Reformpolitik und Reformkommunikation. Erfahrungen mit der Agenda 2010

Das Misstrauen gegenüber Reformen ist groß. Gleichwohl wissen wir, dass des Reformierens noch kein Ende sein kann. Wie können Reformen gelingen? Mit einem Blick auf die Agenda 2010 debattierten Expertinnen und Experten im Werkstattgespräch Erfahrungen und Erfolgsbedingungen von Reformkommunikation und Reformpolitk. ➤ Aktuelle Beiträge zur Grünen Akademie.

Werkstattgespräch und Podiumsdebatte der Grünen Akademie 20. Februar 2009

EINLEITUNG

Reformen tragen Merkmale organisatorischen Wandels. Angesichts der finanziellen und emotionalen Betroffenheit in der Bevölkerung und einem schwindenden Vertrauen in die Politik bedürfen sie einer besonderen Kommunikation. Denn entgegen der Annahme „gute Kommunikation“ sei lediglich ein Appendix „guter Politik“, können Fehler in der Kommunikation ein erstrebenswertes politisches Ziel schnell zum Scheitern bringen. Mit Blick auf das rot-grüne „Projekt“ und der misslungenen Vermittlung der Agenda 2010 beschäftigte sich die Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit der degepol, der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung e.V., am 20. Februar 2009 mit der Frage, wie Reformpolitik und ihre Erzählung gelingen kann. 

Offene Fragen – das Werkstattgespräch und die Podiumsdebatte

Fehlt es der Politik an einer Vision, die als Rahmen für diese Erzählung gelingen kann? Und wie wesentlich waren im speziellen Fall der Agenda 2010 die Probleme der Vermittlung? Mit diesen und ähnlichen Themen beschäftigten sich geladene Vertreter und Vertreterinnen aus Politik, Wissenschaft und Medien unter der Moderation von degepol-Vorstand Heiko Kretschmer im Werkstattgespräch. Im ersten Teil erfolgte eine wissenschaftliche Analyse von Reformpolitik, im zweiten ein Blick in die Praxis der Agenda 2010, um im dritten einen Ausblick auf Reformpolitik und -kommunikation für den kommenden Wahlkampf zu geben.

In der für Zuschauer offenen Podiumsdebatte am Abend diskutierten dann die Politiker Björn Böhning und Thea Dückert, der Journalist Daniel Friedrich Sturm und der Politikwissen-schaftler Christoph Egle unter der Moderation von Ralf Fücks die Frage, inwiefern Reformpolitik reiner Verkaufs- und Sachzwangrhetorik unterliege und ob sie angesichts der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise überhaupt noch Antworten bieten kann.  

WERKSTATTGESPRÄCH

1. Reformpolitik  - ein Kommunikationsproblem?

Ist Reformpolitik vor allem ein Kommunikationsproblem? Mit dieser Fragestellung leitete Ralf Tils, Politikwissenschaftler am Zentrum für Demokratieforschung in Lüneburg, das Werkstattgespräch ein, um sie sogleich zu negieren. Reformpolitik, so seine These, sei vielmehr ein Frage der politischen Strategie. Nach Tils Definition des Strategiebegriffs als „erfolgsorientierte Konstrukte, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen beruhen“, ergeben sich für eine Regierung daher vier reformpolitische Strategieanforderungen: die Organisationssteuerung, die Problempolitiksteuerung, die Konkurrenzpolitiksteuerung sowie die Kommunikationssteuerung – Prozesse, die in der Realität zeitgleich ablaufen müssen. In Bezug auf die Reform der Agenda 2010 wies Tils massive Fehler der Regierung Gerhard Schröder in allen vier Bereichen nach. Zentral für das Scheitern der SPD sei letztlich aber die Entkopplung der Organisationssteuerung (Die SPD war programmatisch unvorbereitet, Zustimmung gelang nur unter Zwang) mit der Problempolitiksteuerung (die Agenda wies eine zu große Themen- und Zielvielfalt und  soziale Asymmetrien auf) gewesen. Sein Fazit: Bevor Schröder am Wähler scheiterte, scheiterte er in seiner Partei.

Verschiedene Erfolgsdimensionen

In der anschließenden Debatte unter den etwa 30 zum Werkstattgespräch erschienenen Gästen wurde vor allem die Frage, woran sich der Erfolg einer Reform misst, kontrovers diskutiert. In der Durchsetzungsdimension sei die Agenda 2010, so der Münchner Politikwissenschaftler Christoph Egle, durchaus sehr erfolgreich gewesen, in der Akzeptanzdimension dagegen nicht. Erfolge auf letzterer hätten aber erhebliche Abstriche auf der Durchsetzungsebene erfordert. Friedbert Rüb, Professor an der Uni Hamburg, wollte hinsichtlich der Bewertung weitaus früher ansetzen: Erfolg sei, wenn eine neue Wirklichkeitsauffassung in den Köpfen der Menschen ankomme. Die globalisierte Welt verändere sich rasant. Bei Parteien, Verbänden und auch in der Bevölkerung herrsche aber weiterhin ein inflexibles, rückwärtsgewandtes Denken, weswegen keine noch so gute Kommunikationsstrategie der Agenda 2010 hätte helfen können.

2. Die Agenda 2010 - als Beispiel von Reformpolitik  

Im zweiten Teil des Werkstattgesprächs wurde die Politikebene der Agenda selbst betrachtet. Die Wahlforscherin Viola Neu von der Konrad-Adenauer-Stiftung ging dazu an den Anfang der sozialdemokratischen Reformpolitik ins Jahr 2002 und zur Hartz-Kommission zurück. Sie verteidigte Schröders Kommunikationsfähigkeit mit dem Verweis auf seine für lange Zeit hervorragenden Umfragewerte. Beim Thema Hartz IV konstatierte sie eine „Legendenbildung, wie sie für Parteien typisch ist“. Bis zum Eintreten Oskar Lafontaines 2005 als populistische Galionsfigur der Linken habe die Debatte um Reformen, insbesondere um die Hartz-Gesetze, keine einheitliche Auswirkung auf das Wahlverhalten gehabt (Verluste für die SPD lagen nur bei etwa 4 Prozent).

Ihre These, die Agenda-Politik sei in der Bevölkerung wesentlich weniger kritisch als in den ideologisierten Parteieliten selbst aufgenommen worden, wollte der anschließende Referent Klaus-Uwe Benneter nicht teilen. Benneter, von 2004-5 Generalsekretär der SPD, erinnerte daran, dass die Partei schon seit 1998 auf den neuen Kurs von „Innovation und Gerechtigkeit“ vorbereitet worden war, wenn auch nicht konsequent genug. Bisher ausgeklammert in der Diskussion sei zudem die Alternativlosigkeit zum Zeitpunkt der Reformen: 2002 brachen die wirtschaftlichen Wachstumswerte dramatisch ein, die Agenda war eine Reaktion darauf.

Friedbert Rüb, der zum Thema „lessons learned“ referierte, widersprach vehement Benneters Darstellung, die Partei sei bis auf einige Abweichler modernisierungspolitisch verordnet gewesen. Es habe keine gemeinsame Interpretation der Wirklichkeit und ihrer zentralen Herausforderungen gegeben. Selbst zwischen Kanzler, Kanzleramt und Ministerien habe Uneinigkeit bestanden. Seine Absage an die politische Klasse fiel radikal aus: Um ihre Wiederwahl nicht zu gefährden, vermeide sie jedes Risiko. Strategisch müssten sich Parteien jedoch zukünftig auf eine neue Wirklichkeit einstellen und lernen, unliebsame Wahrheiten zu kommunizieren.

Die zukunftsorientierte, narrative Erzählung

Wie die vorherrschende Rhetorik der Angst und Defensive, wie bei der Agenda 2010 geschehen, in eine Zuversicht gebende und zukunftsorientierte Erzählung von Reformen umgewandelt werden kann - darüber entspann eine lebhafte Diskussion. Hans Hütt, selbstständiger Politikberater, sprach als erster an, was fortan als Referenz- und Abgrenzungspunkt die Debatte beherrschte: In den USA sei es Präsident Barack Obama gelungen, dem Volk immer wieder seine Wunden aufzuzeigen und trotzdem steigende Zustimmungswerte zu erzielen. Er führte dies auf die Kongruenz seiner narrativen Erzählung mit der Wahrnehmung in der Bevölkerung zurück. Dass das Volk als Adressat von Politik in der Vergangenheit vernachlässigt wurde, dem konnten gleich mehrere Teilnehmer zustimmen: Die Leute wollten Politik und ihre komplexen Zusammenhänge erklärt bekommen, so etwa degepol-Mitglied Alexander Mauß. Auch der Referent Rüb hielt eine grundlegende Verhaltensänderung in der Bevölkerung für möglich, wenn sie mit Hoffnung verknüpft werde. Obamas harte Beschreibung der Wirklichkeit gelinge, weil er gleichzeitig Zuversicht gebe. Die Agenda habe dagegen nur verunsichert, ihr fehlte jegliche Terminologie der Chancen.

3. Reformpolitik im Wahlkampf – geht das?

Rudi Hoogvlieth, Wahlkampfmanager von Bündnis 90/Die Grünen, ging in seinem Eröffnungsvortrag für den dritten Teil des Gesprächs auf die Voraussetzungen für die Implementierung eines Reformprozesses im kommenden Wahlkampf ein: Neben der narrativen Geschichte, die Botschaften und Benefits für die Menschen enthalte, müssten die Parteien zuerst die Bereitschaft zu Reformen sowohl in der Bevölkerung als auch in ihren eigenen Partei-Milieus wecken. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe, Finanz- und Wirtschaftskrise sowie dem globalen Gerechtigkeitsproblem könne aber niemand die Notwendigkeit von Reformen ernsthaft negieren. Als am wichtigsten beurteilt er daher die Glaubwürdigkeit der Akteure. Nur weil Obama für Medien und Volk glaubwürdig sei, gelinge es ihm, aus dem typischen Negativ-Ranking von Politikern herauszufallen.

Als neues Mittel der Reformkommunikation propagierte Hoogvlieth, wie in den USA, den direkten und kontinuierlichen Dialog mit der Bevölkerung mittels neuer Technologien - auch wenn dies Steuerungsverluste bedeute. Die neuen Instrumente von direkter Kommunikation wie Abgeordnetenwatch, Blogs, Podcast, Twitter und Co wurden kontrovers diskutiert. Neben ihrem oft fragwürdigen Nutzen könnten Parteien dies unmöglich alleine leisten, ohne sich zu überfordern. Bevor man mit Blick auf Amerika einen neuen Instrumentenkasten festklopfe, müsste mehr Energie in die zu kommunizierenden Botschaften gesteckt werden.

Politiker als Suchende

Zusammenfassend präsentierten Leonard Novy von der Bertelmann-Stiftung und Rudolf Speth, Politikwissenschaftler und Dozent an der Freien Universität Berlin, in der abschließenden Runde neue Wege der Kommunikation für zukünftige Reformvorhaben. Novy, der noch ganz unter dem Eindruck seiner gerade abgeschlossenen USA-Reise stand, zielte in seinem Vortrag vor allem auf die Notwendigkeit einer neuen Sprache und eines neuen „Framings“ für die Reformrhetorik ab. Ohne den Stil und die politischen „Lyrics“ von Obama zu kopieren, müsste die Politik sich an seiner Ernsthaftigkeit und Vitalisierung der Demokratie von unten orientieren. Ähnlich wie zuvor Rüb und Hoogvlieth kritisierte er den reinen Negativdiskurs bei Reformen und plädierte für einen offenen Dialog mit den Bürgern, der diesen auch die Möglichkeit des Scheiterns nicht verheimliche.

Um zu verdeutlichen, dass dies sich aber nicht in rhetorischer Effekthascherei und medialer Inszenierung erschöpfen darf, zitierte er den US-Politikberater Georg Lakoff: „Wer glaubt, er habe nur nicht die richtigen Worte, dem fehlt es in Wirklichkeit an Ideen.“ Die Anschlussfähigkeit der Bürger an eben diese Ideen griff auch Speth auf. Parteien seien nicht mehr der einzige „Transmissionsriemen“. Sie und ihre Politiker, so auch der Kommunikationsberater Volker Riegger, müssten sich wie Obama wieder als Suchende zeigen, um neue gesellschaftliche Erscheinungen und Ideen aufgreifen zu können. (Obama hatte seine Online-Community gebeten, ihm ihre Erfahrungen in der Finanzkrise möglichst detailliert zu schildern).

Fazit: Der Spagat zwischen offenem Dialog und klaren Botschaften

Die intensive Debatte unter den Teilnehmern war ein guter Erfolg. Einigkeit bestand weitgehend über die zu defensive und schlecht koordinierte Vermittlung der Agenda 2010 sowie ihre mangelnde Aussicht auf Aufstiegschancen. Fast alle Teilnehmer sprachen sich für neue, dialogische Kommunikationsformen mit den Bürgern aus. Inwiefern die Ergebnisse eines offenen Dialogs jedoch in die operative Politik einer Regierung tatsächlich einfließen und dies auch sollen, sei jedoch zu hinterfragen. Das Volk sei per se nicht klüger als die Politiker, gab Dieter Rulff, freier Journalist und Autor, zu bedenken. Unterstützt wurde er von Thea Dückert.

Aus ihrer Praxiserfahrung heraus schilderte die Grünen-Politikerin den Spagat zwischen dem Wunsch in der Bevölkerung nach eindeutigen Botschaften einerseits und der Glaubwürdigkeit bei den Inhalten andererseits. Wie demnach die neuen interaktiven Dialogformen mit dem großen Bedürfnis der Menschen nach klaren Botschaften und Geschlossenheit einer Partei einhergehen, blieb bis zuletzt offen. Eng damit verbunden auch die Fragen nach der Definition von politischer Strategie, und ob die Einzelperson, die Bürger oder doch die Parteien die besten Orte ihrer Entstehung bilden.

PODIUMSDEBATTE

Reformpolitik – zum spannungsreichen Verhältnis von Spin, PR und Substanz

Thematische Dopplungen zum Werkstattgespräch ließen sich in der Podiumsdebatte am Abend zwar nicht ganz vermeiden, wollten Vertreter aus Politik, Medien und Wissenschaft auch hier die Frage erörtern, inwiefern die Kommunikation der Agenda 2010 missglückte und welche Lehren für zukünftige Reformprojekte daraus zu ziehen sind. Moderator Ralf Fücks von der Heinrich-Böll-Stiftung wies aber immer wieder geschickt auf die durch Finanz- und Wirtschaftskrise veränderten Rahmenbedingungen hin, unter denen Reformen heute zu gestalten sind. Vor allem in der zweiten Hälfte der einstündigen Veranstaltung diskutierten die auf dem Podium vertretenen Politiker Björn Böhning und Thea Dückert, der Journalist Daniel Friedrich Sturm und der Politikwissenschaftler Christoph Egle die Frage, wie die Krise auch die Wahlkampfstrategie verändert. 

Agenda 2010 – nur schlecht kommuniziert oder falsche Politik?

Thea Dückert, die parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, ergriff als erste das Wort und warf einen Blick zurück auf die rot-grüne Regierungszeit. Der größte Fehler der Agenda 2010 lag ihrer Meinung nach nicht in einzelnen Maßnahmen, sondern im Fehlen einer Vision – gleichzeitig sei dies auch ihre ganz persönliche Lehre: Um Veränderungen einzuleiten, müsse man nicht nur Ziele definieren, sondern eine Vision entwickeln und sich die Zeit nehmen, diese den Menschen zu erklären.

Auch Björn Böhning, damals Juso-Vorsitzender, bemängelte die fehlende Zukunftsdefinition der SPD, mit der sie in die Regierung gegangen sei. Gleichzeitig wies er auch auf die inhaltlichen Versäumnisse der Agenda hin, die „aus 25 Schubladen zusammengeschustert“ wurde. Dass nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ein Bürger, der sein Leben lang eingezahlt hatte, finanziell auf das gleiche Niveau eines Sozialhilfeempfängers fiel, sei auch mit noch so guter Kommunikation nicht zu vermitteln. Böhning fehlte auch das Aufstiegsversprechen in der Agenda, diffuse Verweise auf Bildung könnten heute nicht mehr überzeugen.
Christoph Egle von der Uni München erörterte die von Fücks aufgeworfene Frage, inwiefern die Wissenschaft zum Reformerfolg beitragen könne. Er beantwortete sie mit einem Blick auf andere Länder. Ergebnisse der vergleichenden Politikwissenschaft zeigten, dass die in der Bundesrepublik fragmentierte Regierung einen „koordinativen Diskurs“ bei Reformen führen muss.

Im Gegensatz zu Großbritannien, wo die zentralisierte Regierung weitgehend alleine handeln kann, hätte Schröder sich mit den im Bündnis für Arbeit vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebern koordinieren müssen. Allerdings habe dabei ein unlösbarer Zielkonflikt bestanden: Schröder habe sich in diesem gegen erforderliche Abstriche bei der Durchsetzung und für Abstriche bei der Akzeptanz entschieden.

Zur Verteidigung Schröders setzte der Politikredakteur Daniel Friedrich Sturm (Berliner Morgenpost, die Welt) an. Alle großen Reformen, auch etwa die Ostpolitik Brandts, die heute positiv beurteilt werden, hätten in ihrer Zeit zu großen Verwerfungen geführt. Schröder habe das einzig Richtige gemacht und die Agenda 2010 durchgesetzt..

Reformpolitik in der Finanzkrise – ein illusorisches Vorhaben?

Die Kurve vom Blick zurück nach vorne gelang in der zweiten Hälfte der Diskussion. Wie die Finanzkrise die aktuelle Wahlkampfstrategie beeinflusst, und was sie für die Kommunikation mit der Bevölkerung bedeutet, beantwortete zuerst Björn Böhning für die SPD. Wichtig sei, die Grundannahmen und Begriffe zu verändern. Der Terminus der „sozialen Marktwirtschaft“ könne die neue Industriegesellschaft nicht mehr beschreiben.
Seine These, dass die Partei, die jetzt die Begriffe für die Zeitenwende findet, auch die Wahl gewinnt, wollte Egle und Dückert so nicht gelten lassen. Die Parteien müssten, so Egle, zuallererst eine Vision haben, wie eine neue Weltwirtschaftsordnung aussieht. Und auch Thea Dückert stellte für die Grünen fest: nur mit dem Begriff „New Green Deal“ zu hantieren, reiche nicht.

Gebraucht werde ein klarer Weg, wohin die Gesellschaft soll

Der Journalist Daniel Friedrich Sturm plädierte dafür, Begriffe wie die „soziale Marktwirtschaft“ beizubehalten. Parteien müssten erst einmal „auf Sicht fahren“, bevor sie mit einem Paradigmawechsel reagierten. Es sei sympathisch, wenn Politik nun nicht suggeriert, sie wüsste genau, was passiert. Seine Aussage „auf Sicht fahren“ wurde sowohl vom Podium als auch von den Zuschauern kontrovers diskutiert. Dückert gab zu bedenken, dass gerade die Unabsehbarkeit der Entwicklungen strukturelle Weichen erforderten. Als Beispiel nannte sie die ökologische Modernisierung und Bildungsinvestitionen. Auch Böhning konnte kein Analyseproblem erkennen: Wo die Probleme liegen, sei trotz des nebulösen Weges und „auf Sicht fahren“ doch hineichend klar. Die entscheidende Frage für die Menschen sei die Arbeitsplatzsicherheit, auch für den Wahlkampf.

Fazit: Die Krise als Reformchance

Überwiegend Konsens bestand in der Runde, dass Reformpolitik und ihre Kommunikation mehr als je zuvor gefragt seien. Der Einwand aus dem Publikum, dass vieles, wie etwa die Frage der Arbeitsplatzsicherheit, längst außerhalb des Einflussbereichs von Nationalstaaten liege,  konterte Böhning in seinem Fazit: Der Staat müsse seine Handlungsspielräume wieder erweitern und auf internationaler Ebene neue Rahmenbedingungen für ein anderes Wirtschaften schaffen. Die Eroberung dieser Handlungsspielräume dürfe sich jedoch nicht  - wie derzeit geschehen - weitgehend in einem keynesianischen Deficit-Spending erschöpfen, kritisierte Egle in seinem Schlussstatement. Er halte dies für eine falsche Politik, auch wenn sie momentan aufgrund ihrer beruhigenden Wirkung sinnvolle Ziele erreiche.

Dückert bezeichnete die Krise abschließend auch als Chance. Sie erlaube der Politik wieder Ziele zu formulieren und von falschen Versprechen abzurücken. Ähnlich beurteilte dies auch Sturm. Ein „ Ich will so bleiben, wie ich bin“ sei in der Bundesrepublik endlich keine Option mehr. Der Reformbegriff sei daher keineswegs verbrannt, sondern aktueller als je zuvor.