Ujamaa – Grundlage des afrikanischen Sozialismus

Die politischen Visionen Julius Nyerere’s gründeten auf seinen Erfahrungen und Einsichten in gesellschaftliche Prozesse. Sein Aufsatz aus den 60er Jahren über die Grundlage eines afrikanischen Sozialismus orientiert sich zwar weitgehend an seiner Heimat Tanzania, weist aber ideengeschichtlich weit darüber hinaus. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Afrika.

Wie kaum ein afrikanischer Staatsmann hat Julius Nyerere in seinen Reden und Aufsätzen politische Visionen formuliert, die auf seinen Erfahrungen und Einsichten in gesellschaftlichen Prozessen gründeten. Sein Aufsatz aus den 60er Jahren über die Grundlage eines afrikanischen Sozialismus orientiert sich zwar weitgehend an seiner Heimat Tanzania, weist aber ideengeschichtlich weit darüber hinaus. Auch wenn diese Leitlinien heute die aktuelle Politik afrikanischer Staaten kaum tangieren, so ist ihre Bedeutung als intellektuelle Anregung und für das Verständnis afrikanischer Ideen und Geschichte nicht zu unterschätzen.

"Sozialismus ist - wie Demokratie - eine Geisteshaltung. In einer sozialistischen Gesellschaft ist es die sozialistische Geisteshaltung und nicht das starre Festhalten an einem bestimmten politischen Schema, wodurch sichergestellt wird, dass man sich im Volk um gegenseitiges Wohlergehen bemüht.

Gewinnsucht, um Macht und Prestige zu erlangen, ist unsozialistisch. In einer gewinnsüchtigen Gesellschaft neigt der Reichtum dazu, jene zu korrumpieren, die ihn besitzen. Er führt auch dazu, dass in ihnen das Bedürfnis geweckt wird, komfortabler zu leben, sich besser zu kleiden und auf jede Weise ihre Mitbürger zu übertreffen. Dann fangen sie an zu meinen, dass sie auf der Erfolgsleiter so weit wie möglich über ihre Nachbarn hinausklettern müssten. Der sichtbare Unterschied zwischen ihrem eigenen Wohlstand und dem relativen Mangel in der übrigen Gesellschaft, ist beinahe notwendig für den Genuss ihres Reichtums und das setzt eine Spirale persönlichen Wettbewerbs in Bewegung, der dann gesellschaftsschädigend ist.

Neben dieser antisozialen Auswirkung der Akkumulation privaten Reichtums muss das eigentliche Bedürfnis, ihn zu akkumulieren, als „Misstrauensvotum“ gegen das soziale System interpretiert werden. Wenn eine Gesellschaft so organisiert ist, dass man sich um ihre Mitglieder kümmert, dann sollte sich kein einziger in dieser Gesellschaft Sorgen darüber machen, was morgen mit ihm geschehen wird, wenn er heute keinen Reichtum gehortet hat - vorausgesetzt, dass er bereit ist zu arbeiten. Die Gesellschaft sollte selbst nach ihm sehen, oder nach seiner Witwe und den Waisen. Genau das bezweckte die traditionelle afrikanische Gesellschaft mit Erfolg. Beide, das „arme“ wie das „reiche“ Mitglied der Gemeinschaft, waren vollständig abgesichert in der afrikanischen Gesellschaft. Naturkatastrophen brachten Hungersnöte, aber es waren alle davon betroffen - die „Armen“ wie die „Reichen“. Niemand musste hungern, nur weil er keinen Reichtum besaß; weder litt er Mangel an Nahrung noch Mangel an Menschenwürde; er konnte sich auf den Reichtum verlassen, den die Gemeinschaft, deren Mitglied er war, besaß. Das war Sozialismus. Das ist Sozialismus. So etwas wie auf Gewinn ausgerichteten Sozialismus gibt es nicht, denn das wäre wiederum ein Widerspruch in sich. Sozialismus impliziert dem Wesen nach gerechte Verteilung. Sein Interesse liegt darin, dass die, die säen, auch einen gerechten Anteil von dem ernten, was sie gesät haben.

Perspectives Afrika: In dieser englischsprachigen Publikationsreihe wollen wir Fachleuten aus Afrika eine Plattform bieten, ihre Ansicht zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen ihrer Regionen zu veröffentlichen. Perspectives Africa legt dabei den Fokus auf Standorte im Süden, Osten und Westen des Kontinentes an denen die Heinrich-Böll-Stiftung mit Regionalbüros vertreten ist.

➢ Online lesen, downloaden oder umsonst bestellen!

Um Reichtum zu schaffen, ob auf primitive oder moderne Art und Weise, sind drei Dinge notwendig: Erstens Land. Gott hat uns das Land gegeben, und vom Land beziehen wir die Rohmaterialien, die wir unseren Bedürfnissen entsprechend umgestalten. Zweitens Werkzeuge. Durch einfache Erfahrung haben wir herausgefunden, dass uns Werkzeuge helfen! Darum machen wir eine Hacke, eine Axt, eine moderne Fabrik oder einen Traktor, die uns helfen sollen, Wohlstand zu schaffen - die Güter, die wir benötigen. Und drittens menschliche Anstrengung oder Arbeit. Wir müssen nicht Karl Marx lesen oder Adam Smith, um herauszufinden, dass im Grunde genommen weder das Land noch die Hacke Reichtum produzieren. Wir brauchen keinen akademischen Grad in Ökonomie zu erwerben, um zu wissen, dass weder der Arbeiter noch der Grundeigentümer Land herstellen. Land ist das Geschenk Gottes an die Menschheit - es ist immer vorhanden. Aber wir wissen, ebenfalls ohne akademischen Grad in Ökonomie, dass die Axt und der Pflug vom Arbeiter geschaffen wurden. Einige unserer intellektuelleren Freunde müssen anscheinend ein höchst anstrengendes geistiges Training durchmachen, nur um herauszufinden, dass Steinäxte von jenem frühen Herrn „Unmenschen“ hergestellt wurden, um leichter den Impala häuten zu können, den er gerade mit einer Keule, die er sich ebenfalls selbst gemacht hatte, getötet hat!

Lob der Arbeit

In der traditionellen afrikanischen Gesellschaft war jeder ein Arbeiter. Es gab keine andere Möglichkeit, den Lebensunterhalt für die Gemeinschaft zu erwerben. Selbst der Stammesälteste, der ohne selbst irgendwelche Arbeit zu leisten, in den Tag hinein lebte und für den anscheinend alle anderen arbeiteten, hatte in Wahrheit in all seinen früheren Jahren sehr hart gearbeitet. Der Reichtum, den er jetzt, wie es schien, besaß, war nicht sein persönlicher Reichtum; nur in der Funktion als Stammesältester der Gruppe, die den Reichtum geschaffen hatte, „besaß“, er ihn. Er war der Wächter. Der Reichtum selbst gab ihm weder Macht noch Prestige. Die Jüngeren zollten ihm Respekt, da er älter war als sie und er der Gemeinschaft länger gedient hatte; der „arme" Stammesälteste genoss ebensoviel Respekt in unserer Gesellschaft, wie der „reiche“ Stammesälteste.

Indem ich feststelle, dass in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft jeder ein Arbeiter war, benutze ich das Wort „Arbeiter“ dennoch nicht einfach als Gegensatz zu „Unternehmer", sondern auch im Gegensatz zu „Faulenzer“ oder „Müßiggänger“. Eine der wirklich sozialistischen Errungenschaften unserer Gesellschaft war das Gefühl der Sicherheit, das sie ihren Mitgliedern gab, und die allgemeine Gastfreundschaft, auf die sich jeder verlassen konnte. Aber heute wird zu oft vergessen, was die Grundlage dieser wirklich großen sozialistischen Errungenschaft war: es wurde allgemein anerkannt, dass jedes Mitglied der Gesellschaft - ausgenommen die Kinder und die Gebrechlichen seinen angemessenen Anteil dazu leistete, um Reichtum zu schaffen. Nicht nur der Kapitalist oder der grundbesitzende Ausbeuter waren der afrikanischen Gesellschaft unbekannt, es gab auch nicht jene andere Art des modernen Parasitentums - den Faulenzer oder Müßiggänger, der die Gastfreundschaft als sein „Recht“ beansprucht, aber zu keiner Gegenleistung bereit ist! Kapitalistische Ausbeutung war unmöglich. Faulenzen war eine unvorstellbare Schande.

Diejenigen von uns, die über die afrikanische Art zu leben sprechen, und mit Recht stolz darauf sind, einen so wichtigen Bestandteil davon, die traditionelle Gastfreundschaft, aufrecht zu erhalten, tun gut daran, sich an folgendes Suaheli-Sprichwort zu erinnern: „Mgeni siku mbili; siku ya tatu mpe jembe“ oder auf Deutsch „Deinen Gast behandle zwei Tage als Gast, am dritten Tag gib ihm eine Hacke!“ Wahrscheinlich würde der Gast selbst um eine Hacke bitten, noch bevor ihm der Gastgeber eine geben müsste - denn er wüsste, was von ihm erwartet wurde, und er hätte sich geschämt, noch länger zu faulenzen. Arbeit war somit grundlegender und notwendiger Bestandteil, ja überhaupt die Grundlage und Rechtfertigung dieser sozialistischen Errungenschaft, auf die wir mit Recht so stolz sind.

Einen Sozialismus ohne Arbeit gibt es nicht. Eine Gesellschaft, die es versäumt, ihren Mitgliedern Arbeitsmöglichkeiten zu geben, oder wenn sie ihnen Möglichkeiten zu arbeiten geschaffen hat, sie dann daran hindert, einen gerechten Anteil von den Produkten ihres eigenen Schweißes und ihrer Mühen zu erhalten, muss auf den rechten Weg gebracht werden. Ähnlich ist ein einzelner auf dem falschen Weg, wenn er nicht arbeitet, obwohl er arbeiten kann - und die Gesellschaft ihm die Möglichkeit dazu geschaffen hat. Er hat kein Recht, irgendetwas von der Gesellschaft zu erwarten, da er nichts für die Gesellschaft beiträgt.

Kritik am Kapitalismus

Der andere Gebrauch des Wortes „Arbeiter“, in seinem speziellen Sinn von „Lohnarbeiter im Gegensatz zu „Unternehmer“, spiegelt eine kapitalistische Geisteshaltung wider, die mit Beginn des Kolonialismus in Afrika eingeführt wurde und die unserer Art zu denken vollkommen fremd ist. Der Afrikaner hat früher niemals danach gestrebt, persönlichen Reichtum zu besitzen, um damit Macht über irgendeinen seiner Mitmenschen auszuüben. Niemals hatte er Arbeitnehmer oder „Fabrikarbeiter“, die seine Arbeit für ihn machten. Doch dann kamen die ausländischen Kapitalisten. Sie waren reich. Sie waren mächtig. Natürlich wollten die Afrikaner dann auch reich werden. Es ist nichts Falsches daran, dass wir auch wohlhabend sein wollen; auch ist es für uns keine schlechte Sache, wenn wir auch die Macht erringen wollen, die der Reichtum mit sich bringt. Es ist aber auf jeden Fall falsch, wenn wir Reichtum und Macht erlangen wollen, um über andere Macht ausüben zu können. Leider gibt es einige unter uns, die bereits gelernt haben, Reichtum für diese Zwecke zu begehren - und die gern auch die Methoden benutzen würden, die der Kapitalist gebraucht, um dies zu erlangen. Damit soll gesagt werden, dass einige von uns unsere Brüder gern dazu ausbeuten und benutzen würden, um persönliche Macht und Prestige zu erlangen. Das ist uns aber vollkommen fremd und es ist unvereinbar mit der sozialistischen Gesellschaft, die wir hier aufbauen wollen.... In unserer traditionellen afrikanischen Gesellschaft waren wir Individuen innerhalb einer Gemeinschaft. Wir kümmerten uns um diese Gemeinschaft, und die Gemeinschaft kümmerte sich um uns. Weder wollten wir unsere Mitmenschen ausbeuten, noch hatten wir es nötig.

Wie wir die kapitalistische Geisteshaltung zurückweisen, die der Kolonialismus nach Afrika gebracht hat, so müssen wir auch die damit verbundenen kapitalistischen Methoden zurückweisen. Eine davon ist das private Grundeigentum. Wir in Afrika haben das Land immer als Besitz der Gemeinschaft angesehen. Jedes Mitglied der Gesellschaft hatte ein Recht auf Bodennutzung, denn anders konnte er nicht seinen Lebensunterhalt verdienen, und es kann nicht jemand das Recht auf Leben haben, wenn er nicht auch ein Recht hat auf die Mittel, es zu erhalten. Aber das Recht des Afrikaners auf Land war lediglich ein Nutzungsrecht; er hatte keinen weiteren Anspruch darauf und er kam auch nicht auf den Gedanken zu versuchen, ob er nicht auch ein anderes Recht beanspruchen könnte.

Die Ausländer brachten ein völlig anderes Konzept - das Konzept, dass das Land eine marktfähige Handelsware sei. Diesem System entsprechend konnte irgendjemand ein Stück Land als sein privates Eigentum beanspruchen, ob er es nutzen wollte oder nicht. Ich könnte etwa ein paar Quadratmeilen Land beanspruchen, sie „mein“ nennen und mich dann auf den Mond begeben. Um meinen Lebensunterhalt von „meinem“ Land zu verdienen, bräuchte ich lediglich einen Pachtzins von den Leuten zu verlangen, die es nutzen wollen. Läge dieses Stück Land in einem städtischen Siedlungsgebiet, brauchte ich überhaupt nichts für seine Wertsteigerung zu tun. Ich könnte das den Narren überlassen, die bereit sind, alle anderen „mein“ Land umgebenden Grundstücke zu bebauen und dabei den Marktwert von meinem Land automatisch zu erhöhen. Dann könnte ich vom Mond zurückkehren und verlangen, dass diese Narren mehr als zuviel für den hohen Marktwert „meines“ Landes bezahlen, einen Mehrwert, den sie selbst für mich geschaffen hatten, als ich es mir auf dem Mond gut gehen ließ! Solch ein System ist uns nicht nur fremd, es ist auch völlig falsch. In einer Gesellschaft, die privates Grundeigentum kennt, können Grundeigentümer in derselben Klasse sein, und sie sind es gewöhnlich auch, wie die Faulenzer, über die ich bereits gesprochen habe: in der Klasse der Parasiten.

Traditionelle Werte der Bodennutzung

Das Anwachsen des Parasitentums dürfen wir hier in Tanganjika nicht dulden. Die TANU-Regierung muss auf die traditionelle afrikanische Weise des Grundbesitzes zurückgreifen. Das heißt, ein Mitglied der Gesellschaft erhält einen Anspruch auf ein Stück Land unter der Bedingung, dass er es nutzt. Bedingungsloser oder „freier“ Grundbesitz (der zu Spekulation und Parasitentum führt) muss abgeschafft werden. Wir müssen, wie ich bereits gesagt habe, unsere alte Geisteshaltung wiedergewinnen - unseren traditionellen afrikanischen Sozialismus - und ihn auf die neue Gesellschaft anwenden, die wir jetzt schaffen wollen. Die TANU-Partei hat sich verpflichtet, den Sozialismus zur Grundlage ihrer Politik auf jedem Gebiet zu machen. Das Volk von Tanganjika hat, indem es eine TANU-Regierung gewählt hat, die es führen soll, uns das Mandat gegeben, diese Politik zu verwirklichen. Darum kann man der Regierung vertrauen, dass sie nur legislative Maßnahmen ergreifen wird, die mit sozialistischen Prinzipien in Einklang stehen.

Aber wie ich ganz am Anfang sagte, ist wahrer Sozialismus eine Geisteshaltung. Es ist daher Aufgabe der Bevölkerung von Tanganjika - der Bauern, der Arbeiter, der Studenten, der politischen Führer und von uns allen - sicherzustellen, dass diese sozialistische Geisteshaltung nicht verlorengeht durch die Versuchung des persönlichen Gewinns (oder durch die des Machtmissbrauches), die uns als Individuen begegnen kann, noch durch die Versuchung, das Wohl der ganzen Gemeinschaft nur als zweitrangig zu betrachten gegenüber den Interessen unserer jeweiligen Gruppe.

Reichtum nur als Werkzeug für Alle – Reichtum ohne Ausbeutung

So wie in unserer früheren Gesellschaft der Stammesälteste respektiert wurde wegen seines Alters und seines Dienstes für die Gemeinschaft, so wird in unserer modernen Gesellschaft dieser Respekt für Alter und Dienst erhalten bleiben. In gleicher Weise wie der offenkundige Reichtum des „reichen“ Stammesältesten von ihm nur treuhänderisch verwaltet wurde für seine Stammesgenossen, so soll heute der offenkundige zusätzliche Reichtum, den verschiedene Führungspositionen den jeweiligen Individuen bringen mögen, ihnen nur soweit gehören, wie er notwendig ist für die Erfüllung ihrer Pflichten. Es ist ein „Werkzeug“, das ihnen anvertraut wurde für das Wohl des Volkes, dem sie dienen. Es ist nicht „ihr“ persönliches Eigentum und sie sollten nichts davon als Mittel gebrauchen, weder um mehr für ihren eigenen Vorteil zu akkumulieren, noch als eine „Versicherung“ für den Tag, an dem sie sich nicht mehr in dieser Position befinden werden. Das würde heißen, das Volk betrügen. Wenn sie der Gemeinschaft dienen, solange sie dazu in der Lage sind, dann muss sich die Gemeinschaft auch um sie kümmern, wenn sie es selbst nicht mehr können.

In den Stammesgesellschaften waren die einzelnen oder die Familien innerhalb des Stammes „reich“ oder „arm“, je nachdem, ob der ganze Stamm reich oder arm war. Wenn es dem Stamm gut ging, dann hatten alle Mitglieder des Stammes Anteil am Wohlstand. Tanganjika ist heute ein armes Land. Der Lebensstandard der Masse unseres Volkes ist schändlich gering. Wenn jeder Mann und jede Frau in diesem Land diese Herausforderung annimmt und bis an die Grenze seiner oder ihrer Möglichkeiten zum Wohle der ganzen Gesellschaft arbeitet, dann wird sich Tanganjika aufwärts entwickeln, und dieser Wohlstand wird vom ganzen Volk geteilt werden.

Es muss aber auch geteilt werden. Der wahre Sozialist darf seine Mitmenschen nicht ausbeuten. Wenn aber Mitglieder irgendeiner Gruppe in unserer Gesellschaft meinen, behaupten zu müssen, dass sie für sich selbst einen größeren Anteil der Profite ihres Arbeitseifers haben sollten, als sie tatsächlich brauchen, da sie zufällig mehr zum Nationaleinkommen beitragen als einige andere Gruppen, und wenn sie dann hierauf bestehen, auch angesichts der Tatsache, dass der Beitrag ihrer Gruppe zum allgemeinen Einkommen dadurch reduziert würde und so die Quote, von der die ganze Gemeinschaft Vorteil hat, verringert würde, dann beutet diese Gruppe ihre Mitmenschen aus, oder sie versucht es zumindest. Das zeugt von einer kapitalistischen Geisteshaltung. Einige Gruppen werden immer mehr zum Nationaleinkommen beitragen als andere, bedingt durch den „Marktwert“ der Produktion ihrer bestimmten Branche. In Wirklichkeit können aber die anderen Gruppen Güter oder Dienstleistungen produzieren, die von gleichem oder größerem tatsächlichen Wert sind, wenn sie auch nicht über einen so hohen - künstlich hochgeschraubten - Wert verfügen. Zum Beispiel hat die Nahrung, die ein Bauer produziert, einen höheren sozialen Wert als die Diamanten, die in den Minen von Mwadui geschürft werden. Die Minenarbeiter von Mwadui könnten aber zweifellos mit Recht behaupten, dass ihre Arbeit höhere finanzielle Gewinne für die Gemeinschaft abwerfe als die der Bauern. Wenn sie dann aber fortfahren und verlangen würden, dass sie deshalb den größten Teil der Extraprofite für sich selbst bekommen sollten und dass kein Teil davon benutzt werden sollte, um den Bauern zu helfen, dann wären sie potentielle Kapitalisten!....

Afrikanischer Sozialismus ohne Klassenkampf!

Europäischer Sozialismus ist aus der Agrarrevolution und aus der industriellen Revolution, die ihr folgte, hervorgegangen. Die erste schuf eine „landbesitzende“ und eine „landlose“, Klasse innerhalb der Gesellschaft; die andere brachte den modernen Kapitalisten und das industrielle Proletariat hervor.

Beide Revolutionen säten den Konflikt in die Gesellschaft, und es ist nicht nur der europäische Sozialismus aus diesem Konflikt entstanden, sondern seine Apostel stilisierten diesen Konflikt auch noch zu einer Philosophie. Bürgerkrieg wurde nicht mehr als Übel oder Unglück angesehen, sondern als gut und notwendig. Wie das Gebet für das Christentum oder den Islam, so ist der Bürgerkrieg (den sie „Klassenkampf“ nennen) für die europäische Version des Sozialismus ein Mittel, untrennbar vom Ziel. So wird beides zur Grundlage einer ganzen Lebensweise. Der europäische Sozialist kann sich seinen Sozialismus nicht vorstellen ohne dessen Vater - den Kapitalismus!

Aufgewachsen im Stammessozialismus muss ich sagen, dass dieser Widerspruch unerträglich ist. Es gibt dem Kapitalismus einen philosophischen Rang, den dieser weder beansprucht noch verdient. Denn im Grunde genommen heißt das: „Ohne Kapitalismus und ohne den Widerspruch, den der Kapitalismus in der Gesellschaft hervorruft, kann es keinen Sozialismus geben!“ Diese Glorifizierung des Kapitalismus durch die doktrinären europäischen Sozialisten, ich muss es wiederholen, finde ich unerträglich.

Afrikanischer Sozialismus dagegen hatte weder den „Vorteil“ einer Agrarrevolution noch den der industriellen Revolution. Er begann nicht mit der Existenz einander widerstrebender Klassen in der Gesellschaft. In der Tat zweifle ich daran, ob es etwas Gleichwertiges für das Wort „Klasse“ in irgendeiner afrikanischen Sprache gibt; denn die Sprache beschreibt die Ideen derer, die sie sprechen, und die Vorstellung von „Klasse“ oder „Kaste“ gab es in der afrikanischen Gesellschaft nicht.

Afrikanischer Sozialismus: Brüderlichkeit aller Menschen

Die Grundlage und das Ziel des afrikanischen Sozialismus ist die Großfamilie. Der wirkliche afrikanische Sozialist sieht nicht eine Klasse als seine Brüder an und eine andere als seine natürlichen Feinde. Er geht mit den „Brüdern“ kein Bündnis ein, um seine „Nicht-Brüder“ zu vernichten. Eher betrachtet er alle Menschen als seine Brüder - als Mitglieder seiner sich ständig erweiternden Familie. Genau darum heißt der erste Artikel des TANU-Bekenntmsses: „Binadamu wote ni ndugu zangu. na Afrika ni moja“. In Englisch hätte es etwa heißen können: „I believe in human brotherhood and in the unity of Africa“, „Ich glaube an die Brüderlichkeit aller Menschen und an die Einheit Afrikas“. „Ujamaa“ oder „Familiengemeinsinn“ beschreibt dann unseren Sozialismus. Er steht im Gegensatz zum Kapitalismus, der versucht, eine glückliche Gesellschaft zu schaffen auf der Grundlage der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; er steht aber ebenso im Gegensatz zum doktrinären Sozialismus, der versucht, eine glückliche Gesellschaft zu schaffen auf der Grundlage einer Philosophie des unausweichlichen Konflikts zwischen den Menschen.

Wir brauchen keine Bekehrung zum Sozialismus und keine Belehrung über Demokratie

Wir in Afrika haben ebenso wenig Bedarf daran, zum Sozialismus „bekehrt“ zu werden, wie über Demokratie „belehrt“ zu werden. Beide haben ihre Wurzeln in unserer eigenen Vergangenheit - in der traditionellen Gesellschaft. aus der wir hervorgegangen sind. Moderner afrikanischer Sozialismus kann, von seinem traditionellen Erbe her, den Bereich von „Gesellschaft“ als eine Ausweitung der Grundeinheit Familie verstehen. Aber die Idee der sozialen Familie kann nicht länger beschränkt bleiben auf die des Stammes, noch auf die der Nation. Denn kein echter afrikanischer Sozialist kann auf eine Linie sehen, die auf der Karte gezogen wurde, und sagen, „die Leute auf dieser Seite der Linie sind meine Brüder, aber jene, die zufällig auf der anderen Seite dieser Linie leben, können nichts von mir fordern“. Jeder einzelne auf diesem Kontinent ist sein Bruder.

Als wir dafür kämpften, die Macht des Kolonialismus zu brechen, da haben wir gelernt, wie notwendig Einheit ist. Wir kamen zu der Erkenntnis, dass dieselbe sozialistische Geisteshaltung, die in den alten Stammeszeiten jedem einzelnen Sicherheit gab, da er zu einer erweiterten Familie gehörte, auch in einer noch größeren Gemeinschaft, der Nation, erhalten bleiben muss. Aber wir sollten hier nicht Halt machen. Der Bereich der Familie, zu der wir alle gehören und wie wir sie uns vorstellen, muss noch ausgedehnt werden - über den Stamm, die Gemeinschaft, die Nation oder sogar den Kontinent hinaus um die ganze Menschheit mit einzubeziehen. Das ist die einzige logische Konsequenz des echten Sozialismus."

(Entnommen aus: Afrikanischer Sozialismus. Aus den Reden und Schriften von Julius K. Nyerere. Aus dem Englischen von Klaus Steinmetz. Texte zum kirchlichen Entwicklungsdienst, Nr. 5. Lembeck Verlag, Frankfurt am Main, 1979).


 

Julius Nyerere - Staatsmann, Elder Statesman und Sprecher Afrikas

Julius Kambarage Nyerere (*1922 in Butiama am Ostufer des Viktoria-Sees, † 1999 in London) war der erste Präsident des unabhängigen Tansania und unbestritten einer der geistig-moralischen Führer des unabhängigen Afrika; er erfreute sich großer Hochachtung in Afrika und in der Welt.

Geboren als Sohn eines noch von den deutschen Kolonialherren eingesetzten Oberhauptes eines kleinen Volkes studierte der Katholik Julius Nyerere von 1949 bis 1952 in Edinburgh in Großbritannien und wurde dann Lehrer, weswegen er auch volkstümlich Mwalimu („Lehrer“) genannt wurde. Dann engagierte er sich für die Unabhängigkeitsbewegung seines Landes und war 1954 Mitbegründer der Tanganyika African National Union (TANU), die sich als nationale Massenpartei verstand.

1961 wurde er Ministerpräsident des Landes auf dem Wege zur Unabhängigkeit, gab sein Amt jedoch nach Erreichen der Unabhängigkeit Tanganyikas Ende Anfang 1962 auf, wurde dann aber im gleichen Jahr zum Staatspräsidenten von Tanganjika gewählt ( und 1965, 1970, 1975 und 1980 jeweils wiedergewählt). Im April 1964 konnte Nyerere sein Land mit Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania zusammenschließen. 1967 gab er seinen Überzeugungen in der „Deklaration von Arusha“ politischen Inhalt; allgemein wurde diese Deklaration als sozialistisch angesehen. Nyerere verstaatlichte die Banken und andere Wirtschaftsunternehmen, forderte die Neugründung sozialistischer Dorfgemeinschaften (Ujamaa) und eine Reform des Schulwesens. Ab 1977 gewährte er dem südafrikanischen ANC für dessen Exilschule politische Unterstützung und stellte großzügig die dafür benötigten Landflächen und einige ehemalige Farmgebäude zur Verfügung.

1985 trat er als Staatspräsident zurück, ein ungewöhnlicher Schritt, der nicht nur in Afrika, sondern weltweit Anerkennung fand. Er blieb aber bis 1990 Vorsitzender der Einheitspartei CCM („Chama Cha Mapinduzi“, „Revolutionäre Staatspartei“). Bis zu seinem Tod 1999 war Nyerere als Friedensvermittler in Afrika unterwegs. Es ist auch seiner Politik zu verdanken, dass Tansania seit der Unabhängigkeit keinen Bürgerkrieg erleben musste. Seine Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik war indes weniger erfolgreich: noch heute zählt Tansania zu den ärmeren Ländern Afrikas.

Doch seine Ideen und Visionen, niedergelegt in zahlreichen Reden und Aufsätzen, die in Buchform veröffentlicht auch international Beachtung fanden, haben zentrale Aspekte afrikanischer Entwicklung eloquent angesprochen. Besonders die Idee des „Vertrauens in die eigene Kraft“ (self-reliance) hat die Diskussion über Entwicklungswege Afrikas stark beeinflusst. Auch seine Analyse eines „afrikanischen Ur-Sozialismus“ hat über viele Jahre nicht nur die Politik in Tansania bestimmt, sondern auch vielen Menschen die Hoffnung gegeben, dass es eine afrikanische Alternative zu dem weithin verbreiteten Modell von Modernisierung geben könne.

Von Peter Ripken