Jahresbericht 1997 der Heinrich-Böll-Stiftung

Aus der Reihe

Vorwort

Ein Jahr des Umbruchs und des Neuaufbaus

Am 1. Juli 1998 ist die neue Heinrich-Böll-Stiftung ein Jahr alt geworden. Es war ein aufregendes Jahr für die Organisation - und gewiß auch ein anstrengendes für alle Beteiligten: Nachdem die Fusion der drei alten grün-nahen Stiftungen rechtlich vollzogen war, begann der Aufbau der neuen Stiftung in der Mitte Berlins, in den Hackeschen Höfen. Allerdings konnten die meisten Räume erst Anfang dieses Jahres bezogen werden, so daß die MitarbeiterInnen der Hauptgeschäftsstelle erst seit wenigen Monaten gemeinsam vor Ort arbeiten. Nur das Archiv „Grünes Gedächtnis“ harrt noch des Umzugs nach Berlin, der 1999 erfolgen soll.

Daß sich die Stiftung schon nach wenigen Monaten einen Platz in der Öffentlichkeit der Bundeshauptstadt erobert hat, bewies der erste Tag der offenen Tür im Mai: Das Interesse an der Stiftung übertraf alle Erwartungen. Dies ist sicherlich auch auf die Eröffnung unserer Tagungsetage zurückzuführen. Die große „Galerie“ hoch oben unterm Dach der Hackeschen Höfe etabliert sich allmählich als Ort des Gesprächs und der Debatte. Mit diesem außergewöhnlichen Raum im Zentrum der Stadt hoffen wir eine größere Anziehungskraft und öffentliche Wirkung unserer Bildungsarbeit in Berlin erreichen zu können.

Eine neue Errungenschaft sind auch die „Nachrichten“, das vierteljährliche Periodikum der Heinrich-Böll-Stiftung. Die „Nachrichten“ sind ein Informationsorgan, mit dem wir uns und unsere Arbeit der Öffentlichkeit präsentieren. Über ihren Mitteilungscharakter hinaus beleuchten die „Nachrichten“ jeweils ein Schwerpunktthema  wie „Geschlechterdemokratie“ oder „Menschenrechte“ aus vielfältigen Perspektiven. Seit der ersten Ausgabe im Sommer 1997 mußte die Auflage immer wieder erhöht werden; im Moment liegt sie bei knapp 10000 Exemplaren je Heft - auch das ein Zeichen für das wachsende Interesse an der neuen Stiftung.

Nicht leicht fiel die Entscheidung für ein Logo, das hohen Erwartungen und Anforderungen gerecht werden muß. An der streckenweise kontroversen „Logo-Debatte“ zeigte sich, daß es in der Stiftung und in ihrem Umfeld durchaus unterschiedliche Vorstellungen über das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung der Stiftung gibt - eine neue „corporate identity“ muß sich noch im Prozeß der Strategiebildung herauskristallisieren. In einem Wettbewerb setzte sich der Entwurf der Agentur Grappa Blotto durch, dessen Umsetzung sie in diesem Bericht zum ersten Mal sehen können.

Auch an der Vorbereitung des Auftritts der Stiftung im Internet wird intensiv gearbeitet. Soweit der Stiftungsetat es erlaubt, wollen wir noch in diesem Jahr im Verbund mit den Stiftungs-Projekten „Kommunalpolitische Infothek“, „Feministisches Institut“ und „Grüne Akademie“ ins Netz gehen und damit ein weiteres Fenster öffnen, durch das die Kommunikation mit FörderInnen, InteressentInnen und Kooperationspartnern vereinfacht und intensiviert wird.

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist Teil eines globalen Netzwerks zivilgesellschaftlichen Engagements; zugleich ist sie selbst ein komplexes Gebilde, das aus einer Vielzahl von hauptund ehrenamtlichen Gremien und Akteuren zusammengesetzt ist. Wenn auch Planung und Entscheidung in der Stiftung zu zeitaufwendigen Prozessen geraten, so bezieht die HeinrichBöll-Stiftung doch gerade aus ihrer Offenheit und vielfältigen ehrenamtlichen Teilhabe ihre Legitimität. Dahinter steht auch die Überzeugung, daß die Stiftung ohne die Erfahrung und die Ideen aus der Gesellschaft und aus den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen nicht erfolgreich wäre. Das gilt ebenso für die wechselseitigen Anregungen aus der Zusammenarbeit mit den 16 Landesstiftungen, die mit der Bundesstiftung assoziiert sind. Die Heinrich-Böll-Stiftung braucht die Impulse und das Wissen ihrer Kooperationspartner, sie braucht die konzeptionelle Beratung durch die Fachbeiräte, und sie braucht den politischen Willensbildungsprozeß über die Schwerpunkte ihres Programms in den Strategiekonferenzen und der Mitgliederversammlung. Vor allem aber kann sie auf die Kompetenz, die Belastbarkeit und das Verantwortungbewußtsein ihrer hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bauen.

Angesichts dieser Vielzahl von AkteurInnen kann die Stiftung ohne klare Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen nicht auskommen. Dabei läßt sie sich von dem Grundsatz leiten, inhaltliche Entscheidung, Budgetverantwortung und administrative Durchführung möglichst eng zu verzahnen. Dabei spielen hauptamtliche „Programmteams“ eine zentrale Rolle. Sie dienen der Sichtung und der Vorauswahl von Projekten sowie der konzeptionellen Weiterentwicklung unserer Themenschwerpunkte. Sie sind die Scharniere zu den ehrenamtlichen Gremien (insbesondere den Fachbeiräten), den Kooperationspartnern und den Landesstiftungen. Entscheidungen über kleinere Projekte werden von den Programmteams selbst getroffen. Größere Vorhaben werden in einem konkurrierenden Verfahren beraten und vom Vorstand entschieden.

Wie gut die Mischung aus Partizipation und Effizienz in der Stiftung ist, das muß immer wieder überprüft werden. Alltägliche Arbeit und Organisationsentwicklung gehen Hand in Hand. Um die innovativen Potentiale zu fördern und die internen Prozesse zu optimieren, ist erst kürzlich eine Organisationsanalyse von einer externen Beratungsfirma durchgeführt worden. Der Abschlußbericht liegt inzwischen vor: Er attestiert der Stiftung eine respektable, von viel Engagement getragene Aufbauleistung und benennt zugleich fusionsbedingte Probleme in den Arbeitsabläufen. Über die Konsequenzen für Organisationsstruktur und Stellenplan wird in den nächsten Monaten entschieden.
Gemäß dem von der Mitgliederversammlung beschlossenen Personalplan sind die meisten Stellen besetzt worden, so daß zur Zeit etwa 140 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Bundesstiftung angestellt sind. Davon sind über 70 % Frauen, und auch die 10%-Quote für Migrantinnen und Migranten ist deutlich übertroffen.

Zu den Aufgaben, die wir verstärkt anpacken werden, zählt auch die Aktivierung und Erweiterung des Förderkreises der Stiftung, von dem wir uns zusätzliche ideelle und finanzielle Ressourcen versprechen.

Die Entwicklung eines unverwechselbaren Profils setzt sich fort in einer verstärkten inhaltlichen Schwerpunktbildung, die thematische Konzentration mit Offenheit für aktuelle Fragen verbindet. Als Kernthemen unserer In- und Auslandsarbeit sind zu nennen: „Nachhaltige Entwicklung und internationale Umweltpolitik“, „Zukunft der Arbeit und des Sozialen“, „Frauenemanzipation und Geschlechterdemokratie“, „Demokratische Partizipation und Menschenrechte“ und „Global Governance“ (die Frage politischer Steuerung und demokratischer Teilhabe über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus). Ein weiterer Schwerpunkt der Inlandsarbeit wird für die nächsten beiden Jahre das Thema „Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus“ sein. Kunst- und Kulturförderung bleiben integraler Bestandteil der politischen Bildungsarbeit.

Die internationale Entwicklungszusammenarbeit ist mit Abstand unser größter Arbeitsbereich. Zum Ende des Jahres 1997 hatte die Stiftung Kooperationsprojekte in 56 Ländern der Erde. Die Skala reicht dabei von Menschenrechtsorganisationen bis zu Frauenhäusern, von Medienprojekten bis zu Programmen zur Förderung nachhaltiger Landwirtschaft. Die in diesem Bericht exemplarisch vorgestellten Projekte stehen für viele andere. Bis Ende dieses Jahres steigt die Zahl unserer Auslandsbüros voraussichtlich auf 13, neu hinzu kommen Büros in Brüssel, Washington und Sarajevo, in Brasilien und Palästina. Neben der Projektentwicklung und -betreuung vor Ort liegen ihre Aufgaben vor allem in der Vermittlung von internationalen Kontakten und Diskussionen zwischen grün-alternativen Bewegungen und Organisationen sowie in der Politikbeobachtung.

Auch unser Verbindungsbüro in Köln dient dem Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen der Stiftung, den politischen Institutionen im Bonner Raum und den Projektpartnern. Das Büro führt auch Veranstaltungen zu aktuellen politischen Themen durch, z.B. zur Lage im Irak oder im Kosovo.

Noch ist nicht abschließend über die Ziele, die Strukturen und Arbeitsweisen der geplanten Grünen Akademie und des Feministischen Instituts entschieden worden. Beide befinden sich in einer vielversprechenden Versuchs- und Aufbauphase, die die zukünftige Gestalt sichtbar machen. Das Feministische Institut soll mit einem kleinen Team von Mitarbeiterinnen das Standbein für eine innovative Frauen- und Geschlechterpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung sein. Dazu wird es den Erfahrungsaustausch, die Diskussion und die Vernetzung von Frauen aus Wissenschaft, Weiterbildung, Politik und Gesellschaft organisieren. Politikberatung ist eine weitere Aufgabe. Noch im Herbst wird das Feministische Institut virtuell: In Form eines interaktiven Frauenforums ist es weltweit mit feministischen Forschungen vernetzt und für die Kommunikation und Weiterbildung von Frauen nutzbar. Die Grüne Akademie soll ein Ort für den Erfahrungs- und Gedankenaustausch von politisch interessierten Intellektuellen und theoretisch interessierten PolitikerInnen sein. Sie ist als „Mitglieder-Akademie“ geplant, in der ehrenamtliche Mitglieder aus verschiedenen Disziplinen und Wissenskulturen an theoretisch-politischen Fragestellungen arbeiten, unterstützt von einem kleinen hauptamtlichen Stab. Über die Selbstverständigung ihrer Mitglieder hinaus soll sich die Akademie in reformpolitischer Absicht an die politische Öffentlichkeit wenden. „Thematische Leitplanken“ für die ersten Jahre sollen „Demokratie“ und „Nachhaltigkeit“ sein.

Das vergangene Jahr war nicht nur ein Jahr des Neuanfangs; auf Gedenkveranstaltungen hatte die Stiftung auch die Gelegenheit, sich ihres Erbes und dreier großer Persönlichkeiten zu erinnern, die mit den Anfängen der grün-nahen Stiftungen verbunden sind: Heinrich Böll, Lew Kopelew und Petra Kelly. Heinrich Böll wäre achtzig Jahre alt geworden, und eine Matinee machte noch einmal bewußt, wie sehr sein Urteil und sein Engagement in der Berliner Republik fehlen. Lew Kopelew verstarb im Frühjahr 1997, er war Mitbegründer der Heinrich-Böll-Stiftung und unermüdlich in seinen Bemühungen um Verständigung zwischen Russen und Deutschen. An das Wirken von Petra Kelly erinnerte anläßlich ihres 50. Geburtstags eine Veranstaltung in Bonn. Ihr zu Ehren hat die Heinrich-Böll-Stiftung einen Petra-Kelly-Preis ausgeschrieben. Er wird am 6. November 1998 in Berlin zum ersten Mal verliehen - und zwar an die Unrepresented Nations and Peoples Organization. Sie vertritt indigene und unterdrückte Völker und Minderheiten, die nicht in den internationalen Körperschaften, wie z.B. der UNO, vertreten sind.

Zum Schluß noch ein Wort des Dankes an die vielen Ehrenamtlichen der Stiftung, die Förderinnen und Förderer, die VertreterInnen von Bündnis 90/Die Grünen, die Freundinnen und Freunde: ein Dankeschön für ihr Engagement und ihre Geduld, ihr Vertrauen und ihre Ermutigung.

Berlin, im August 1998

Vorstand der Heinrich Böll Stiftung

Ralf Fücks
Dr. Claudia Neusüß
Petra Streit

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
August 1998
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung e.V.
Seitenzahl
70
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Die Landesstiftungen der Heinrich-Böll-Stiftung
  • Die Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung im Inland
  • Die Literatur- und Künstlerförderung
  • Das Heinrich-Böll-Archiv
  • Media Watch und Medienpolitik
  • Die Auslandsarbeit der Heinrich-Böll-Stiftung
  • Archiv Grünes Gedächtnis
  • Gedenken
  • Die Gemeinschaftsaufgaben Geschlechterdemokratie und Migration
  • Die Projekte und ProjektpartnerInnen der Heinrich-Böll-Stiftung
  • Gremien
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