Jahresbericht 1998 der Heinrich-Böll-Stiftung

Aus der Reihe

Vorwort

Mehr Zeit für die eigentlichen Aufgaben

Es ist Bewegung gekommen in die Republik. Kaum ein Tag vergeht in diesen Wochen, daß nicht ein Bonner Politiker mit einem Umzugskarton in den Zeitungen abgebildet wird. Während die Ministerien, Parteien und Fraktionen sich langsam in der Hauptstadt einrichten, kann die Heinrich-Böll-Stiftung schon auf zwei ereignisreiche Jahre in den Hackeschen Höfen zurückblicken. Es liegt aber vor allem an einem besonderen Datum, daß Bewegung in die Republik gekommen ist: Am 27. September 1998 ist zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Regierung in Bonn abgewählt und durch eine vollständig neue ersetzt worden. Daher zeugt diese Bundestags-Wahl von einer weiteren Reifung der deutschen Demokratie und ihrer politschen Kultur. Mit der Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen hat sich natürlich auch die Situation für die Heinrich-Böll-Stiftung in einigen Punkten geändert. Die Öffentlichkeit schaut mit größerer Aufmerksamkeit auf unsere Aktivitäten, die Erwartungen werden von vielen Seiten höhergeschraubt und unsere Auslandsbüros gelegentlich mit Dependancen von Bündnis 90/Die Grünen verwechselt; gleichzeitig kommt es vor, daß langjährige Partner der Stiftung sich aus Protest gegen die Politik der rot-grünen Regierung zurückziehen. All dies bedeutet eine weitere Herausforderung an unser Engagement, unsere Profilierung und Professionalisierung sowie unsere Außendarstellung.

Nach zwei Jahren turbulenter Aufbauzeit ist die Stiftung nun zu einer festen Adresse am Hackeschen Markt geworden. Das liegt zu einem guten Teil an der „Galerie“, unserem Veranstaltungsort hoch oben unterm Berliner Himmel, der immer häufiger genutzt und frequentiert wird; zu einem anderen Teil liegt es an der Arbeit selbst, denn nach den vielen kleinen Schritten bei Umbau und Umstrukturierung bleibt nun mehr Zeit für unsere eigentlichen Aufgaben, und damit wächst das Interesse an Kommunikation und Kooperation. Es ist unserem Bemühen um Profilierung und Effizienz geschuldet, daß wir unseren Umgang mit Projektanträgen geändert haben, denn deren große Zahl machte ein aufwendiges Prüfungsverfahren notwendig, daß zuletzt in keinem Verhältnis mehr stand zu den tatsächlich finanzierbaren Kooperationen. Fortan definiert die HeinrichBöll-Stiftung im Rahmen ihrer programmatischen Schwerpunkte die Schlüsselprojekte ihrer politischen Bildungsarbeit selbst und sucht sich dazu passende Kooperationspartner. Die Schwerpunkte unserer Arbeit finden Sie in den ersten Kapiteln dieses Jahresberichts wieder; darin stellen wir Ihnen einige exemplarische Projekte und Partnerschaften vor, so daß Sie einen guten Überblick über die Arbeit der Stiftung im letzten Jahr gewinnen können. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung schlägt sich natürlich auch in der Haushaltsplanung nieder: Rund 80% des Budgets für Projekte im Inland sind per se für Vorhaben innerhalb der Schwerpunkte vorgesehen, die restlichen 20% bleiben reserviert für unvorhergesehene, aktuelle Projekte. Ohne Konzentration und Kontinuität im Bildungs- und Informationsangebot können politisches Profil, inhaltliche Kompetenz und nachhaltiger Erfolg nicht erreicht werden. Deshalb haben wir auch im letzten Jahr vermehrt von Einzelveranstaltungen Abstand genommen und unsere Aufmerksamkeit auf Verbundprojekte und Veranstaltungsreihen gerichtet. Als Beispiele seien hier nur aufgezählt: die „Ökosteuer-Kampagne“, die Bildungspolitischen Fachgespräche, die vielen Veranstaltungen zur Währungsunion und europäischen Integration, die Tagungen zu der Frage „Tickt der Osten wirklich anders?“ oder der zweite Kongreß „Zur Zukunft der Arbeit“, dem noch weitere folgen werden. Komplettiert und wesentlich bereichert wird unser Programm z.B. aber von zwei aktuellen Wettbewerben: „Modellprojekte gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit“ und die „2000er-Frage“ (unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama). Beide Wettbewerbe haben im vergangenen Jahr ihren Ausgang genommen, ihre Ergebnisse schlagen sich jedoch erst in diesem Jahr nieder. Besonders erwähnenswert: Im November verlieh die Heinrich-Böll-Stiftung zum ersten Mal den mit 20.000 DM dotierten Petra-Kelly-Preis an die Unrepresented Nations and Peoples Organization. Alle zwei Jahre wird die Stiftung nun eine Person oder Gruppe ehren, die in der ideellen und politischen Tradition Petra Kellys Außergewöhnliches leistet. Eine feste Einrichtung ist seit dem vergangenen Jahr auch der „Sommercampus“ des Studienwerks. Der erste fand in Hamburg statt und bündelte zu dem Thema „Interkulturalität“ verschiedene Seminar- und Qualifikationsangebote.

Der Willensbildungs- und Planungsprozeß innerhalb der Stiftung ist durch die Einrichtung von fünf Programmteams vereinfacht worden; dies sind im einzelnen: „Zukunftsfähige Entwicklung (Ökologie & Soziales)“, „Demokratie und Zeitgeschichte“, „Internationale Politik“, „Kunst, Kultur, Medien“ sowie „Jugend, Bildung, Wissenschaft“. Diese Programmteams üben „Querschnittsfunktionen“ aus, d.h. es sind die maßgeblichen Abteilungen sowie Landesstiftungen darin vertreten. Aufgabe der Programmteams ist es vor allem, Projekte zu konzipieren, zur Entscheidung vorzubereiten und die Durchführung zu gewährleisten. Jedem Programmteam ist ein Referent als Koordinator und mindestens ein Sachbearbeiter zugeordnet. Wir sind zuversichtlich, daß sich diese Organisations- und Arbeitsform bewähren wird - vor allem in Hinblick auf die Zusammenarbeit mit unseren Landesstiftungen. Die gestiegene Zahl an Bund-Länder-Kooperationen ist ein erstes Indiz dafür.

Seit einem Beschluß der Mitgliederversammlung im vergangenen Jahr sind das „Feministische Institut“ und die „Grüne Akademie“ nun feste Träger der politischen Bildungsarbeit in der Heinrich-Böll-Stiftung. Das Feministische Institut ist als „feministischer think tank“ und Teil eines internationalen Netzwerks für Frauenforschung und Frauenpolitik konzipiert. Im virtuellen Institut GLOW ist es schon im Internet präsent, mit dem Kongreß „Wie weit flog die Tomate?“, einer 68erinnen-Gala der Reflexion, hat es schon mit großem Erfolg auf sich aufmerksam gemacht. Die Grüne Akademie, als ehrenamtliche „Mitglieder-Akademie“ im Aufbau, hat sich mittlerweile einen Vorstand gegeben. Die Arbeitsschwerpunkte sind „Europa 2010“ und „Zukunftstechnologien“. Dazu finden im laufenden Jahr einige Workshops statt. Eine herausragende Veranstaltung mit dem alternativen Nobelpreisträger Prof. HansPeter Dürr ist als Sonderdruck der Zeitschrift Kommune erschienen. Auch die Akademie ist schon im Internet zu finden.

Im Verbund mit den beiden eben erwähnten Stiftungs-Projekten sowie der „Kommunalpolitischen Infothek“ hat die Stiftung nun auch eine eigene „Homepage“ im Netz. Die Zugriffzahlen waren schon in den ersten Monaten kolossal, so daß wir uns für das sich täglich erweiternde Angebot im Internet einiges an öffentlichem Interesse und Neugier versprechen.

Den gleichen Namen wir unser Internet-Auftritt, nämlich „www.boell.de“, trägt nun auch unser Stiftungsperiodikum (ehemals „Nachrichten“). Es war sein großer Erfolg, der uns dazu zwang, das Erscheinen auf zwei Hefte im Jahr zu reduzieren. Denn die Auflage ist auf 18.000 Exemplare angestiegen - eine sehr große Zahl für ein kostenlos vertriebenes, umfangreiches Informationsorgan.
Um den Förderkreis der Heinrich-Böll-Stiftung zu erweitern und zu aktivieren ist eigens eine hauptamtliche Stelle eingerichtet sowie eine fünfköpfige Gruppe von Förderkreismitgliedern gewählt worden. Diese sollen mögliche eigene Aktivitäten des Förderkreises koordinieren. Zur Zeit unterstützt der Förderkreis mit seinen Mitteln u.a. das Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich und das Projekt „Städte der Zuflucht“.

Gemäß den Vereinbarungen zwischen den politischen Stiftungen in der Bundesrepublik steigt der Anteil der Heinrich-Böll-Stiftung am Gesamtbudget in dieser Legislaturperiode noch auf 11,66%. Angesichts der zu erwartenden immensen Kürzungen im Bundeshaushalt kann allerdings nur noch in diesem Jahr mit einer Steigerung unseres Etats gerechnet werden - und zwar auf fast 68 Millionen DM für 1999. Ab dem Jahr 2000 muß dann auch die Heinrich-Böll-Stiftung mit zurückgehenden Bundeszuschüssen rechnen. Die Stiftung wird versuchen, die Einbußen durch Erschließung neuer Finanzquellen zu kompensieren. Gemäß dem von der Mitgliederversammlung beschlossenen Personalplan sind die meisten Stellen besetzt worden, so daß mit Ablauf des Jahres 1998 147 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Bundesstiftung angestellt waren. Davon sind über 70 % Frauen, und auch die 10%-Quote für Migrantinnen und Migranten ist deutlich übertroffen worden. Die Stiftung wird in diesem Herbst weitere Büro-Räume in den Hackeschen Höfen anmieten müssen, um allen einen angemessenen Arbeitsplatz bieten zu können.

Einen besonderen Augenmerk möchten wir noch auf unsere Auslandsabteilung richten. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit bleibt selbstverständlich der mit Abstand größte Arbeitsbereich: Zum Ende des Jahres 1998 hatte die Stiftung Kooperationsprojekte in bald 60 Ländern der Erde. Auch für unsere Auslandsarbeit ist der Regierungswechsel nicht ohne Bedeutung, eröffnen sich doch nun durch die Akzentverschiebungen in den entsprechenden Ministerien die politischen Möglichkeiten, neue Impulse in der Auslandsarbeit zu setzen bzw. weiterzuentwickeln. Dies betrifft z.B. Themen wie „Menschenrechte“ und „zivile Konfliktbearbeitung“, „internationale Umwelt- und Strukturpolitik“. Es wird aber gewiß nicht ausbleiben, daß unsere Auslandsarbeit rot-grüner Politik auch kritisch Anstöße gibt. Dies kann z.B. bei einem der Schwerpunkte unseres Brüsseler Büros der Fall sein: bei der Frage nach einer europäischen Sicherheitsarchitektur, der Zukunft der NATO und dem Ausbau institutioneller Ebenen ziviler Konfliktbearbeitung. Die Themen „Globalisierung“ und „Global Governance“ sind Arbeitsschwerpunkts des Büros in Washington, mit einem speziellen Fokus auf internationale Wirtschaftspolitik und die Reform des UN-Systems. Im vergangenen Jahr konnte neben den beiden erwähnten Büros eines in Tel Aviv eröffnet werden, zwei weitere in Ramallah und Sarajevo folgten Anfang dieses Jahres. Brasilien und Thailand sind die nächsten Länder, wobei das Büro in Thailand (neben dem existierenden in Pakistan) der steigenden wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Asiens Rechnung trägt. Die Eröffnung des Büros in Sarajevo fand kurz nach dem Ende des Kosovo-Krieges mit grossem öffentlichen Interesse statt. Dort sollen unsere Aktivitäten zur Förderung von Demokratie und Zivilgesellschaft im gesamten Raum des ehemaligen Jugoslawien koordiniert werden. Sobald die Umstände es erlauben, werden wir uns auch beim Neuaufbau im Kosovo engagieren.

Seit einiger Zeit erfährt die Auslandsarbeit der Stiftung eine kontinuierliche Umstrukturierung: Einzelprojekte werden zu regional-thematischen Programmen zusammengefaßt. Dies ermöglicht u.a. einen besseren fachlichen und politischen Austausch der Projektpartner untereinander wie mit der Stiftung. Planung, Steuerung und Abwicklung dieser Programme sollen in Zukunft stärker über die Auslandsbüros erfolgen. Dadurch wird ein Kontakt zwischen Projektpartnern und Stiftung intensiviert und zudem die Berliner Zentrale entlastet. An dieser Stelle möchten wir schon auf unseren nächsten „Auslandsbericht“ hinweisen: Er erscheint zu Beginn des nächsten Jahres und gibt eine Übersicht über das gesamte Spektrum der Arbeit der Heinrich-Böll-Stiftung im Ausland.

Zum Schluß wie stets gern ein Wort des Dankes an die vielen Ehrenamtlichen der Stiftung, die Förderinnen und Förderer, die Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen, die Freundinnen und Freunde: ein Dankeschön für ihr Engagement und ihre Geduld, ihr Vertrauen und ihre Ermutigung.

Berlin, im Juli 1999

Vorstand der Heinrich Böll Stiftung

Ralf Fücks
Dr. Claudia Neusüß
Petra Streit

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
Juli 1999
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
73
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Nachhaltige Entwicklung und internationale Umweltpolitik
  • Zukunft der Arbeit und des Sozialen
  • Geschlechterdemokratie und Feminismus
  • Demokratische Partizipation und Menschenrechte
  • Zeitgeschichte, Zukunft der Demokratie und Global Governance
  • Kunst, Kultur und Medien
  • Politikmanagment vor Ort
  • Studienwerk
  • Feministisches Institut
  • Grüne Akademie
  • Archiv Grünes Gedächtnis
  • Gremien
  • Die Projekte und Projektpartner der Heinrich-Böll-Stiftung sowie die Gäste
  • Vorläufige Einnahmen und Ausgabenrechnung 1998
  • Publikationen der Heinrich-Böll-Stiftung
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