Neues UN-Abkommen zu Cyberkriminalität: Wie der Traum eines autoritären Staates

Kommentar

Im Januar gehen die Verhandlungen über den Umgang mit Cyberkriminalität in die letzte Runde. Was droht ist die Begrenzung von Freiheit und die digitale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger.

Graffiti mit dem Bild einer Überwachungskamera und dem Text: "For your Safety and our Curiosity".

Die Vereinten Nationen stehen kurz vor der Verabschiedung eines neuen Abkommens über Cyberkriminalität, der „Internationalen Konvention zur Bekämpfung der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien für kriminelle Absichten“. Was zunächst sinnvoll klingt, ist in Wirklichkeit ein Frontalangriff auf die Menschenrechte: Wird der Vertrag in seiner jetzigen Form verabschiedet, öffnet er Regierungen Tür und Tor für die Überwachung und Unterdrückung ihrer Bürgerinnen und Bürger.  

Wie konnte es dazu kommen? Das Abkommen wird seit vielen Jahren diskutiert und tauchte erstmals Anfang der 2000er Jahre als Idee in UN-Dokumenten auf. Die russische Regierung war dabei federführend und wurde von anderen Ländern, darunter Mitglieder der BRICS-Gruppe, unterstützt. Westliche Länder und andere, die die Budapester Konvention des Europarats unterzeichnet hatten, wehrten sich jedoch dagegen, da sie die bestehenden Instrumente für ausreichend zur Bekämpfung von Cyberkriminalität hielten und Bedenken hinsichtlich der Risiken für Menschenrechte, Freiheiten und den Datenschutz hatten – insbesondere, da Regierungen wie Russland und China die Initiative vorantrieben.

Da es nicht gelang, einen Konsens unter den UN-Mitgliedsstaaten zu erzielen und der Westen heftigen Widerstand leistete, brachte Russland 2019 eine entsprechende Resolution zur Abstimmung in die UN-Generalversammlung ein, die trotz starker Opposition und mit einer Minderheitsunterstützung aufgrund von Enthaltungen angenommen wurde. Nach Unstimmigkeiten über das Verfahren wurden 2021 Verhandlungen aufgenommen.

Grundlegend verschiedene Ansichten über die Definition eines Cyberverbrechens

Seitdem haben die nationalen Delegationen sechs Verhandlungssitzungen bei den Vereinten Nationen in Wien und New York abgehalten, aber es wurden kaum Fortschritte hin zu einer gemeinsamen Auffassung über die Anwendung und den Wortlaut des Vertrags erzielt. Es wurde schnell deutlich, dass die Mitgliedstaaten grundlegend unterschiedliche Ansichten darüber haben, was Cyberkriminalität ist, wie das Internet reguliert und wie die Menschenrechte geschützt werden sollten – oder nicht. Trotz der eigentlich starken Verhandlungsposition der liberal gesinnten Länder ermöglicht es der derzeitige Vertragsentwurf Regierungen, gegen eine lange Liste von online begangenen „Verbrechen“ vorzugehen.

Beispielsweise können laut aktuellem Entwurf alle „Verbrechen“, die eine Mindest-Strafvollzugszeit von vier Jahren vorsehen, auf Basis der Konvention verfolgt werden.

Diese sehr generell gehaltene Formulierung von „ernsthaften Verbrechen“ könnte es Staaten ermöglichen, elektronische Beweise auszutauschen sowie polizeilich und justiziell zusammenzuarbeiten, wenn es um Dinge geht, die in ihren Augen Verbrechen darstellen

Diese sehr generell gehaltene Formulierung von „ernsthaften Verbrechen“ könnte es Staaten ermöglichen, elektronische Beweise auszutauschen sowie polizeilich und justiziell zusammenzuarbeiten, wenn es um Dinge geht, die in ihren Augen Verbrechen darstellen wie Homosexualität, journalistische oder politische Arbeit. Terrorismus wird in der Präambel ebenfalls als nicht weiter definierter Straftatbestand erwähnt.

In Ermangelung eines Vertrags über digitale Rechte auf UN-Ebene könnte dieses Abkommen daher international verbrieften Menschenrechten entgegenlaufen. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Access Now oder das International Press Institute (IPI) versuchen daher darauf hinzuwirken, personenbezogene Daten und Merkmale von der Strafverfolgung durch die Konvention auszuschließen. Ebenso würde eine enge Definition und Anwendung von „cyber-abhängigen“ (cyber-dependant) und nicht „cyber-ermöglichten“ (cyber-enabled) Verbrechen bedeuten, dass nur Tatbestände, die durch Mittel der Informations- und Kommunikationstechnologie begangen werden können, und eben nicht alle Verbrechen, bei denen beispielsweise ein Smartphone benutzt wurde, geahndet werden können.

Von Regierungen für Regierungen

Die genannten Beispiele zeigen, warum viele Regierungen, zivilgesellschaftliche Gruppen und der Privatsektor befürchten, dass der Textentwurf, der den Mitgliedstaaten vorgelegt wurde, kein Vertrag zur Verhinderung und Bekämpfung von Cyberkriminalität ist, sondern einer, der die Regierungen ermächtigt, alle Arten von Online-Aktivitäten ihrer Bürgerinnen und Bürger zu überwachen und zu unterdrücken sowie Regierungskritiker oder Dissidentinnen zu verfolgen. Tatsächlich liest sich der Entwurf eher wie der Traum eines Autoritären als wie ein Instrument zur Bekämpfung von Online-Kriminalität und zum Schutz der Opfer.

Um neben der Strafverfolgung und der internationalen Zusammenarbeit wirksam und nachhaltig gegen die organisierte Kriminalität, einschließlich der Cyberkriminalität, vorgehen zu können, bedarf es einer ganzheitlichen Strategie, die auf einer offenen Gesellschaft, freien Medien und rechtsstaatlichen Institutionen aufbaut. Dieser Vertrag droht nicht nur, diese universellen Rechte zu beschädigen, sondern könnte durch die Schließung von Räumen für die Zivilgesellschaft, die Medien und andere auch die Bemühungen zur Bekämpfung der Kriminalität torpedieren.

Letzte Chance Anfang Februar in New York

Die letzte Verhandlungssitzung findet vom 29. Januar bis zum 9. Februar 2024 bei den Vereinten Nationen in New York statt. Dann soll der Verhandlungsausschuss zu einer Entscheidung kommen – entweder im Konsens oder, falls dieser nicht zustande kommt, durch Abstimmung. Es wird dabei unter anderem auf die Stimmen der Staaten aus dem Globalen Süden ankommen – also darauf, wie wichtig ihnen Menschenrechtsstandards in diesem Bereich sind.     

Sollte der Vertrag tatsächlich angenommen werden, besteht die Gefahr, dass die Vereinten Nationen im Stillen so umgestaltet werden, dass sie den universellen Werten, auf denen sie gegründet wurden, zuwiderlaufen – und das an einem gefährlichen Tiefpunkt des Multilateralismus. Es ist daher an der Zeit, dass diejenigen von uns, die nicht der Regierung angehören, laut und deutlich auf die Risiken des Vertrags hinweisen. Und dass die Mitgliedstaaten, die sich zu den Werten der Vereinten Nationen bekennen, dafür sorgen, dass wir nicht an diesen Punkt gelangen.  


Dieser Beitrag erschien zuerst in leicht abgewandelter Form auf netzpolitik.org.