Thesen zum Ergebnis der Bundestagswahl 2009

Bei der Bundestagswahl 2009 handelt es sich keineswegs um eine "historische" Wahl. Vielmehr hat ein Wechsel von einem Ausnahmezustand zur Normalität stattgefunden, so eine der Thesen. -> Aktuelle Informationen zur Grünen Akademie.

Bei der Bundestagswahl 2009 handelt es sich keineswegs um eine "historische" Wahl. Vielmehr hat ein Wechsel von einem Ausnahmezustand zur Normalität stattgefunden, so eine der Thesen.

  1. Bei der Bundestagswahl 2009 handelt es sich keineswegs um eine "historische" Wahl. Vielmehr hat ein Wechsel von einem Ausnahmezustand zur Normalität stattgefunden. Die Große Koalition als zeitlich begrenzte "Zwangsehe" ist durch eine - aus (nur!) zwei Parteien bestehende - kleine Koalition abgelöst worden. In der Regel werden der Bund und die Länder durch kleine Koalitionen regiert, Einparteienregierungen und Große Koalitionen sind eher selten. Das Fünf-Parteien-System hat sich also als funktionsfähig erwiesen. Und entgegen den Weissagungen mancher Auguren müssen in einem Fünf-Parteien-System kleine Koalitionen nicht notwendigerweise aus drei Parteien bestehen.
     
  2. Für die Analyse des Bundestagswahlergebnisses ist die "Lagertheorie" hilfreich. Sie bietet einen Deutungsrahmen für die Wettbewerbssituation unseres Fünf-Parteiensystems und für die Machtperspektiven der einzelnen Parteien. Sie eignet sich allerdings nicht für normative Zwecke. Denn Lager übergreifende Koalitionen sind möglich (wie auch Lager übergreifende Wählerwanderungen stattfinden). Wenn der Begriff "Lager" zu statisch erscheint, kann auch von einem linken bzw. rechten Parteienspektrum gesprochen werden. Entscheidend sind drei Tatsachen: Erstens finden Wählerwanderungen primär innerhalb eines Lagers statt. Zweitens folgt das Stimmensplitting zumeist der Lagerlogik. Und drittens bilden Lager übergreifende Koalitionen seit Bestehen des Fünf-Parteiensystems die Ausnahme.
     
  3. Beide Lager unterscheiden sich im Bund weniger hinsichtlich ihrer Größe. 1998, 2002 und 2005 fiel der Zweitstimmenanteil der Parteien des linken Spektrums sogar etwas größer aus als der des rechten Spektrums, 1994 herrschte Gleichstand und 1990 und 2009 hatten bzw. haben CDU/CSU und FDP die Nase vorn. Der gravierende Unterschied besteht in der Binnenstruktur beider Lager. Dabei geht es weniger um die Anzahl der Parteien, sondern vor allem um die Asymmetrie zwischen beiden ihr Lager dominierenden Volksparteien. Seit Bestehen der Bundesrepublik ist ein gewaltiges Machtungleichgewicht zugunsten der Unionsparteien zu konstatieren. Bei 14 von insgesamt 17 Bundestagswahlen erreichte die CDU/CSU ein teilweise wesentlich besseres Resultat als die SPD, 2002 herrschte ein Patt und nur 1972 und 1998 obsiegten die Sozialdemokraten mit 0,9 bzw. 5,7 Prozentpunkten. Während die Dominanz der CDU/CSU im rechten Spektrum unangefochten ist, hat es die SPD in ihrem Lager mit zwei Parteien zu tun, die mittlerweile zusammen fast genauso stark sind wie sie selbst. Von Dominanz kann unter diesen Bedingungen kaum noch die Rede sein. Darüber hinaus sind die beiden Parteien des rechten Spektrums miteinander uneingeschränkt koalitionsfähig, während im linken Spektrum - jedenfalls bisher - eine Partei als nicht koalitionsfähig gilt. Binnenstrukturell ist es um das linke Lager also deutlich schlechter bestellt als um das rechte Lager, das mithin über wesentlich bessere Wettbewerbsbedingungen verfügt.
     
  4. Charakteristisch für das Fünf-Parteiensystem der Bundesrepublik ist, dass die Parteien des linken Spektrums auf der nationalen Ebene eine Machtperspektive nur unter Einbeziehung der Linkspartei haben. Keine der drei Parteien verfügt über eine eigene Machtoption. Von der SPD erwartet man diesbezüglich noch mehr als von den Grünen und der Linkspartei ein überzeugendes Konzept. Sie kann auf eine rot-grüne Mehrheit hoffen (ist derzeit illusorisch) oder als Juniorpartner einer Großen Koalition fungieren (was nicht absehbar ist und ihr erfahrungsgemäß auch nur Nachteile bringt). Die Grünen könnten darauf spekulieren, dass sie von der Union an Stelle der oder zusätzlich zur FDP ins Boot geholt werden. Beides ist in Anbetracht der gegenwärtigen Stärke der FDP wenig realistisch. Die Linkspartei hat alleine überhaupt keine Machtperspektive. Eine "Ampel"-Koalition ist auf mittlere Sicht nicht zu erwarten. Voraussetzung wäre, dass die FDP ihre neoliberale Prägung aufgibt (warum sollte sie das tun?), dass sich innerhalb der Partei die "sozialliberalen" Kräfte (stellen nur eine winzige Gruppe dar) durchsetzen. Lager übergreifende Koalitionen dürften mithin auf absehbare Zeit nicht auf der Tagesordnung der Bundespolitik stehen.
     
  5. Das Lagerdenken bestimmte die Wahlkampfstrategie von CDU/CSU und FDP. Beide gaben als hauptsächliches Ziel aus, einen Machtwechsel  zugunsten des linken Lagers zu verhindern. Die Liberalen hatten aus früheren Kampagnen gelernt, dass der Verzicht auf eine Festlegung auf die Union ("Äquidistanz" gegenüber CDU/CSU und SPD) eher kaum zur Mobilisierung ihrer Anhänger führt, und sich 2005 und erst recht 2009 auf ein Bündnis mit der Union festgelegt. Das gilt entsprechend für die CDU/CSU. Dass sie sich eine Zeitlang ein Hintertürchen zur SPD offen hielt, hatte - mit Blick auf die späteren Koalitionsverhandlungen mit der FDP - rein taktische Gründe.
     
  6. Umgekehrt wollten SPD, Linkspartei und Grüne unbedingt eine schwarz-gelbe Koalition verhindern. Sie hatten allerdings keine überzeugende Antwort auf die Frage, worin die Alternative dazu besteht und wie sie realisiert werden kann. Besonders verwirrend war die Haltung der SPD, die einerseits im Sinne der Lagertheorie das Schreckgespenst einer konservativ-neoliberalen Koalition an die Wand malte, andererseits aber eine Zusammenarbeit mit beiden Parteien des rechten Spektrums - sei es in einer Großen Koalition oder in einer Ampel - für möglich hielt.
     
  7. Der Sieg von Schwarz-Gelb war seit langer Zeit absehbar. Beide Parteien erreichten gemeinsam in den Umfragen der vergangenen zwei Jahre zumeist Werte knapp unterhalb der Fünfzig-Prozent-Marke. Dass dies für eine Mandatsmehrheit im Bundestag reicht, zeigte sich auch bei vergangenen Bundestagswahlen. 1994 brachten es CDU/CSU und FDP nur auf 48,3 Prozent der Zweitstimmen, für den rot-grünen Machtwechsel 1998 reichten 47,6 Prozent und 2002 konnten SPD und Grüne ihre Koalition mit nur 47,1 Prozent fortsetzen. Vor allem aber war für 2009 ein deutlicher Erststimmenvorsprung der Union gegenüber der SPD zu erwarten. Denn die beiden Parteien des rechten Spektrums würden sich gegenseitig - wie auch schon bei früheren Bundestagswahlen - durch Stimmensplitting unterstützen. Die Chancen des linken Spektrums auf Direktmandate waren dagegen drastisch gesunken. Denn zum einen verlor die SPD in Umfragen (nicht erst) seit der Bildung der Großen Koalition dramatisch an Zuspruch. Zum anderen war ihr mit der Fusion von PDS und WASG auch in den westlichen Ländern ein ernsthafter Konkurrent erwachsen, dessen Anhänger wenig Bereitschaft zeigen würden, die Wahlkreiskandidaten der SPD zu unterstützen. Und so ist es dann ja auch gekommen. Die SPD verlor 67 Wahlkreise an die CDU/CSU und 13 Wahlkreise an die Linkspartei. Konnte die SPD 2005 noch in 12 Bundesländern die relative Mehrheit der Zweitstimmen erreichen, so trifft das derzeit nur noch auf ein einiges Bundesland (Bremen) zu.
     
  8. Der Niedergang der SPD setzte bereits nach der Bundestagswahl 1998 ein. Seither büßte die Partei rund 10 Mio. Wähler ein: zwischen 1998 und 2002 1,7 Mio., zwischen 2002 und 2005 2,3 Mio. und zwischen 2005 und 2009 6 Mio. Der eigentliche Absturz erfolgte also während der Großen Koalition und bestätigt einmal mehr, dass ihr aus der Rolle als Juniorpartner in einer Großen Koalition (auf Bundes- und Landesebene) eher Nachteile erwachsen. Die Große Koalition im Bund zwischen 1966 und 1969 bildet eine Ausnahme, weil die SPD damals als Reformmotor wirkte und als solcher auch anerkannt war. Die Wählerwanderungsbilanzen weisen aus, dass die SPD in alle Richtungen verliert, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Von 2002 auf 2005 erfolgten rund 30 Prozent der Verluste zugunsten des rechten Parteienspektrums, von 2005 auf 2009 waren es noch 24 Prozent. Knapp die Hälfte der Abwanderungen zwischen 2002 und 2005 kamen den beiden anderen Parteien des linken Spektrums zugute, wobei die Linkspartei damals den Löwenanteil (41%) erhielt. Zwischen 2005 und 2009 wechselte nur noch ein Drittel der Abwanderer zu den Grünen (15%) bzw. zur Linkspartei (19%). Die Verluste ins Nichtwählerlager machten 2002/05 nur 16 Prozent, 2005/09 dann aber 37 Prozent aus. Dabei handelt es sich um eine Mobilisierungsreserve der SPD, weil sich diese Nichtwähler nicht für andere Parteien - etwa des rechten Spektrums - entschieden haben. Summa summarum bilden die Lagerwechsler aus dem ehemaligen SPD-Fundus eine, wenn auch erkleckliche, Minderheit.
     
  9. Nach der Bundestagswahl schwärmten FDP, Grüne und Linkspartei siegestrunken von neuen Wachstumschancen. Ein Blick auf die Bundestagswahlergebnisse seit 1990 lehrt, dass dazu überhaupt kein Anlass besteht. Ein Gesetz der Serie existiert nicht. FDP und Grüne haben ihren großen Sprung nach vorn erst während der Großen Koalition, also während eines Ausnahmezustands, vollzogen. Dies gilt auch für die Linkspartei, die allerdings bereits 2005 - in Folge der Kooperation von PDS und WASG - das PDS-Resultat von 2002 mehr als verdoppeln konnte. Die Linkspartei wuchs vor allem zu Lasten der SPD, die Grünen verdanken ihren Zugewinn ausschließlich den Wechslern von der SPD und die FDP profitierte überwiegend von ehemaligen Unionswählern, im weiteren dann auch von ehemaligen SPD-Wählern. Nun befinden wir und aber wieder im Zustand der Normalität. Eine der beiden Volksparteien regiert, die andere befindet sich in der Opposition. Das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, das während der Großen Koalition nahezu außer Kraft gesetzt war , dürfte seine Wirkung wieder entfalten, die Wahlbeteiligung erhöhen und den sich aller Wahrscheinlichkeit nach reprofilierenden Volksparteien zu neuer Integrationsfähigkeit verhelfen.
     
  10. Für die Zukunft des nationalen Parteienwettbewerbs ist von einer dauerhaft stabilen Regierungskoalition auszugehen, die entgegen mancher Prognosen keinen Thatcherismus betreiben wird. Die Oppositionsparteien werden keinen leichten Stand haben, erst recht dann nicht, wenn die Regierungsparteien ihre Mehrheit im Bundesrat behalten. Mit Blick auf die Chancen eines Machtwechsels ist weiterhin zu bedenken, dass die Deutschen Kontinuität und Stabilität ebenso lieben wie Ruhe und Ordnung und dass sie kaum zu abrupten Änderungen der politischen Verhältnisse neigen.
     
  11. Ein Machtwechsel auf Bundesebene erscheint nur unter den Bedingungen einer gemäßigten Polarisierung zwischen dem linken und dem rechten Parteienspektrum möglich, die auf konkreten und praktikablen politisch-programmatischen Alternativen beruht. Natürlich gibt es keine Koalition in der Opposition. Alle drei Oppositionsparteien sind selbständig und befinden sich auch untereinander im Wettbewerb. Wenn sie sich allerdings gegenseitig lähmen oder gar bekämpfen, erreichen sie bestenfalls, dass sich die Wählergewichte innerhalb des linken Spektrums verschieben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit führt das sogar zu einer Verminderung des linken Potenzials und damit zu einer Schwächung der Opposition insgesamt. SPD, Linke und Grüne haben derzeit nur gemeinsam eine realistische Machtperspektive. Sie müssen sich entscheiden, ob sie den Blick nach hinten richten, die Schlachten der Vergangenheit fortführen und damit die konservativ-liberale Vorherrschaft über 2013 hinaus zementieren oder ob sie nach vorne blicken und das Land gemeinsam im Sinne eines Politikwechsels regieren wollen.
     
  12. Die drei Oppositionsparteien sollten daher auf ein Bündnis für die nationale Ebene hinarbeiten, das mindestens auf einen gemeinsamen Handlungsrahmen für die Bundestagswahl 2013 zielt: Die Oppositionsarbeit während der Legislaturperiode muss den WählerInnen verdeutlichen, dass ein Machtwechsel notwendig und möglich ist und dass dafür eine kompetente und solide Alternative zur Verfügung steht. Notwendig sind weiterhin eine gemeinsame Koalitionsaussage und möglichst viele Wahlkreisabkommen zur Sicherung eines Maximums an Direktmandaten. Denkbar wären auch gemeinsame Aktivitäten gegen einzelne Maßnahmen der schwarz-gelben Koalition. Dies setzt Bereitschaft aller drei (!) Parteien voraus, aufeinander zuzugehen und sich auf "gleicher Augenhöhe" zu begegnen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass ein Machtwechsel nur erreicht werden kann, wenn das linke Lager Stimmen aus dem rechten Spektrum (zurück) gewinnt. Radikale Forderungen und erst recht Fundamentalismus sind also nicht angesagt.
     
  13. Fazit: Angesichts der zu vermutenden Stabilität der schwarz-gelben Koalition sind Lager übergreifende Machtoptionen derzeit nicht erkennbar. Als einzige, momentan aber eher skeptisch zu beurteilende, Möglichkeit bleibt ein Machtwechsel zugunsten des linken Parteienspektrums.

Der Verfasser ist Professor an der Freien Universität Berlin. Das Referat wurde am 5. Oktober 2009 im Rahmen des öffentlichen Fachgesprächs der Grünen Akademie zum Wahlergebnis von Bündnis 90/Die Grünen gehalten.