Transatlantische Einigkeit für einen ukrainischen Sieg

Analyse

Angesichts der Wahlen in den USA und der schwierigen Situation auf dem Gefechtsfeld muss der Westen eine klare Entscheidung über die Ukraine-Unterstützung der kommenden Monate treffen.

Ukrainische Soldatin in Uniform marschiert bei einer Zeremonie
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Militär-Zeremonie am "Tag der Verteidiger der Ukraine" in Kyiv.

Für die Ukraine und ihre Unterstützer beginnt mit 2024 eine neue und schwierige Phase ihres Abwehrkampfes gegen die russische Aggression. Das erfordert ehrliche Debatten über die künftige Hilfe gerade von den transatlantischen Partnern und Unterstützern der Ukraine, welche Optionen Kyiv heute hat, was ein Nachlassen westlicher Hilfe für sie bedeuten würde und wie die transatlantischen Partner und Unterstützer sie über die nächsten Monate weiter unterstützen können.

Nach der erfolglosen ukrainischen Gegenoffensive letzten Sommer sind die operativen und strategischen Pläne der Ukrainer, einen Keil durch die russische Landbrücke zur Krim zu schlagen und damit die Halbinsel zu bedrohen, vorerst gescheitert. Die Ukraine ist inzwischen wieder in die Defensive geraten, und jetzt geht es im laufenden Jahr zunächst darum, Kyiv in einem möglicherweise langen Krieg dabei zu helfen, die Frontlinie vor zum Teil massiven russischen Angriffen zu halten und weitere russische Offensivbemühungen abzuwehren.

Derzeit ist es offen, wie es den ukrainischen Streitkräften mit vorhandenem Material und Munition angesichts der enormen russischen Verteidigungslinien gelingen kann, aus dem Stellungs- und Abnutzungskrieg wieder in die Offensive zu kommen, um russische Kräfte aus den besetzten Gebieten zu vertreiben und die dortige Bevölkerung aus der Terrorherrschaft zu befreien. Klar ist, dass die westliche Hilfe und die bereitgestellten Systeme, insbesondere für die Minenräumung und die taktische Flugabwehr, nicht ausreichend waren und dass sowohl das Training des Kampfes der verbundenen Waffen als auch das effektive Zusammenwirken der Kräfte auf dem Schlachtfeld (von der Brigade- bis hinunter zur Bataillonsebene) verbessert werden muss.

Die Ukraine hat zurzeit nur einige dieser Faktoren in der eigenen Hand. Die militärische Lage wird für Kyiv noch mal schwieriger, weil die westliche Unterstützung zurückgeht oder ihr Plateau erreicht hat. Gerade die politische Unterstützung der USA, der mit Abstand wichtigste Verbündete, wird durch radikale Republikaner im Kongress in Frage gestellt. Vertreter der U.S. Regierung warnten deshalb Ende Januar zuletzt davor, dass ohne Freigabe des Kongresses den Ukrainern bald die Munition und Ersatzteile ausgehen könnten.

Freiheit oder Tod

Trotz der erfolglosen russischen Offensiven im Winter 2023/24 haben sich die russischen Kriegsziele in den letzten zwei Jahren nicht verändert. Wladimir Putin, sein Kremlsprecher sowie andere Offizielle haben in den vergangenen Monaten mehrfach klargemacht, dass Moskau trotz höchster Verluste an seinen maximalen Kriegszielen, der Unterwerfung bzw. Zerstörung der souveränen Ukraine, festhält.

Trotzdem gab es im Westen in den vergangenen Monaten zunehmend Stimmen, die wegen der schwierigen Lage der Ukraine Verhandlungen zum Einfrieren des Krieges ins Spiel brachten. Wissend, dass Russland eben nicht von seinen Kriegszielen abrückt, lehnt die Ukraine aber einen Waffenstillstand ab. Die gängige Annahme in Kyiv ist, dass Russland einen Waffenstillstand als Atempause nutzen würde und mit seiner leistungsstärkeren Rüstungsindustrie später mit noch mehr Material und Soldaten wieder angreifen würde.

Angesichts der russischen Unterwerfungspläne und der Abwesenheit von Verhandlungsoptionen sieht sich die Ukraine trotz Müdigkeit und Ernüchterung weiterhin zur Selbstverteidigung gezwungen. Im Dezember letzten Jahres brachte es ein Offizier, dessen 47. Brigade die Speerspitze der ukrainischen Gegenoffensive gebildet hatte und der seit Herbst in Awdijiwka kämpft, in Anlehnung an das Motto der französischen Revolution auf den Punkt: Wir Ukrainer haben die Wahl zwischen Freiheit oder Tod.  

Die Ukraine ist im Abnutzungskrieg im Nachteil

Russland setzt seit mehr als zwei Jahren auf den Ausbau der eigenen Kriegswirtschaft und gibt allein in diesem Jahr 40 Prozent der Staatsausgaben für Militär und Sicherheitsdienste aus. Der Kreml weiß, dass es für die Umsetzung seines Unterwerfungsplans einen langen Atem braucht und dass dessen Erfolg von der abnehmenden und ausbleibenden westlichen Unterstützung der Ukraine abhängt. Selbst ein kleiner Rückgang der westlichen Waffenhilfe bedeutet für die ukrainischen Streitkräfte schon heute Munitionshunger, fehlende Ersatzteile und mangelnde Instandsetzung westlicher gelieferter Waffensysteme.

Trotz großer Verluste der russischen Armee in der Ukraine kann Moskau die Verluste an Personal und Material schneller ersetzen als die Ukraine, die über die nächsten Jahre auf massive und kontinuierliche Unterstützung aus dem Westen angewiesen sein wird. Der Militäranalyst Gustav Gressel kam in seiner umfassenden Analyse zu Szenarien für den Kriegsverlauf zum Schluss: “The Russian defence industrial base cannot compensate for Russia’s current loss rates, but it can replace its equipment faster than the West is, as of now, willing to do for Ukraine. For the time being at least, a war of attrition implies a Russian victory.”

Hohe Dringlichkeit

Seit Wochen mahnt Kanzler Olaf Scholz gerade die europäischen Verbündeten zu mehr Hilfen für die Ukraine. Ende Januar sagte Scholz im Interview mit der ZEIT: „Die Ukraine muss ihr Land verteidigen können ... Die Beiträge, die die europäischen Staaten bisher für 2024 vorgesehen haben, sind noch nicht groß genug.“

Tatsächlich sind die Zusagen für 2024 rückläufig. Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IFW) zeigen zwischen August und Oktober 2023 einen starken Rückgang der westlichen Zusagen. Der Gesamtwert neuer Pakete belief sich im letzten Erfassungszeitraum auf nur 2,11 Milliarden Euro. Das ist der niedrigste Betrag seit Januar 2022 und bedeutet einen fast 90-prozentigen Rückgang gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2022.

Seit Ende Oktober haben Deutschland, Großbritannien, Schweden, Dänemark und Norwegen und einige andere Länder neue Zusagen für 2024 und zum Teil darüber hinaus bekanntgegeben. Allein Deutschland hat für 2024 militärische Hilfen in Höhe von bis zu acht Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Trotz angespannter Haushaltslage hat sich die deutsche Regierung geeinigt, dass die in der Verfassung vorgesehene Schuldenbremse im laufenden Jahr ausgesetzt werden könnte, wenn es die militärische Lage für die Ukraine erfordere.

Zur Realität gehört aber, dass die in Aussicht gestellten Hilfspakete aufgrund der langsamen und begrenzten Kapazitäten der europäischen Rüstungsindustrien eben nicht ausreichen, um die Ukraine in ausreichendem Maße auszustatten, sich angemessen und dauerhaft gegen die russischen Angriffe aus der Luft und vom Boden zu verteidigen und mittelfristig wieder in die Offensive zu kommen.

Als Teil einer transatlantischen Debatte muss daher die Tatsache diskutiert werden, dass Europa derzeit bei weitem nicht über ausreichend Fähigkeiten und Produktionskapazitäten verfügt, die Ukraine alleine, ohne die USA, umfassend zu unterstützen. Mit Blick auf die Wahlen im Herbst ist vielen in der Ukraine klar, dass die amerikanische Hilfe im Falle einer Wahl von Donald Trump gänzlich ausbleiben könnte. Der Militärhistoriker Phillips O’Brien schreibt dazu: „If the United States does abandon Ukraine and Europe, Europe will have to decide whether it can bear the cost of the remilitarizing in a very short time. It will have to give Ukraine what it needs to fight on in the short term, even if that is politically and militarily painful, and it will have to invest a great deal of money to rebuild its military industrial base.“

Genau aus dieser Erkenntnis muss sich eine Dringlichkeit ergeben, der Ukraine jetzt gemeinsam mit Amerika so schnell wie möglich zu helfen und sie bestmöglich auszustatten. Zu lange war aus Sorge vor einer Eskalation des Krieges die Unterstützung zum Teil homöopathisch dosiert. Den Wählerinnen und Wählern muss jetzt klargemacht werden, dass ein Durchwurschteln spätestens zur möglichen Wahl Trumps in den USA deutlich höhere Kosten für Deutschland und Europa mit sich bringen würde.

Unterstützung der ukrainischen Rüstungsindustrie

Zur massiven Stärkung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit gehört neben der Bereitstellung bzw. der massiven Bestellung von Munition und notwendigen Waffensystemen auch die deutlich stärkere Unterstützung der ukrainischen Rüstungsindustrie. Westliche Unternehmen, auch aus Deutschland, sind die ersten Joint Ventures mit ukrainischen Partnern eingegangen, gerade um geliefertes Material in der Ukraine zu reparieren, oder neuere Systeme wie die Lynx oder CV-90 Schützenpanzer perspektivisch in der Ukraine zu fertigen.

Im Bereich der Drohnenproduktion verfügt die Ukraine bereits über hunderte von eigenen Unternehmen und beträchtliche Fähigkeiten. Den Unternehmen mangelt es jedoch an Maschinen, Komponenten und zum Teil an westlichem Know-how, um die bestehende Produktion von Drohnen und Störsendern bzw. Equipment der elektronischen Kriegsführung deutlich auszubauen. Hier kann und sollte der Westen, gerade auch Deutschland, aktiver helfen, auch durch ein Matchmaking und Finanzierung von deutschen mittelständischen Unternehmen, die beispielsweise Werkzeuge und Maschinen bauen, die für die Ukrainer*innen von kritischer Bedeutung sind. So können im Jahr 2024 Mängel bei Artilleriegranaten temporär ausgeglichen und die Verteidigungsfähigkeit der Ukrainer*innen gestärkt werden.

Make Russia Pay

Ein weiterer wichtiger Punkt in der transatlantischen Debatte um die Unterstützung für die Ukraine in diesem Jahr ist die Frage, wie möglichst schnell und rechtlich sicher russische staatliche Vermögen in westlichen Jurisdiktionen beschlagnahmt werden können. Seit Beginn der russischen Vollinvasion wurden russische Vermögenswerte in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar im Westen eingefroren. Gerade jetzt, wo der politische Druck auf die Unterstützung wächst, ist es wichtig, den Wählerinnen und Wählern deutlich zu machen, dass der Westen alles in seiner Macht Stehende tut, um Russland für den immensen Schaden und die damit verbundenen Kosten zur Verantwortung zu ziehen.

Die Biden-Administration hat dazu die Führung übernommen und signalisiert mittlerweile, dass sie offen für eine Konfiszierung russischer Staatsvermögen ist. Innerhalb der G7 wird dieser Schritt seit Wochen diskutiert. Gerade Europa, wo mit über 200 Milliarden Dollar die Mehrheit der russischen Vermögenswerte liegen, zeigt sich bisher noch zögerlich und führt rechtliche Schwierigkeiten an. Kaum jemand hat Illusionen, dass die Mittel, die rechtskräftig beschlagnahmt werden müssten und vom Kreml vor westlichen Gerichten angefochten werden könnten, der Ukraine schnell zur Verfügung gestellt werden können.

Dennoch ist das Timing kritisch. Je näher der US-Wahlkampf rückt, desto weniger werden die USA die Führung zu diesem Thema übernehmen. Stattdessen sollte Europa gemeinsam mit den USA in den nächsten Monaten die politischen und rechtlichen Grundlagen legen, dass die eingefrorenen russischen Vermögenswerte endlich beschlagnahmt werden. Das wichtige Zeichen, das ein solches Handeln aussendet, ist, dass Russland für seine Aggression gegen die Ukraine und gegen die internationale regelbasierte Ordnung einen hohen Preis zahlen muss.

Anfang 2024 stehen wir an einem möglichen Wendepunkt in diesem fürchterlichen Krieg, den Russland nach wie vor für sich entscheiden kann. Heute muss uns klar sein, dass die Ukrainer*innen auch ohne westliche Hilfe kämpfen und ihre und unsere Freiheit in Europa verteidigen. Der bereits zitierte ukrainische Offizier, der im Sommer 2022 die verlustreichen Kämpfe im Donbas miterlebt hatte, brachte es gegenüber deutschen Politiker*innen in Berlin auf den Punkt, indem er sagte: der Umfang der westlichen Hilfe entscheidet maßgeblich darüber, wie hoch der Blutzoll und der Preis für die ukrainische und europäische Freiheit am Ende ist.