Jahresbericht 1999 der Heinrich-Böll-Stiftung

Aus der Reihe

Vorwort des Vorstandes

Weltoffen und zukunftsorientiert

Noch fällt es schwer, die Veränderungen in unserer politischen Kultur begrifflich festzumachen. Da es diese Veränderungen gibt, ist offenkundig. Ihre Triebkräfte werden mit Schlagwörtern wie "Globalisierung", "Internet-Revolution" oder "New Economy" umrissen. Tatsächlich hat die Politik Probleme, die rasanten technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwandlungsprozesse in einem adäquaten Orientierungs- und Handlungsrahmen zusammenzuhalten. Dieser Rahmen könnte mit den Leitbegriffen "Nachhaltigkeit" und "Erneuerung der Demokratie" skizziert werden. An diesen Koordinaten für eine zukunftsfähige Politik und Gesellschaft zu arbeiten, das ist eine der zentralen Aufgaben, der sich die Heinrich-BöllStiftung widmet.

Auch die politische Bildung ist im Umbruch. Zwar gibt es weiterhin Bedarf an den klassischen Aufgaben politischer Bildung - Qualifizierung für ehrenamtliches Engagement, Politikberatung, gesellschaftliche Aufklärung durch Information und kritische Diskussion -, aber die Inhalte und Formen dieser Bildungsarbeit haben sich verändert. Für eine politische Stiftung wie die unsere sind neue Aufgaben dazugekommen: internationale Förderung von Demokratie und zivilgesellschaftlichen Initiativen, Dialog der Kulturen, Zukunftswerkstatt, Anstöße für neue politische Konzepte und Strategien. Einen Teil unserer Arbeit des vergangenen Jahres finden Sie in den einzelnen Kapiteln dieses Jahresberichts wieder; darin stellen wir Ihnen einige exemplarische Veranstaltungen, Projekte und Partnerschaften vor, so dass Sie eine gute Übersicht über das Engagement der Stiftung gewinnen können.

"Vergangenheitspolitik", die kritische Auseinandersetzung mit zeithistorischen Themen und ihrer Rezeption, gehört zu den Kernaufgaben der Heinrich-Böll-Stiftung. Ohne bewusstes Verhältnis zur Vergangenheit, keine bewusste Gestaltung der Zukunft. Gleichzeitig geht unser Blick nach vorn. In den letzten Jahren haben wir begonnen, Veranstaltungsreihen zu zentralen Zukunftsfragen aufzubauen - wie die Konferenzen zur "Zukunft der Arbeit", die bildungspolitischen Fachgespräche, die "Außenpolitische Jahrestagung" oder das "Entwicklungspolitische Forum".

Im Dezember 1999 fand die erste "Außenpolitische Jahrestagung" statt. Von nun an soll jährlich ein strategisches Thema der deutschen und europäischen Außenpolitik in einem international besetzten Forum aus Politik, Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen zur Diskussion gestellt werden. Wir wollen damit einen Beitrag zur Herausbildung einer "außenpolitischen Kultur", zur Aneignung außenpolitischer Fragen durch das grüne Spektrum und zum Dialog zwischen Regierung und kritischen gesellschaftlichen Gruppen leisten.
Das "Entwicklungspolitische Forum" dient der Bestandsaufnahme und vor allem der Weiterentwicklung entwicklungspolitischer Konzeptionen, die der von der rot-grünen Bundesregierung in Aussicht gestellte Wandel zu einer "internationalen Strukturpolitik" erforderlich macht. In diesen Zusammenhang gehört auch die Studie zur "Global Governance", die die HeinrichBöll-Stiftung (in Zusammenarbeit mit WEED) in Auftrag gegeben hat. Mittlerweile liegt die Studie als Buch vor.

Mit der Frage nach einer nachhaltigen Ökonomie beschäftigten sich die große internationale Konferenz "Beyond Growth" sowie die Studie "Energiewende 2020", eine Arbeit des Ökoinstituts im Auftrag der Stiftung. Die Ergebnisse - eine Energiewende ist möglich! - liegen seit kurzem vor.

Unser besonderes Augenmerk gilt der Entwicklung des Studienwerks, das unter dem Stichwort "Eliten im Grünen" den akademischen Nachwuchs fördert. Mit Promovierenden-Kollegs, Kolloquien und dem jährlichen "Sommercampus" trägt das Studienwerk zum Bildungsprogramm der Gesamtstiftung bei.

Auch unsere internationale Arbeit strebt zu neuen Ufern. Wir werden schrittweise die Aktivitäten in China ausbauen, um dort die zivilgesellschaftlichen Ansätze und eine nachhaltige Entwicklung zu fördern und die Kenntnisse über den rasanten gesellschaftlichen Wandel Chinas in der Bundesrepublik zu verbessern. In diesem Sinne soll der Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen intensiviert werden. Der Einstieg gelang mit einer Veranstaltungsreihe zum Thema "Stadtentwicklung" in einer Kooperation mit dem chinesischen Architekturverband. Dem folgen soll die Zusammenarbeit mit chinesischen Frauenorganisationen. Ins Auge gefasst ist auch ein Projektbüro der Stiftung in Peking. Gleichzeitig werden wir die traditionelle Zusammenarbeit mit den Tibetern fortsetzen - auch mit Projekten in Tibet selbst. Im Juni letzten Jahres war der Dalai Lama als Gast der Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland, um für eine friedliche Lösung des Tibetkonfliktes zu werben.

Einen besonderen Stellenwert in der Auslandsarbeit hat momentan Südosteuropa. Wenige Tage nach der Vereinbarung über den Rückzug der serbischen Armee und der Errichtung einer internationalen Verwaltung im Kosovo eröffnete die Stiftung ein Regionalbüro in Sarajevo. Dies ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil die Stiftung in einem Umfang von jährlich ca. 2,2 Millionen DM bis 2003 am Balkanstabilitätspakt partizipiert. Wir arbeiten zur Zeit an einem Programm, das an die bisherigen Partnerstrukturen und Schwerpunkte anknüpft: Menschenrechte und Demokratie, Ökologie (da vor allem der Aufbau einer zukunftsorientierten Energieversorgung), Frauenrechte, multiethnische Zusammenarbeit und europäische Integration. Zur kritischen Begleitung der Erweiterung der europäischen Union und den damit verbundenen Integrations- und Grenzfragen hat die Stiftung in Prag eine Koordinationsstelle eingerichtet.

Die verstärkten Aktivitäten der Heinrich-Böll-Stiftung in Südostasien finden ihren Niederschlag in der Eröffnung eines Büros in Chiang Mai (Thailand). Das Büro in Lahore (Pakistan) konzentriert sich auf die Zusammenarbeit mit den Partnern in Südasien und wird dabei künftig von einer Kontaktstelle in Neu Delhi (Indien) unterstützt. Ein Arbeitsschwerpunkt beider Büros liegt im Ausbau des europäisch-asiatischen Dialogs zu Themen wie Nachhaltigkeit und Globalisierung. Auch im größten Land Südamerikas, in Brasilien, hat die Stiftung kürzlich ein Regionalbüro eingerichtet, um dort die große Zahl von Projektpartnern besser betreuen zu können. Insgesamt arbeitet die Heinrich-Böll-Stiftung mit rund 140 Projektpartnern in annähernd 60 Ländern zusammen.

Die Heinrich-Böll-Stiftung baut im politisch-kulturellen Reizklima Berlins auch in Zukunft auf die authentische Information und Diskussion in Tagungen und Foren. Gleichzeitig bemühen wir uns, auch andere Formen der politischen Einmischung und Bildung weiter zu entwickeln: vor allem durch Publikationen und neue Medien - z.B. durch unseren eigenen Internetauftritt www.boell.de, die Webpage des Feministischen Instituts www.glow-boell.de, oder die "kommunalpolitische Infothek" www.kommunale-info.de. Die Grüne Akademie, www.grueneakademie.de, und das Feministische Institut sind neue Arbeitsformen unter dem Dach der Stiftung, die vor allem unsere Kapazitäten als "Think Tank" zu Zukunftsfragen stärken sollen.

Das Feministische Institut ist als Teil eines internationalen Netzwerks für Frauenforschung und Frauenpolitik konzipiert. Mit dem virtuellen Ableger GLOW ist das Feministische Institut im Internet präsent und bietet dort eine Menge von Kontakten und Diskussionsforen an. Die Grüne Akademie, als ehrenamtliche "Mitglieder-Akademie" durch die konstituierende Mitgliederversammlung im Juni letzten Jahres nun fest installiert, bearbeitet die Themen "Europa 2010" und "Zukunftstechnologien" und plant dazu Veranstaltungen und Publikationen.

Erfreulicherweise konnte ein Mietvertrag für den neuen Standort des Archivs Grünes Gedächtnis in Berlin endlich unter Dach und Fach gebracht werden. Damit wird der Umzug der "Stiftungsfamilie" nach Berlin abgeschlossen. Das Archiv bezieht sein neues Domizil in der Eldenaer Straße voraussichtlich in der Mitte nächsten Jahres.

Das wichtigste Projekt der Organisationsentwicklung in der Heinrich-Böll-Stiftung, die Einführung eines neuen Projektverwaltungsprogramms, ist in den letzten Monaten zügig vorangekommen und nun in eine entscheidende Phase getreten. Wir versprechen uns davon eine deutliche Vereinfachung der administrativen Abläufe und ein höheres Maß an Datentransparenz. Damit wird auch ein zeitnahes Controlling möglich. Eine entsprechende Rahmenbetriebsvereinbarung für IT-Systeme ist unterschrieben, mehrere Einzelbetriebsvereinbarungen werden bald folgen.

Im Haushaltsjahr 2000 ist das Gesamtbudget der politischen Stiftungen von erheblichen, überproportionalen Kürzungen im Bundeshaushalt betroffen. Da jedoch der Anteil der Heinrich-Böll-Stiftung an diesem Gesamtbudget gemäß dem vereinbarten Verteilungsschlüssel in dieser Legislaturperiode von 10% auf 11,66% ansteigt, können wir mit einem neuen Rekordhaushalt von ca. 70 Millionen DM rechnen. In den nächsten Jahren sind leicht zurückgehende Bundeszuschüsse zu erwarten. Die Stiftung hat sich in ihrer mittelfristigen Finanz- und Personalplanung darauf eingestellt. Gleichzeitig verstärken wir unsere Bemühungen zur Einwerbung von Drittmitteln und privaten Spenden. Mit Ablauf des Jahres 1999 waren 168 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (61 in Teilzeitstellen) bei der Bundesstiftung angestellt. Davon sind über 70% Frauen, und auch die 10%-Quote für Migrantinnen und Migranten ist übertroffen worden.

Zwar ist der Förderkreis der Heinrich-Böll-Stiftung in den letzten Jahren im Gefolge der Fusion der Vorgängerstiftungen und des Umzugs nach Berlin geschrumpft, doch ist durch intensive Betreuung und die Wahl eines Koordinationsgremiums aus diesem Kreis die Bedeutung der Förderinnen und Förderer gewachsen. Mit den Mitteln des Förderkreises wird die Heinrich-Böll-Stiftung in die Lage versetzt, Einzelpersonen zu unterstützen und Projekte zu fördern, wo eine Unterstützung mit öffentlichen Mitteln versagt bleibt. So konnten zuletzt z.B. dem politisch bedrängten Menschenrechtsaktivisten Wassil Bykau aus Weißrußland geholfen und Ferienprojekte für Flüchtlingskinder aus Bosnien und Kosovo unterstützt werden. Mit Hilfe des Koordinationsgremiums will die Stiftung versuchen, neue Mitglieder für den Förderkreis zu gewinnen.

Unser besonderer Dank gilt den vielen Ehrenamtlichen der Stiftung, den Förderinnen und Förderern und den Freundinnen und Freunden von Bündnis 90/Die Grünen, die unsere Arbeit unterstützen und begleiten: ein Dankeschön für ihr Engagement und ihre Geduld, ihr Vertrauen und ihre Ermutigung.

Leider haben wir in den vergangenen Monaten gleich mehrmals Abschied von uns nahestehenden Personen nehmen müssen. Im Mai letzten Jahres starb der Schriftsteller Jürgen Fuchs. Er war lange Zeit als Ehrenamtlicher der Stiftung verbunden, einige Jahre gar als Vorstandsmitglied der alten Heinrich-Böll-Stiftung. Im Juni gedachten enge Freunde, die Stiftung und weitere Organisationen seiner Person in einer eindrucksvollen Veranstaltung in der Akademie der Künste. Im November starb unsere Kollegin Barbara van der Heyden. Sie war von Anfang an in der neuen Heinrich-Böll-Stiftung dabei und hat den Einzug in die Hakkeschen Höfe vorbereitet. Später begann sie mit dem Aufbau einer Stiftungsbibliothek. Im Januar starb unsere Kollegin Gunda Werner. Sie war Mitbegründerin und leitende Mitarbeiterin der Frauen Anstiftung in Hamburg und hatte großen Anteil an der Integration der "Gemeinschaftsaufgabe Geschlechterdemokratie" in die neue Stiftung. Im vergangenen Monat Juni starb unser Kollege Rudi Wildenmann. Er hat sich als Osteuropa-Referent vor allem um die Förderung des ökologischen Landbaus in Mittelosteuropa verdient gemacht und war Mitglied des Aufsichtsrates der Stiftung. Allen Angehörigen der Verstorbenen gilt unser Mitgefühl.

Berlin, im Juli 2000

Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Ralf Fücks
Dr. Claudia Neusüß
Petra Streit

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
Juli 2000
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
78
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
  • Nachhaltige Entwicklung und Internationale Umweltpolitik
  • Zukunft der Arbeit und des Sozialen 
  • Geschlechterdemokratie und Frauenpolitik
  • Migration und demokratische Partizipation 
  • Menschenrechte, Zeitgeschichte und Zukunft der Demokratie 
  • Kunst, Kultur und Medien 
  • Kommunalpolitische Infothek 
  • Studienwerk 
  • Feministisches Institut
  • Grüne Akademie 
  • Archiv Grünes Gedächtnis
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