten gehören zwei Jugendliche zwischen 14 und 15 Jahren.

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Eine Uhr und ein Ring, die eines der Opfer bei sich hatte.

Der Waldbrand in Evros war der größte, der jemals in der EU verzeichnet wurde. Er wütete mehr als zwei Wochen und zerstörte 96.600 Hektar Wald, die teilweise zu einem Nationalpark gehören. Die Opfer hatten vermutlich den Fluss Evros überquert, der hier die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei bildet, um in der EU Asyl zu suchen.

Jetzt werden die Menschen, die Bergpfade und Wälder als Deckung nutzten, um nicht entdeckt und zurückgeschickt zu werden, beschuldigt, die Brände gelegt zu haben. Haltlose Gerüchte, dass viele Migrant*innen als Brandstifter*innen unterwegs seien, waren weit verbreitet und wurden sogar von Schulkindern per Smartphone geteilt.

„Drei Migranten in den Bergen aufgegriffen … Sie sagten „Ihr könnt uns ins Gefängnis werfen, aber 600 andere werden kommen und euch niederbrennen“, lautete eine dieser Nachrichten, die dem Guardian vorliegen. Andere forderten die Bewohner*innen der Bezirkshauptstadt Alexandroupoli auf, kleine Gruppen „zum Schutz der Heimat“ zu bilden. „Heute werden sie die Stadt niederbrennen.“

Menschenrechtsgruppen kritisierten, dass „Geflüchtete zunehmend zur Zielscheibe werden“. Dennoch bildeten sich Bürgerwehren und angestachelt von in den sozialen Medien verbreiteten Verschwörungstheorien, fuhren Teenager*innen auf Rollern Patrouille.

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Dr. Pavlos Pavlidis, der die Autopsie der 18 im Waldbrand ums Leben gekommenen Migrant*innen durchgeführt hat, in der Pathologie der Universitätsklinik von Alexandroupoli.

Auch der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis deutete am 31. August in einer Rede vor dem Parlament an, Migrant*innen seien für die Brände verantwortlich, ohne freilich Beweise vorzulegen: „Die Ursachen sind fast sicher menschengemacht. Und es ist fast sicher, dass der Brand auf Wegen gelegt wurde, die oft von illegalen Migranten genutzt werden.“

Der Chef der nationalistischen Partei Elliniki Lysi (Griechische Lösung) sprach von „ausländischen Brandstiftern“ und einer ihrer Abgeordneten sagte in einem Video: „Wir sind im Krieg – illegale Einwanderer sind koordiniert ins Land eingedrungen und haben mehr als 10 Brände gelegt.“

In einem Land, in dem der Ton des politischen Diskurses oft von den sozialen Medien diktiert wird, heizten erfundene Meldungen und andere Faktoren die fremdenfeindliche Stimmung weiter an. Auf TikTok wurde ein Video viral verbreitet, auf dem ein „Kopfgeldjäger“ mit der „Verhaftung“ vermeintlich verdächtiger Personen prahlt und warnt: „Sie wollen uns verbrennen“. Nutzer*innen kommentierten das mit „Zeigt es ihnen nicht nur, verbrennt sie.“

Die Feindseligkeit wurde durch aus der Luft gegriffene Verschwörungstheorien rechtsextremer Gruppen und reißerische Berichterstattung verstärkt. Sogar aus höchsten Regierungskreisen wurde unterstellt, die Brände hätten auf bekannten Migrationsrouten begonnen.

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Verbranntes Waldgebiet in den Hügeln nahe dem Dorf Avas in der Region Evros.

Die Generalsekretärin der Europäischen Beobachtungsstelle für digitale Medien, Paula Gori, erklärte, derartige Reaktionen in Krisensituationen beruhten auf einem „Bestätigungsfehler“. Menschen neigten dazu, nach Informationen zu suchen, die ihre Überzeugungen bestätigen.
Sie meinte, es gäbe deshalb so viel Desinformation zu Klimakrise und Migration, weil diese Themen starke Emotionen hervorrufen. „Wir wissen, dass sich Falschinformationen schneller verbreiten als [korrekte] Informationen“, fügte Gori hinzu und stellte fest, dass Beiträge, die viel geteilt werden, auch schneller viele Menschen erreichen.

Emotionen seien oft ein starker Antrieb für Desinformation, besonders in einer Krisensituation. „Hier wird wirklich Öl ins Feuer gegossen. Leider kann es leicht zu gewalttätigen Reaktionen kommen, wenn Menschen verzweifelt nach Schuldigen suchen.“

Die Waldbrände in Evros haben Existenzen vernichtet und Leben gefordert. Giorgos Karafillidis, 45, stand vor dem Traualtar, als die Brände ausbrachen. Der Imker verlor 92 Bienenstöcke, die für ihn Biohonig produzierten.

Als er seine toten Bienen fand, postete er ein Video, das sich rasch verbreitete. „Nichts mehr da, nur Blech“, sagt er unter Tränen. „Meine Lieblinge.“

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Kostas Karafillidis neben seinen verkohlten Bienenstöcken nahe dem Dorf Kirki.

„Ich war geschockt, als ich meine verbrannten Bienenvölker sah. Mir brach das Herz“, sagt er und hebt auf der verkohlten Lichtung im Eichenwald, in dem seine Bienen nach Nahrung suchten, ein von der Hitze verbogenes Stück Metall auf.

Karafillidis glaubt, dass die Brände von Menschen gelegt wurden. „Ich habe keinen Zweifel, dass es sich um Brandstiftung zur Förderung ausländischer oder inländischer Interessen handelt. Aber dass einfache Migrant*innen dahinterstecken? Das glaube ich nicht.“

Es gibt weiterhin keinerlei Beweise dafür, dass die Brände von Menschen verursacht wurden, die auf der Migrationsroute unterwegs waren. Auf die Frage, ob es Beweise gäbe, die Migrant*innen mit Brandstiftung in Verbindung brächten, erklärte die griechische Feuerwehr: „Die Untersuchung zur Ursache der Brände läuft noch.“

Evros ist seit vielen Jahren das Zentrum fremdenfeindlicher Rhetorik in Europa. Die Region wird intensiv überwacht, um Asylsuchende aus der Türkei abzufangen. Auch rechtswidrige Zwangsrückführungen sind gut dokumentiert.

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Der Bürgermeister von Avas, Giorgos Hatzigeorgiou, bezeichnet die Theorie von der internationalen Brandstiftung als „total lächerlich“. 

Giorgos Hatzigeorgiou, Bürgermeister von Avas, sagte, es sei einfach zu erklären, warum Migrant*innen beschuldigt würden. „Die Menschen waren sowieso schon aufgewühlt. Jeden Tag werden zahllose Migranten durch Avas und andere Gebiete geschmuggelt.“

Die Theorie von der internationalen Brandstiftung findet er aber „total lächerlich… Sie und ich, wir könnten keinen Brand legen, und schon gar nicht mit dem Leben davonkommen.“

Die Konzentration auf Migrant*innen hat die Debatte über andere Faktoren überschattet, zum Beispiel die Einsatzbereitschaft der Forstbehörden und die Klimakrise. Die Mittelmeerregion erwärmt sich um 20 Prozent schneller als der globale Durchschnitt. „Die Oberflächentemperaturen des Meeres waren dieses Jahr so hoch wie nie. Der Juli und August waren die wärmsten, die wir im östlichen Mittelmeerraum je verzeichnet haben“, berichtet Professor Christos Zerefos, Leiter des Instituts für Klimaforschung an der Akademie von Athen.

Der griechischen Feuerwehr zufolge gab es in Evros allein im August 55 Waldbrände. Trotz einer umfangreichen Mobilisierung von Feuerwehrkräften und Hilfe aus anderen europäischen Ländern konnten die Brände nicht unter Kontrolle gebracht werden. Eine lange Dürreperiode, hohe Temperaturen und ein sehr trockener Winter hatten alle Voraussetzungen für „extrem gefährliche“ Brände geschaffen. Zerefos erwartet, dass solche Bedingungen in der Zukunft häufiger vorkommen werden.

Das Büro von Petros Anthopoulos, der die Forstbehörde von Evros leitet, ist ein Schrein für den Wald, der ihm anvertraut ist. Im Regal liegt ein Stück Rinde und unter einer Zeichnung, die ihm Schulkinder aus dem Ort geschenkt haben, steht: „Wir lieben den Wald.“

„Der Wald ist unser Lebensunterhalt, unser Beruf, unsere Leidenschaft. Es war, als hätten wir unser Zuhause verloren“, sagt er.

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Verkohlte Bäume im Nationalpark Dadia in Evros. Im August wüteten im Nationalpark über zwei Wochen lang Waldbrände.

Die Behörde ist seit Jahren unterfinanziert und seit 2006 wurden keine neuen Mitarbeiter*innen eingestellt. „In Evros gibt es 18 Förster, von denen manche schon über 60 sind“, erzählt Anthopoulos. Gleichzeitig musste er zusehen, wie in derselben Region viel Geld in Grenzschützer*innen und Hightech-Infrastruktur gegen Migrant*innen investiert wurde.

Die Menschen in Avas versuchen immer noch, das Ausmaß der Zerstörung zu begreifen. „Wir haben keine Angst mehr, weil wir nichts mehr zu verlieren haben,“ sagt Hatzigeorgiou. Der verkohlte Wald, der früher von Vögeln und Bienen bevölkert wurde, ist jetzt stumm.

„Ich kann nur hoffen, dass unser Leid dem Rest Griechenlands und Europas zur Warnung dient“, erklärt er.

Dieser Artikel ist erstmals am 23. November 2023 im Guardian erschienen. Die Recherche für diesen Artikel wurde durch ein Climate Disinformation Fellowship des EU-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung ermöglicht.


Dieser Artikel erschien auch hier: eu.boell.org