Die Umsetzung des Europäischen Green Deal in der neuen EU-Legislaturperiode

Analyse

Mit der bevorstehenden Europawahl und der anschließenden Ernennung einer neuen Europäischen Kommission steht die nächste Phase des europaweiten Übergangs zur Klimaneutralität vor der Tür. Doch welche Maßnahmen sind für eine wirksame Umsetzung des Europäischen Green Deal (EGD) in naher Zukunft entscheidend?

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Die Umrisse von Europa in dunklem Grün auf einer hellgrünen Bergwiese.

Die Widerstandsfähigkeit des Green Deal

Vier Jahre nachdem die Europäische Kommission Ende 2019 die Klimaneutralitätsziele der Europäischen Union bis 2050 veröffentlichte, sieht sich der Europäische Green Deal mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert, da seine Auswirkungen auf Verteilungsfragen und Wettbewerbsfähigkeit zunehmend Besorgnis hervorrufen. Zugleich wird vonseiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft sowie auf internationalen Foren wie der COP28, die im vergangenen Dezember in Dubai stattfand, immer wieder bekräftigt, wie dringlich es ist, dem Pariser Abkommen von 2015 entsprechend aktiv zu werden und den globalen Temperaturanstieg bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf 1,5 °C zu begrenzen.

Laut den Ergebnissen des Europäischen Green-Deal-Barometers 2023, einer jährlichen Vertrauensbefragung, bei der mehr als 600 Nachhaltigkeitsexpert*innen konsultiert wurden, äußerte eine Mehrheit der Befragten (56 Prozent) ein gewisses Vertrauen darauf, dass die EU-Institutionen den EGD in Gesetzesform bringen werden, um die internationalen Klimaverpflichtungen einzuhalten. Diese Zuversicht hält sich jedoch in Grenzen, denn nur eine Minderheit erklärte, sie sei diesbezüglich „sehr zuversichtlich“. Die Umsetzung des Green Deal stieß in den letzten Jahren auf Hindernisse, insbesondere durch den mangelnden politischen Handlungswillen, Klimaziele in andere Politikbereiche einzubetten, wie z. B. in das Europäische Semester. Dennoch hat der Green Deal seit seiner Einführung viele Herausforderungen überstanden wie die Corona-Pandemie, den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise.

Die EU-Wahlen 2024 sind eine weitere Herausforderung für die Fortführung der EGD-Agenda, da eine neue Europäische Kommission gebildet werden muss, neue Mitglieder des Europäischen Parlaments gewählt werden und sich auch die anstehenden Wahlen in den Mitgliedsstaaten auf die Zusammensetzung des EU-Rates auswirken können. Die Befragten des EGD-Barometers schätzten die Zukunft des Green Deal relativ positiv ein: 61 Prozent gehen davon aus, dass die Agenda die kommenden Europawahlen einigermaßen unbeschadet überstehen wird. Dies ist ein ermutigendes Ergebnis, das nicht nur die Widerstandsfähigkeit des Green Deal bestätigt, sondern auch die Notwendigkeit unterstreicht, dass die EU-Politiker*innen diesen Kurs fortsetzen. Nach den Europawahlen, die für den 6. bis 9. Juni 2024 angesetzt sind, bleibt nur noch wenig Zeit bis zum Jahr 2030, das den ersten Zwischenstopp auf dem Weg zum Jahr 2050 markiert.

Die Prioritäten für die nächste Phase des EGD

Der EGD stellt eine übergeordnete politische Agenda dar, die darauf abzielt, Gesellschaft und Wirtschaft angesichts der sich entfaltenden Klimakrise auf neue Grundlagen zu stellen, und ist damit notwendigerweise eine langfristige Strategie (bis zum Jahr 2050 und darüber hinaus). Er erfordert allerdings sofortige Weichenstellungen und eine zukunftsorientierte Vision. Unstrittig sind die beträchtlichen Fortschritte, die in den nur vier Jahren seit seiner Einführung vor allem im Energiesektor erzielt wurden, doch andere Bereiche des Green Deal erfordern ambitioniertere politische Reformen oder neue rechtliche Rahmenbedingungen, die das Ziel der Klimaneutralität erreichbar machen.

Vervollständigung und Verzahnung von politischen Prozessen

In einigen Bereichen, die bisher vernachlässigt wurden, sind tiefgreifendere Reformen erforderlich, insbesondere in der Lebensmittelversorgung und der biologischen Diversität. So ist es beispielsweise bedauerlich, dass die Europäische Kommission in der Zeit ihres derzeitigen Mandats keinen Rahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme veröffentlicht hat, ganz zu schweigen von der Überarbeitung der Chemikalienverordnung, dem umfassenden Tierwohlpaket und der sogenannten „blauen Agenda“, obwohl sie diesbezüglich Verpflichtungen eingegangen war. Diese Aufgaben sollten nun von der neuen Europäischen Kommission erfüllt und effektiv umgesetzt werden.

Die derzeit geltenden Maßnahmen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen im Landwirtschaftssektor zeitigen nur eine minimale Wirkung, selbst wenn man die überarbeiteten Ziele der einzelnen Nationalstaaten in der Lastenteilungsverordnung berücksichtigt. Um den Beitrag des Landwirtschaftssektors zum Klimaschutz zu erhöhen, muss ein nachhaltiges und widerstandsfähiges Lebensmittelsystem geschaffen werden, das den Fußabdruck der Lebensmittelproduktion sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU verringert. Es müssen Maßnahmen zur Verbesserung der Artenvielfalt, der Bodengesundheit und der kohlenstoffarmen Landwirtschaft (Carbon Farming) eingeführt und ein neuer nachhaltiger Verbrauch auch mit innovativen Methoden gefördert werden. Zur Unterstützung der Agrar- und Ernährungswende muss eine neue Vision für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und die Landnutzung ausgearbeitet werden, die einschneidende Änderungen in der GAP und dem EU-Haushalt vorschlägt.

Bei alldem ist es von größter Bedeutung, dass die politischen Maßnahmen in der nächsten Phase des Green Deal besser aufeinander abgestimmt werden. Ein verbesserter Ansatz würde Widersprüchlichkeiten in den Zielsetzungen und Initiativen der verschiedenen Politikbereiche entgegenwirken. Es ließe sich hierdurch ein wirksamerer und kohärenterer Ansatz für die Politikgestaltung und -umsetzung gewährleisten. So ist es beispielsweise unerlässlich, die Klima- und Biodiversitätspolitik in einen ganzheitlichen Ansatz zu integrieren, um das Naturkapital der EU zu schützen und die Natur wieder auf den Weg der Erholung zu bringen. Naturbasierte Lösungen, einschließlich aktueller oder neuer Vorschläge bei Renaturierungsprojekten, spielen eine entscheidende Rolle bei der Erreichung der Klimaziele für 2040 und sind maßgeblich für die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Wirtschaft.

Auch die Außenpolitik sollte besser in die EGD-Agenda einbezogen werden, was wiederum dem Erreichen der EGD-Ziele und einer stärkeren Unterstützung in Drittstaaten förderlich wäre. Einige der bisher verabschiedeten handelsautonomen Verordnungen, wie das CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM) und die Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten, sind sicherlich gute Beispiele. Ersteres soll die Verlagerung von CO2-Emissionen in Drittstaaten (das so genannte „Carbon Leakage“) verhindern, während letztere die Einfuhr von Produkten verbietet, die zur Abholzung von Wäldern beitragen. So wird eine nachhaltige Landwirtschaft und der Erhalt der Natur gefördert. In diesem Zusammenhang ist es jedoch wichtig, dass der Schwerpunkt nicht nur auf der Einhaltung der Vorschriften, sondern auf der Erzielung von Ergebnissen vor Ort liegen muss. Im Hinblick auf die EU-Entwaldungsverordnung (EUDR) ist es von entscheidender Bedeutung, die Wirksamkeit der Instrumente und wirtschaftlichen Anreize, die der Green Deal an die Hand gibt, auswerten und zu überwachen, um die Produzenten beim Übergang zu einer nachhaltigen Produktion zu unterstützenEin vollständiger Abholzungsstopp kann nur erreicht werden, wenn die Durchsetzung an eine Entwicklung des ländlichen Raums gekoppelt wird. Ein einheitlicher und umfassender Ansatz, der sowohl externe wie interne Dimensionen des Green Deal in den Blick nimmt, ist daher entscheidend dafür, dass die EU auf internationaler Ebene ein glaubwürdiger Akteur bleibt. Die Einführung und Durchsetzung von Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung (TSD) in Freihandelsabkommen (FHA) während des letzten Jahrzehnts war ein wichtiger Schritt, um den EU-Handel fairer und nachhaltiger zu gestalten. Umsetzung und Wirksamkeit wurden jedoch stark in Frage gestellt, und es könnte sicherlich mehr getan werden, den Schutz von Klima, Umwelt und Arbeitsrechten weltweit zu unterstützen.

Verbesserung der EGD-Governance

Neben all dem Genannten muss auch die Governance des Europäischen Green Deal verbessert werden. Vom Gesetzesentwurf bis zur Umsetzung muss der gesamte Prozess inklusiver gestaltet werden, indem alle wichtigen gesellschaftlichen Akteure einbezogen werden: Forschungstreibende für verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse und der Privatsektor als wichtiger Förderer grüner Praktiken und Investitionen sowie die örtlichen Behörden, die mit den regional spezifischen Bedürfnissen am besten vertraut sind. Der Europäische Green Deal war der erste echte Versuch, eine wirtschaftsweite und transformative politische Agenda aufzustellen, um das EU-Klimaneutralitätsziel für 2050 zu erreichen. Dennoch blieb er wachstumsorientiert und im Wesentlichen darauf bedacht, sowohl Ressourcenverbrauch als auch ökologischen Fußabdruck vom BIP zu entkoppeln, was in Anbetracht der Zeit, die noch bleibt, um die planetarischen Grenzen in einem europäischen Kontext einzuhalten, schwierig genug erscheint. Trotz der zunehmenden Anerkennung von Konzepten wie „gerechter Übergang“ oder „Wellbeing Economy“ fehlt es dem EGD an einem überzeugenden politischen Narrativ und einem verbindlichen politischen Rahmen, der notwendig ist, um eine breite gesellschaftliche und politische Akzeptanz für weitreichende, von der EU vorangetriebene sozioökonomische Reformen sicherzustellen, die das menschliche und planetarische Wohlergehen in den Mittelpunkt der EU-Entscheidungsfindung stellen.

Gegenwärtig ist der Umsetzungsprozess immer noch stark politisiert, was tendenziell dazu führt, dass die grüne Transformation in einem allgemein negativen Licht wahrgenommen wird. Der Klimawandel ist jedoch ein globales Problem, und die neuen Maßnahmen berühren alle Sektoren; daher ist es wichtig, dass der Top-down-Ansatz durch die angemessene Einbeziehung von lokalen Behörden und durch die voranschreitende Digitalisierung entschärft wird. Es müssen zusätzliche Anstrengungen unternommen werden, um Wirkung und Nutzen der grünen Übergangspolitik klar zu benennen und aufzuzeigen, insbesondere in der Klima- und Energiepolitik (siehe z. B. das Fit for 55-Paket), in der Landwirtschaft und Landnutzung sowie der Renaturierung. Nicht zuletzt ist es entscheidend, dass auch das neue EU-Parlament das Ziel unterstützt, den EU-Ressourcenverbrauch zu reduzieren, um innerhalb der planetarischen Grenzen zu bleiben, und zwar insbesondere durch verbindliche Reduktionsziele der EU.

Wird sich die neue Europäische Kommission zu den Klimazielen bekennen?

Verschiedenen Umfragen zufolge wird sich der Europäische Rat im Juli 2024, aufgrund der jüngsten und der noch ausstehenden Wahlen auf Nationalstaatsebene, mehrheitlich aus Politiker*innen des rechten Spektrums zusammensetzen. Dies dürfte sich unmittelbar auf die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission auswirken, da die EU-Kommissare von den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten ernannt werden. Wie in den Verträgen vorgesehen, hat das Europäische Parlament ein Mitspracherecht bei der Ernennung von EU-Kommissar*innen und kann die Rücknahme der Nominierung einer*s designierten Kommissar*in beantragen, wenn die Anhörungen dementsprechend ausfallen.

Allerdings deuten die Prognosen für das neue Parlament auch auf eine Zunahme der Sitze für rechtskonservative Gruppen hin, die der Klimapolitik in der Regel skeptischer gegenüberstehen. Dies könnte im Vergleich zu den traditionellen Allianzen der etablierten Fraktionen zu neuartigen Mehrheiten und Zusammenschlüssen führen und somit Einfluss nehmen auf die Haltungen des Europäischen Parlaments in gewissen Politikbereichen, einschließlich des Green Deal.  

Umweltbezogene Diskussionen sind zu einem wiederkehrenden Element im Vorfeld der Europawahlen und allgemein auch in den nationalen Debatten geworden. Viele Faktoren tragen zu diesem Umstand bei: Die politischen Entscheidungsträger*innen können die zunehmende Intensität und Häufigkeit von Extremwetterereignissen, die (nicht nur) unseren Kontinent treffen, nicht einfach ignorieren, und der Druck seitens verschiedener Interessengruppen, zivilgesellschaftlicher Akteure und Bürger*innen ist nach wie vor hoch. Die Eurobarometer-Umfrage vom Juli 2023 zeigt, dass mehr als drei Viertel (77 Prozent) der Befragten den Klimawandel derzeit für ein sehr ernstes Problem halten, und 75 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel zu Innovationen führen werden, die die Wettbewerbsfähigkeit von europäischen Unternehmen verbessern.

Den Erwartungen nach bleibt der EGD auch in Zukunft zentral für die politischen Leitlinien der Europäischen Kommission und wird auch nach 2024 einen übergreifenden Rahmen für die EU darstellen. Offen ist, ob er sich auch zu einer Strategie für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit und zu einem regelrechten Paradigma entwickeln wird, an dem sich alle anderen Politikbereiche orientieren können. Selbst angesichts erheblicher politischer Veränderungen und neuer Allianzen ist es möglich, dass verschiedene Bereiche und Ansätze umgesetzt werden, die für künftige grüne politische Maßnahmen richtungsweisend werden. Um dies zu erreichen, sollten die politischen Entscheidungsträger*innen der EU folgende Handlungsbereiche priorisieren:

  • Es gilt, die Entwicklung von EU-Systemen bei der Lebensmittelproduktion und nachwachsenden Rohstoffen zu unterstützen, sodass sie eine nachhaltige und resiliente Grundlage für unsere Materialwirtschaft bilden.
  • Die Ziele bei Umwelt- und Klimaschutz müssten durch kohärente politische Maßnahmen und Umsetzungsmechanismen gestärkt und vereinheitlicht werden, sodass sich Klimaschutz und Schutz der biologischen Vielfalt nicht gegeneinander behindern.
  • Es muss sichergestellt werden, dass sich die ökologischen Konsequenzen gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen der EU auch auf globaler Ebene positiv auf die Nachhaltigkeit auswirken.

Lesen Sie unser Webdossier „The road to the 2024 European Parliament elections mit Einschätzungen aus den Büros der Heinrich-Böll-Stiftung und ihrer Partner zu den Wahlen des Europäischen Parlaments 2024, der nächsten EU-Legislaturperiode und dem „Superwahljahr“ 2024.